Pfingstfest am Schreibtisch.

Skizze von Teo von Torn
in: „Czernowitzer Tagblatt”, Pfingstblatt, vom 22.05.1904,
in: „Libausche Zeitung” vom 15.05.1905,
in: „Güstrower Zeitung”, Sonntags-Beilage vom 11.06.1905,
in: „Greifswalder Tageblatt”, Sonntags-Beilage Nr.24 vom 11.06.1905


Es war genau so, wie ich es mir gedacht. Albertus Radüge arbeitete. Er arbeitete überhaupt immer. Niemals habe ich ihn zu Hause anders gesehen, als an seinem Schreibtisch — in dichte, graublaue Wolken gehüllt; neben dem Tintenfaß eine Schale mit einem märchenhaften Berg von verbrauchten Strei9chhölzern und Zigarettenresten.

Er wohnte in einem der entlegensten Vororte. Man mußte für sechs Groschen bahnfahren, um die Villa Radüge zu erreichen.

Als ich an das Fenster seines Arbeitszimmers klopfte, sah er zunächst gar nicht auf. Er schrieb wie rasend. Erst nachdem ich mehrere Takte des Torgauer Marsches abgetrommelt, griff er nach einem Briefbeschwerer und schien nicht übel Lust zu nhaben, dieses Projektil durch beide Scheiben des Doppelfensters gegen mich abzuprotzen. Da erkannte er mich. er ließ den schweren Gegenstand sinken und zog ratlos die Spitzen seines langen blonden Vollbartes durch den Mund. Dann öffnete er den inneren Fensterflügel und schrie:

„Was willst Du denn eigentlich?!”

„Mal sehen, wie es Dir geht. Albertus. Und dann einen schönen Spaziergang mit Dir machen. Es ist doch Pfingsttag heute —!”

„Was ist —?”

„Pfingsten!” brüllte ich zurück.

Er sah mich an wie einen, der nicht recht bei Trost ist, und schloß das Fenster. Da ich nicht ging, winkte er mich resigniert hinein.

Aus der köstlichen Frische des Maimorgens konnte man sich nur schwer und unter Ueberwindung von Erstickungsanfällen an die Luft in Radüges Arbeitszimmer gewöhnen. Dick und schwer lagerte sie über dem engen Raume, wo der einst so sprühend lebensfrohe Mensch nun schon seit länger als zehn Jahren von morgens früh bis spät in die Nacht seine Kunst nach Brot gehen ließ.

Aber ich hütete mich wohl, darauf anzuspielen. Er gehörte zu den seltenen Menschen, die in jeder Lebenslage sich ohne Mucken und Murren zurechtfinden. Er hatte geheiratet — wie er dazu gekommen, wissen seine nächsten Freunde heute noch nicht. Es vollzog sich das wie von Mittwoch auf Donnerstag. Und genau so plötzlich war er ein anderer Mensch geworden. Derselbe Albertus Radüge, der uns im literarischen Kaffee ungezählte Male auseinandergesetzt, daß die Arbeit im Grunde etwas durchaus Unkünstlerisches sei, hatte mit einem Schlage seine Prinzipien preisgegeben und arbeitete. Täglich vierhundert Druckzeilen — die Zeile zu fünfzehn Silben oder sechsundfünfzig Buchstaben. Genau. wenn er überhaupt von Literatur sprach, so sprach er von Druckzeilen.

Er hatte mir eine Zigarette angeboten.

„Was meintest Du da draußen?” fragte er zerstreut.

„Ich erlaubte mir, Dich darauf aufmerksam zu machen, daß da draußen ein herrlicher Pfingstmorgen ist — und ich füge hinzu, daß es mir eine Sünde wider den, just heute ausgegossenen heiligen Geist scheint, an einem solchen Tage zu arbeiten.”

Er zuckte die Achseln und strich nervös über sein Schreibwerk.

„Du bist genau so ein verrücktes Huhn wie mein Verleger,” erwiderte er trocken. „der Mensch glaubt auch, unsereiner könnte nach dem Kalender leben. Er verlangt noch schnell eine Maigeschichte von mir. Heute! Und nun kommst Du gar mit Pfingsten. Lächerlich. Pfingsten war vor sechs Wochen.”

„Erlaube mal — wir haben heute den zweiundzwanzigsten Mai(1) und — —”

„Da ist erster Feiertag — nach dem Kalender. Sehr vrichtig. Und Du magst diesen Tag feiern, soviel es Dir beliebt. Für mich ist das Fest längst erledigt. Vor genau sechs Wochen habe ich die letzte Pfingstgeschichte geschrieben. Zweihundertsiebenundachtzig Druckzeilen.”

Albertus stieß das hervor mit dem grämlichen Gesichte eines Menschen, der sich über abgetane Selbstverständlichkeiten äußern muß.

„Was ich sagen wollte —” knurrte er dann. „Kannst Du mir vielleicht noch ein bischen was neues sagen vom Mai —?”

