Mieze piep?

Skizze von Teo von Torn.
in: „General-Anzeiger Altona” vom 17.02.1901


Die Herren Jungens aus einem der grauernsten Miethshäuser der Melchiorstraße nutzten die Ferien. In zwei kriegerischen Horden tobten sie auf dem Asphalt des Fahrdamms — Buren und Engländer natürlich, und zwar mit allen Chikanen.

Die Buren, welche, entgegen den thatsächlichsten Verhältnissen, ganz bedeutend in der Mehrheit waren, trugen trotz des eisigen Januarwindes durchweg Strohhüte, deren Krempen sie an einer Seite hochgesteckt hatten; nur Ohm Krüger, welcher — wiederum gegen die historische Wahrheit — den „Gorilla-Krieg” persönlich leitete, wies neben einer schwarz-weiß-rothen Schärpe einen alten Droschkenkutscher-Zylinder auf, den er sich trotz drohender Keile vom Vater heimlich entliehen hatte. Im Besitze dieser lackirten Pracht, die ihm alle Augenblicke über die von Kampfesmuth und Frost geröthete Nase rutschte, war eben Stelzers Maxe Ohm Krüger geworden, — und um diese Würde konnte man schon ein paar Katzenköppe riskiren. Ede Helfert hatte ihm für Abtretung des Bibi und des damit zusammenhängenden Ranges einen erst in voriger Woche verendeten Smaragd-Salamander, einen Knäuel Strippen und ein halbes Räucherkerzchen geboten, aber vergeblich, — und da war denn Ede, obwohl so ziemlich der Stärkste, durchaus gegen seine Ueberzeugung, zu den Engländern gegangen und verübte da die kommentwidrigsten Grausamkeiten.

Nachdem er schon eine ganze Anzahl der hervorragendsten „Strohhüte” abgefangen und in Schuster Genzmers Vorkeller gesperrt hatte, wurde von der anderen Seite der Vorschlag gemacht, diesen Krieg abzubrechen und China zu spielen. Ede Helfert war es zufrieden — verlor doch dadurch Maxes Zylinder jede Bedeutung, und seine sichere Designation als Waldersee war er in der Lage, durch einen kolossalen Kotillonorden äußerst wirksam zu pointiren. Er war also Fett und Feuer für den Vorschlag, entgegen den erregten Einwendungen von Stelzers Jungen, der gegen die Entwerthung seines Hutes schimpfend und mauksend Protest erhob.

Die lebhaften Auseinandersetzungen, in deren Verlauf bereits ein und das andere Paar Schulter gegen Schulter drängte und sich mit höhnischem „ach Du . . .” kampfbereit in die Augen sah, wurden in der Nähe einer Hausthür geführt, von der aus ein kleines, halbverwachsenes Mädchen die Kontroverse mit gespanntem Intreresse folgte. Sie hatte die Hände in die Schürze gewickelt und zitterte vor Frost; das blaurothe Näschen zog Lichter, und das angeklatschte Haar, in dessen dünnem Selleriezöpfchen ein grauer Wollfaden eingefochten war, starrte wie eisig.

Plötzlich funkelten ihre schwarzen Augen auf. Max und Ede waren an einander gerathen. Mit einem unartikulirten quietschenden Laut sprang sie dazwischen und stieß den Helfertschen Jungen derart vor die Brust, daß dieser mehrere Schritte auf den Damm taumelte.

„Nanu — bist wohl varickt!” rief dieser, nachdem er sich von seiner ersten Verblüffung erholt. Anstatt aber aufzubegehren, steckte er beide Hände in die Taschen und ging bei Seite. An einen Laternenpfahl gelehnt, warf er halb beschämte, halb verachtungsvolle Blicke auf die johlende Gruppe und schrie schließlich in den höchsten Falsetttönen:

„Mieze piep!”

Das kleine Mädchen machte eine Bewegung, als wenn es auf ihn zustürzen wollte, aber es besann sich.

„Dämliger Bengel —” stieß das kaum siebenjährige, energische, kleine Ding hervor und wandte sich achselzuckend zu den Anderen, denen sie mit ihrer schrecklich hohen, quiekenden Fistelstimme auseinandersetzte, daß China ein wunderschönes Spiel sei. Sie wüßte Alles ganz genau, wie es sein müßte, und sie würde die chinesische Kaiserin sein.

Mit der raschen Wandlungsfähigkeit des kindlichen Gemüthes waren mit einem Male Alle begeistert. Jeder wußte ein neues, interessantes Detail, und Maxe Stelzer beeilte sich, seinen nunmehr gegenstandslosen Zylinder in Schuster Grenzmers Keller zur Aufbewahrung abzugeben. Mieze Lehmann war in schwerer Stunde so forsch für ihn eingetreten, daß er schon ein Opfer bringen mußte. Außerdem war das Boxerspiel im Grunde doch eine feine Idee! Als er aus dem Keller zurückkehrte, steckte er schon derart voll von Einzelheiten dieser Chose, daß er die Betheiligung des sachte sich wieder heranschlängelnden Ede ohne Weiteres für selbstverständlich fand. Und als Letzterem thatsächlich die Würde des Oberkommandirenden übertragen wurde, wäre der ganze Streit erledigt gewesen, wenn nicht alsbald ein neuer sich entsponnen hätte.

