Die Luftkur

Humoreske von Teo von Torn
in: „Leipziger Tageblatt” vom 19.07.1903,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 22.01.1905


Es ist hienieden durchaus dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen — und für einen königlich preußischen Leutnant sind in dieser Richtung noch ganz besondere Vorkehrungen getroffen.

Er mag ein Kommando haben, welches es auch sei, und das Kommando mag ihm so schön gefallen, daß er sich auf dieser Tränenwelt nichts besseres wünscht, als für den ganzen Rest seiner Tage ein solches Kommando — es hilft ihm nichts; es kommt eine Zeit, da er wieder in die liebende Arme der Kompagnie, d. h. zum Frontdienst, zurückgeführt wird.

Der Kavallerist, welcher zwei schöne Jahre hindurch auf der Reitschule in Hannover Schlepp- und Parforcejagden geritten und auch sonst die schwierigsten Sachen geübt hat, muß schließlich doch heim zu seiner Schwadron, wo die neuen Rekruten auf den Gäulen hängen, wie irrsinnig gewordene Klammern auf einer Wäscheleine.

Nach den üblichen fünf Monaten Boxanstalt muß der Offizier die in der höheren Parterregymnastik gewonnenen Kenntnisse daran verschwenden, um ununterbrochen je hundertundfünfzig Pfund unbeholfener polnischer Bauernknochen über das Reck zu werfen.

Ja selbst für die stärksten im Geiste, welche das wichtigste und bedeutungsvollste Kommando, das nämlich zur Kriegsakademie, errungen, kommt eine Zeit, da sie nach Hause müssen, um dort von ihren Vorgesetzten zu erfahren, daß sie trotz all ihrer militärischen Gelehrsamkeit — oder vielleicht gerade deswegen — vieles, ja sogar sehr vieles merkwürdigerweise noch nicht gelernt haben.

Es gibt nämlich Vorgesetzte, welche grundsätzlich gegen Kommndos sind — und von diesen Vorgesetzten war der Major Sosnowski ein Typ.

Er gehört zu den wenigen, welche im Kriege Offizier geworden waren, und hieraus resultierten alle seine Eigenheiten: Die Verachtung der grauen Theorie, die Abneigung gegen moderne Kinkerlitzchen — in welchen Begriff er alle neuzeitlichen Errungenschaften der Kriegstechnik zusammenfaßte — und sein Bespötteln der einschlägigen Gelehrsamkeiten. Allen diesen Dingen gegenüber empfand er wohl auch deshalb etwas persönlich, weil er es nicht mit Unrecht ihnen zuschrieb, daß ,er an der Majorsecke hängen geblieben war.

Waren also seine Qualitäten als Frontoffizier unbestreitbar, so galt er doch ziemlich allgemein als ein recht unangenehmer Mitteleuropäer. Er war überstreng und dazu auch ungerecht — wenigstens in den militärischen Dingen, welche ihm wider den Strich gingen.

Es war doch unmöglich, einen Krieg anzufangen, bloß damit die Subalternoffiziere des Herrn Majors Sosnowski sich so praktisch betätigen konnten, wie ihr Bataillonschef das wünschte. Und die Vorbereitung für den Krieg, das Studium und das Ausprobieren aller einschlägigen Hülfsmittel war doch auch praktische Arbeit, zum mindesten ebenso wie der langsame Schritt und der vom Herrn Major besonders gern und viel geübte Parademarsch in der Kompagniefront.

Da er das nicht einsehen wollte, stand er sich mit einigen seiner Offiziere — und das waren gerade die begabteren — gar nicht gut; namentlich nicht mit dem Oberleutnant von Selcke, welcher zur Versuchsabteilung abkommandiert gewesen und dann für einige Zeit zur Truppe zurückgekehrt war, um seine endgültige Einberufung zu einem der Luftschifferbataillone abzuwarten.

Auf die in militärischer Kürze abgestattete Meldung zog der alte Herr mit grimmigem Lächeln seinen eisgrauen Schnurrbart durch die Finger. Unter den wulstartig vortretenden Brauen fixierten die kleinen Aeugelchen den jungen Offizier scharf und tückisch, so daß letzterer schließlich in seinem Gesichtsausdruck eine leise Andeutung von Befremden nicht meistern konnte. Darauf aber schien der Major nur gewartet zu haben. Jedes seiner Augen bekam einen Dolch, und indem er die Hände auf den Rücken warf, pfiff er den Oberleutnant an:

„Ich verbitte mir das, Herr! Was denken Sie sich denn! Solch ein Gesicht können Sie dem Erzengel Michael machen, falls Sie ihm gelegentlich über den Wolken begegnen sollten, Verstehen Sie mich?”