„Ich verstehe nicht . . . . .”

„Na — Du kommst doch mehr raus wie ich. Sieh mal — — die weißen Glöckchen, die den Wonnemonat einläuten, die blühenden Syringen, in deren duftenden Büschen die Nachtigallen schluchzen — das alles habe ich schon verarbeitet. Du weißt nichts neues, was?”

„Die Maibowle —”

Er winkte ab. Ein mildes Lächeln umspielte seine bärtigen Lippen.

„Mein Lieber — — — die Maibowle! Wie willst Du denn im Frühling überhaupt zwei Menschen verloben, wenn nicht bei der Maibowle! Vor sechs Wochen hat's hier direkt zum Himmel gestunken nach Waldmeister — soviel habe ich darüber geschrieben. An die tausendvierhundert Druckzeilen mindestens.”

Die Pfingstsonne drang mit blitzendem Glast ins Zimmer. Albertus Radüge sog einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, blinzelte durch die Rauchwolken in den lockenden Sonnensegen und sagte nachdenklich vor sich hin:

„Im allgemeinen kann man ja nicht klagen. Der Frühling ist immer noch die ausgiebigste aller Jahreszeiten. Man verbraucht aber höllisch viel Natur, wenn man seine sechs, acht Geschichten geschrieben hat, die alle so um den Mai herum spielen. Es wird schließlich doch ein bischen knapp. Aber eine muß ich noch schreiben. Seit zwei Stunden schon schinde ich mich damit ab —”

„Aber so laß es doch, Albertus!”

„Laß es doch,” brauste er auf. „Laß es doch! Wie Du daherredest! Eine bestellte Geschichte ,lassen'! Hast Du 'ne Ahnung. Weißt Du, was ich gleichzeitig mit der Bestellung bekommen habe? Die jüngste Kohlenrechnung. Das Honorar kann gerade so draufgehen. Und wovon soll ich denn die Rechnung bezahlen, wenn ich die Maigeschichte nicht schreibe, he?”

Da ich keinen Bescheid geben konnte, fuhr er etwas ruhiger fort:

„Ich muß also noch eine schreiben — zu hundertundfünfzig Druckzeilen — das wird genügen. Wenn mir bloß noch etwas einfallen wollte — vom Mai. Ich weiß tatsächlich nicht, was die Leute jetzt damit wollen! Die Saison ist doch längst vorbei. Wer schreibt im Mai noch solche Chosen! Damit habe ich im März angefangen — und das war schon etwas zu spät. Die Konkurrenz war zum Teil schon bedeutend früher am Markte. Jetzt 'ne Maigeschichte, wo ich schon über die Bäder hinaus bin! Eben schreibe ich eine nette kleine Sache über den Altweibersommer — zweihundertundvierzig Druckzeilen. Aber reichlich. Also Du weißt wirklich auch nichts neues mehr vom Mai?”

Die Frage hätte ihrem Tone nach ebenso gut lauten können: Wünschest Du noch was? Wenn nicht, dann geh nach Hause und laß mich arbeiten!

Ich erhob mich, ergriff meinen Hut und bat so herzlich ich konnte:

„Komm raus, alter Junge, komm — — sieh Dir den Mai selber an —”

„Aber Mensch, wo denkst Du hin!” wehrte er ab, indem er jedes Wort langgezogen aus jener Brusttiefe holte, wo die Entrüstung sitzt. „Ich habe noch mindestens achtzig Zeilen zum Altweibersommer — und dann die Maigeschichte mit hundertfünfzig. Und die Kohlenrechnung —!”

Ich hatte die Tür noch nicht ganz geschlossen — da saß Albertus Radüge schon wieder am Schreibtisch.

Draußen sangen die Pfingstglocken das hohe Lied der Pentekoste. Die Vögel jauchzten in den blauen Morgen hinein. Und selbst auf das dumpfe Gesicht des alten Dörflers, der eben frohgemut zur Kirche trabte, zauberte die Sonne einen Abglanz jener feurigen Zungen der Apostelgeschichte.

Ich drückte mich vorbei an dem Fenster des Aermsten, der das alles schon vor sechs Wochen — geschrieben hatte.

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Fußnote:

(1)Der 22.Mai war im Jahre 1904 ein Sonntag - der Pfingstsonntag. Das „Czernowitzer Tagblatt” bringt diese kurze Skizze auch genau an diesem Tag.
Die „Güstrower Zeitung” und das „Greifswalder Tageblatt”, beide bringen diese Skizze erst am 11.6.1905, am Pfingstsonntag dieses Jahres.
Die „Libausche Zeitung” erwähnt im Text den 16.Mai an Stelle des 22.Mai. Dieser Unterschied erklärt sich dadurch, daß in Libau, das in den erwähnten Jahren zu Rußland gehörte, noch der Julianische Kalender galt.
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