Mieze Lehmann wollte nicht in das ihr zugewiesene „Schunklijahmen”. Auf dem Hofe des Hauses , wo Maxes Eltern die Portierstelle innehatten, stand ein kleines Häuschen, welches in der Thür einen herzförmigen Ausschnitt aufwies. Diesen Palast lehnte die Kleine so entschieden ab und bezeichnete ihn derart despektirlich, daß sie nicht nur Waldersee, sondern auch die ganzen verbündeten Mächte, die Boxer und schließlich sogar Li-Hung-Tschang gegen sich aufbrachte. Mit echt chinesischer Undankbarkeit vergaß Maxe-Li die ihm erwiesene Gutthat, und er war der Erste, welcher Eden sein „Mieze piep!” nachgröhlte.

Das war das Stichwort einer allgemeinen Schilderhebung. Wie eine Schar Irokesen auf dem Kriegspfade umtanzten die Jungen das kleine Mädchen in wildem Reigen.

„Mieze piep!” — „Mieze piep!”

In allen Tonarten schrie und quiekte die Rasselbande diesen Spottruf, und der einmal aufgestachelten jungen Bestie machte es auch nichts, daß der Mund der armen Buckligen sich verzerrte und heiße Zornesthränen ihr über die schmalen Wangen liefen. Sie schrie und gestikulirte mit den Aermchen wie eine Wahnsinnige, und je mehr das schrille, nadelscharfe Stimmchen sich überschlug, desto ausgelassener ahmten ihr die Jungen nach. Schließlich zerrten sie sie an den Kleidern und an dem horizontal abstehenden dürftigen Zopfe — bis sie um sich schlug und blind auf ihre Peiniger eindrang.

Johlend stob die Horde auseinander. Maxe Stelzer, auf den das Kind mit ihren vor Wuth gekrallten Fingerchen zuerst eindrang, flüchtete lachend vom Trottoir auf den Fahrdamm.

„Mieze piep! Mieze piep! — Mieze — — —!”

Der letzte Ruf war ein entsetzlicher gellender Angstschrei. Der Junge hatte das gegenüberliegende Trottoir erreicht. Als er sich umdrehte, sah er die kleine Bucklige, die Arme mit den krampfhaft gehaltenen Fäustchen weit von sich gestreckt, unter den Rädern eines Postwagens.

Das Kind war in seinem blinden Zorn direkt in die Pferde hineingelaufen.

Die Knaben liefen schreiend ins Haus, Fenster wurden aufgerissen; man rief und gestikulirte hin- und herüber, und nach wenigen Sekunden umstanden in der sonst völlig verkehrsarmen Straße viele Dutzende von Menschen die Unfallstelle. Fluchend und dabei mit Thränen in den Augen drängte der Postillon die Pferde bei Seite — und hülfreiche Hände zogen den leblosen, winzigen Körper unter dem Wagen hervor.

— — — — —

Mieze Lehmann lag nun schon den dritten Tag ohne Besinnung. Ihre Mutter hatte die Mäntel, welche sie sonst beim Schneider nähen mußte, ausnahmsweise mit nach Hause nehmen dürfen. Mit der Stumpfheit eines Menschen, dem Sorge und Elend zu alltäglich sind, um noch tieferen Eindruck zu machen, schaute sie von Zeit zu Zeit nach dem Kinde. Auch eben wieder hatte sie sich halb erhoben und einen Blick in den Korb geworfen, wo das nuttige Ding seine Schlafstätte hatte, seit es geboren war. Das Kind lag, wie es der Arzt gebettet hatte. Nur ein ganz leises rasselndes Athmen verrieth Leben in dem kleinen Körper.

Auf dieses Rasseln lauschte die Frau — weniger angstvoll als prüfend. Der Arzt hatte ihr gesagt, daß sie darauf achten solle — — sobald das aufhöre, dann wäre es wohl zu Ende; er könne überhaupt nicht viel Hoffnung machen. Die Frau horchte also auf den Tod — aber er war es noch nicht.

Sie beugte den krummen Rücken wieder über ihre Näherei und stichelte weiter, indem sie das Zeug dicht an ihre entzündeten, kurzsichtigen Augen führte.

Plötzlich öffnete sich die Küchenthür mit leisem Geräusch.

„Ju'n Abend, Frau Lehmann,” flüsterte Frau Stelzer, indem sie sich vorsichtig hineinschob und, die Hand auf den starken Busen pressend, einen Augenblick verschnaufend an der Thür stehen blieb.

„ n' Abend,” erwiderte die Mäntelnäherin, nachdem sie sich geräuspert wie Jemand, der lange nicht gesprochen.