„Herr Major —”

„Herr Oberleutnant von Selcke, jetzt rede ich. So lange Sie noch auf Erden wandeln und einer ordentlichen Truppe engehören, haben Sie sich danach zu richten. Was Ihre Einberufung betrifft, so beglückwünsche ich Sie dazu — Sie und mich. Ich will nur hoffen, daß Sie in der Luft mehr leisten als auf dem Boden. Hier haben Ihre Leistungen nach verschiedenen Richtungen hin sehr zu wünschen übrig gelassen. Aber das ist mir durchaus erklärlich, wenn man den Kopf mit solchen Kinkerlitzchen voll hat. Da ist es schon besser, Sie widmen sich diesen Geschichtchen vollständig.”

„Herr Major — ich bitte gehorsamst, bemerken zu dürfen, daß die Luftschifferbataillone genau so in dem königlichen Dienste rangieren wie jede andere Truppe.”

Der Oberleutnant hatte das ziemlich bestimmt hervorgestoßen — aber er wußte, daß er das riskieren konnte. Major Sosnowski fühlte sich in seiner ganzen Position längst nicht mehr ganz sicher, und er suchte ängstlich alles zu vermeiden, was dieselbe weiter erschüttern konnte. Wenn er den Leutnant auf diese Zurechtweisung so anschnauzte, wie er es wohl gerne gemocht hätte, und es dann möglicherweise zu einer Beschwerde kam, so konnten ihm die wegwerfenden Aeußerungen über eine königliche Truppe schlimm bekommen. Also beschränkte er sich auf die Wirkung der beiden Dolche in seinen Augen und bemerkte dann einlenkend:

„Danke Ihnen für die Unterweisung, Herr Leutnant. Das weiß ich alles selbst, verstehen Sie mich? Scheinen mich überhaupt mißverstanden zu haben. Habe nichts gegen die Luftschiffertruppe als solche. Verstehe nur den Zweck nicht recht. Wo sich solche Ballons 1870/71 sehen ließen, wurden sie glatt runtergeknallt. Und das hat sich für die Insassen stets als höchst unzuträglich erwiesen. Außerdem erscheint mir die Wolkenschieberei nicht militärisch — wenigstens nicht in meinem Sinne militärisch. Was ist denn das für eine Kunst, sich in so'ne Gondel zu setzen und den lieben Herrgott an den Fußsohlen kitzeln. Scheint mir keine ernste Aufgabe für einen Soldaten!”

Da der Herr Major bemerkte, daß er sich abermals verhedderte, und auch der junge Offizier ein Gesicht machte, als wenn er verschiedenes einzuwenden hätte. bog ersterer wiederum ab und schloß:

„Aber natürlich — die Truppe als solche in Ehren. Und damit Sie sehen, daß ich mich fachlich zu unterrichten bemüht bin, bitte ich Sie, mich zu einer Uebung einzuladen. Ich werde mir die Sache dann mal aus der Nähe besehen.”

„Zu Befehl, Herr Major.”

*           *           *

Nach sechs Wochen fand auf dem Tempelhofer Felde eine größere Uebung mit dem Drachenballon statt.

Leutnant von Selcke hatte von dem Führer der Abteilung — einem Hauptmann Blunck, der den Major Sosnowski von früher her auch nicht in sonderlich freundlichem Gedenken hatte — die Erlaubnis erhalten, den Major einzuladen; allerdings erst, nachdem Herr von Selcke dem Hauptmann einige diskrete Mitteilungen gemacht, welche dieser mit einem Lächeln aufnahm, das zwischen Bedenken und Vergnügen die Wage hielt. Schließlich hatte er zugestimmt und — das Kommando für diesen Tag dem Oberleutnant von Selcke übertragen.

Letzterer erklärte denn auch dem Herrn Major, welcher sich pünktlich eingefunden hatte und um dessen grauen Schnauzbart unentwegt ein süffisantes Lächeln spielte, alle einschlägigen Dinge.

Aber erst als die Gondel mit ihrem Inhalte an die Reihe kam, schien das Interesse des alten Herrn etwas mehr rege zu werden — und zwar so, daß er dem Leutnant folgte, als dieser den Korb des Ballons bestieg, der wie ein feister schwarzer Satan in der Luft stand.

„Dieser Apparat hier, Herr Major, ist der Aspirationspsychrometer — zum Messen der wirklichen Lufttemperatur; hier der Dynamometer für die Feststellung des Zuges im Fesselkabel. Drüben steht der Winddruckmesser — und dieses Instrument dient zur Feststellung der Himmelsrichtung —”

„Das ist doch ein gewöhnlicher Kompaß!” warf der Major ein.

„Allerdings,” erwiderte der Leutnant mit dienstlich unbewegtem Gesicht, „nur mit dem Unterschied, daß die gewöhnlichen Kompasse die Himmelsrichtung zur See oder auf der Erde, dieser aber die Richtung in der Luft feststellt.”

Der Major sah mißtrauisch auf und brummte etwas vor sich hin. Dann aber wies er auf einen Apparat.

„Und wozu ist das Ding hier?”

„Das ist einer unserer wichtigsten Apparate, Herr Major — der Barograph zum selbsttätigen Aufzeichnen der Steighöhe. Ich glaube, es wird Sie interessieren, das Instrument einmal in Tätigkeit zu beobachten — —”

Major Sosnowski hatte keine Ahnung, worum es sich eigentlich handelte. Der Leutnant gab den Signalpfiff — gleich darauf das Kommando „Gleitrolle fertig!” — dann noch ein Pfiff — — und der Drache stieg langsam in den blauen Aether . . . . .

Auch jetzt merkte der Major zunächst noch nichts. Erst als Herr von Selcke ihn auf die Nadel des Barographen aufmerksam machte und der Major dann zufällig einen Blick zur Gondel hinauswarf, wo die Mannschaften wie überhaupt das ganze Feld in die Unendlichkeit zu fallen schien — da erkannte er mit Entsetzen, was geschehen war.

„Herrrr —!” stieß er kreidebleich hervor. „Lassen Sie mich hinaus! Sofort!”

„Das wird nicht gehen, Herr Major,” erwiderte der Leutnant, indem er seelenruhig an der Ventilleine ordnete, „wir befinden uns zwar zunächst nur auf hundertfünfzig Meter Höhe, aber der direkte Abstieg zur Erde dürfte trotzdem seine bedeutenden Schwierigkeiten haben. Auch habe ich Ihnen noch verschiedenes zu erklären. Wenn Sie die Güte haben wollten, einen Blick auf das Gelände unter uns zu werfen — —”

Unter dem lähmenden Drucke des schrecklichen Ereignisses trat der Major ganz mechanisch an den Rand des Korbes — um gleich darauf zurückzutaumeln und wie ein Haufen Unglück auf dem Boden zusammenzukauern.

Der Schwindel hatte ihn ergriffen, und da der Ballon auch etwas am Kabel schlingerte, fühlte der alte Grimmbart sein Inneres in einer Bewegung, die beispielsweise der Mont Pelée empfunden haben muß unmittelbar vor seiner großen Eruption.

Und was diese Bewegung versprach, das hielt sie auch alsbald in ungeahntem Umfange. Würgen und Stöhnen — Stöhnen und Würgen, das waren die einzigen Aeußerungen auf den sachgemäßen und höchst instruktiven Vortrag, welchen Oberleutnant von Selcke dem Major Sosnowski über die hohe Bedeutung des Luftballons für die Explorierung des Geländes usw. hielt. Auch verfehlte er nicht, darauf hinzuweisen, daß es für die immerhin gefahrvollen und oft auch nicht angenehmen Operationen der Luftschiffer ganzer Männer bedarf, die nicht nur Verständnis für taktische und strategische Kriegslagen besitzen, sondern auch körperlich den schwierigen Aufgaben dieser Spezialtruppe gewachsen sind. Quot erat demonstrandum.

Als der Leutnant dann nach einem halben Stündchen den Abstieg bewirkte, ließ er die ganzen Mannschaften — soweit das irgend mit der Bedienung und Sicherheit des Ballons vereinbar war — Kehrt machen. Ein Mann mußte telephonisch eine Droschke heranbeordern — und drei Mann hatten zu tun, um den Major Sosnowski in derselben zu verstauen.

Und die Luftkur hat geholfen; denn seither denkt der Major zwar mit Grauen und — man verzeihe das harte Wort — nie ohne ein würgendes Aufstoßen, aber doch mit einer gewissen Achtung von den Luftschifferabteilungen.

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