Gleichzeitig legte sie die Hand schützend über die Augen und spähte nach dem Gaste hin.

„I Jott — Sie sind's, Frau Stelzern; na det is wirklich scheen, det se wieder mal nach mir kieken — treten se man immer näher.”

Da sie das ungedämpft laut gesprochen, gab auch die Portierfrau das heisere Flüstern auf.

„Ick muß mir setzen, Lehmann, die fünf Treppen sin meen Dot! Pfüh — — aber ick wollt' doch man seh'n, wat die Kleene macht!”

„Wat soll det wohl machen; 't is immer noch so: nich pips! De Milch, wo se jestern so freindlich waren, steht immer noch da, und ick wer' se nachher man selber drinken, dat se nich schlecht wird; 't weer doch schade!”

„Hier is ooch noch 'n Präpelchen Karbonade, wenn se sonst wollen — i Jott, nischt ze danken! — Also det is immer noch so —! Sollt man wohl fier meeglich halten, det so'n Wurm solange aushält! Na, un mit meenen Maxe is nu jar der Deibel los. Wat Ihre zu still is, is meener zu mobil. Wenn die Fieberzeiten kommen, denn jeht Ihnen der Bengel hoch, dat der Olle un ick ihm nich halten können! So wat hab' ick noch jar nich jesehn — et is jruslich direkt! Von Liunschank schreit er denn, un denn exerßirt er ins Bette, als wenn er in China wär. Wenn er sich ausjetobt hat, denn is er nachher janz vernimpftig — blos schwach, schwach, sag' ick Ihnen, Lehmann, dat er sich kaum in de Knochen halten kann. Un dabei will der dämliche Bengel immer hier ruf! Wat sagen Se dazu!”

„Jott ja, der Jung war immer freimdlich zu dem Jehr;wie nett hat er immer mit ihr jespielt —”

Frau Lehmann führte den Schürzenzipfel an ihre Augen und es entstand eine Pause, während der auch die Portierfrau feuchte Augen bekam und heftig durch die Nase aufzog. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die runden rothen Wangen und sagte enrhümirt:

„Dat is nu mal so, liebe Lehmann, un wer weeß, wozu 's jut is! Mit den Verdruß wär' dat doch nischt rechts jeworden. Wenn't noch'n Junge wär', denn mecht ick noch nischt sagen — aber'n Mächen mit'n Puckel — — un det wurde ja ooch immer schlimmer —”

„Lieber 'n Puckel un leben — le - ben” erscholl es keuchend und in pfeifendem Diskant aus dem Korbe; dann ein schwaches Aufbäumen, und Mieze Lehman fiel zurück — genau in dieselbe Lage, in der sie die letzten drei Tage gelegen hatte.

Als die Frauen hinzueilten, hatte das Röcheln aufgehört. —

— — — — —

Eine Stunde später hatte Frau Lehmann ihre Arbeit wieder aufgenommen. Der einzige Unterschied war, daß sie das Zeug noch näher an die schwachen, verschleierten Augen führte; und hie und da wischte sie sorgfältig und umständlich Etwas von dem feinen schwarzen Tuch. Und sie war so beschäftigt damit, daß sie gar nicht darauf achtete, wie Jemand die Treppe heraufpolterte — erst als geräuschvoll die Küchenthür aufgestoßen wurde, fuhr sie erschrocken empor.

„Nehmen Se's nich ibel — Frau Lehmann,” rief der Droschkenkutscher Stelzer, barhaupt, aber sonst wie er eben vom Bock gestiegen war, indem er seinen in eine Decke gewickelten Maxe ächzend auf einen Stuhl setzte. „Ick hab't nich mehr mit ansehn kennen! Eben komm ick zu Hause — un wie meene Frau mir erzählt, dat die Mieze dot is, hat sich der Junge wie varickt! Er will ruf und er will ruf! Da hab ick ihm schließlich injepackt un da is er! Na wat willste nu eijentlich, Du Dussel!” wandte er sich mit seiner rauhen Zärtlichkeit zu dem Jungen.

Dieser hatte mit fieberkranken Augen und, von dem Transport wie benommen, von einem auf den anderen gesehen. Dann ließ er die Blicke mit angstvollem Suchen im Zimmer umherschweifen.

„Vielleicht will er se sehen,” flüsterte Frau Lehmann dem Kutscher zu, und auf dessen Plinken zog sie den Korb aus der Ecke dicht an den Stuhl heran. Dann entfernte sie das alte Rolltuch, welches sie über die kleine Leiche gebreitet hatte und faltete die Hände.

„Jott nee —” sagte Herr Stelzer, indem er sich über den Korb beugte, „da is doch man jar nischt mehr ibrig geblieben —”

Ehe er es verhindern konnte, hatte der Junge die Decke von sich geworfen und sich über die kleine Leiche gestürzt. Mit den im Fieber fliegenden Händen streichelte er über das wachsgelbe Gesichtchen und bat und bettelte herzbrechend:

„Mieze — Mieze — — — piep —!”

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