Der kürzeste Weg

Manöver-Humoreske von Teo von Torn.
in: „Kieler Zeitung” vom 30.08.1901,
in: „Leipziger Tageblatt” vom 02.09.1901,
in: „Montags-Revue aus Böhmen” vom 02.09.1901 und
in: „Offiziersgeschichten”, Band 2, Seite 3 - 9


Wenn zwei Stämme der alten Deutschen miteinander Krieg führten, so schmückten sie sich mit Eichenlaub und gingen unter furchtbarem Gebrüll aufeinander los. War die Schlacht geschlagen, so vertrugen sie sich wieder, tranken ungezählte Büffelhörner Meth, und wenn der Besiegte Glück hatte, so knobelte er dem Sieger die ganze Beute wieder ab.

Befremdlicher Weise sind unsere Krtiegshistoriker noch nicht darauf gekommen, in diesen Stammeskämpfen unserer Altvorderen die Uranfänge dessen zu sehen, was wir heute mit dem kerndeutschen Worte Manöver bezeichnen. Und das liegt doch so nahe. Bei dem stark augeprägten Nationalgefühl der blonden Recken ist es ihnen mit dem Kämpfen untereinander sicherlich ebenso wenig ernst gewesen, wie heute der vierten Division mit der Vernichtung der zweiten. Was damals das Eichenlaub war, das sind heute die weißen Helmkappen — und aus dem furchtbaren Gebrüll ist das mehr artikulierte Hurrah geworden. Nach der Schlacht verträgt man sich heute wie damals, und nzwischen Meth und Pilsener Bier bestehen doch eigentlich nur ganz unwesentliche brautechnische Unterschiede.

Leutnant von Schremp brach seine Parallelen, an denen er sich und seinen Kameraden Bernstorff auf der staubigen Landstraße zu begeistern versuchte, ab und machte einen kleinen Seitensprung. Waldemar von Bernstorff hatte nämlich sein Schwert, welches die müden Pendelbewegungen seiner Rechten ebenso müde mitmachte, plötzlich gezückt.

„Pilsener —!” knirschte er dabei. „Herr, jetzt sagen Sie noch Spickaal — und Sie sind eine Leiche!”

„Ja, lieber Freund,” erwiderte Herr Heinz von Schremp trocken, indem er einen Blick auf seinen in einer dichten Staubwolke marschirenden Zug warf und sich dann wieder näherte, „wenn Ihre ausschweifende Phantasie Ihnen gleich wirkliches echtes Pilsener vorzaubert, dafür kann ich doch nichts. Ich wage ja kaum, mir ein Helles vorzustellen oder Soda mit Whisky oder —”

„Nachbar, Euer Fläschchen!”

„Nichts, vieledler Kriegsgenoß — — kein Tropfen im Becher! Nicht so viel, um eine Mücke darin zu ersäufen,, geschweige denn, zwei deutsche Dürste zu stillen, wie die unsrigen. Aber warten Sie, gleich kommt eine Abwechslung. Drüben am Waldrande ist schon die Mühle, welche wir mit Elan zu besetzen haben. Dort werden wir unsern Herrn Major begrüßen — und das ist ganz gewiß eine Erfrischung.”

„Alle Wetter — wir sind faktisch so weit!” rief Leutnant von Bernstorff, indem er mit einem Schlage Durst und Müdigkeit vergaß und durch seinen Krimstecher nach der Mühle hinüberschaute. Gleich darauf fuchtelte er mit seinem Schlachtschwerte Flamberg in der Luft und gab das Commando Halt! Leutnant von Schremp schloß sich mit seinem Zuge dem Herrn Vorredner an.

Aufathmend standen die Leute mit Gewehr bei Fuß und suchten von dem spärlichen Schatten der Kastanienbäumchen zu profitiren, welche die im Sonnenbrand weißleuchtende Chaussee flankirten. Wenn der Mensch vom Staube ist, so waren die Krieger wie neugeboren. Einige versuchten, ihre verklebten Augen und Nasenflügel wieder betriebsfähig zu machen, aber Leutnant von Schremp redete ihnen väterlich ab: „Erstens hat es keinen Zweck, Kinder, denn es backt doch gleich wieder Alles zu, und außerdem — dann seht Ihr nichts, dann riecht Ihr nichts, dann merkt Ihr nichts davon!”

Alsdann traten die beiden Heerführer am Chausseegraben zu einer Berathung zusammen.

„Wissen Sie, Schremp,” bemerkte Bernstorff nachdenklich, „das ist eine ganz verfluchte Geschichte. Der Befehl lautet, sobald die Mühle gesichtet ist, dieselbe auf dem denkbar kürzesten Wege zu erreichen. Andererseits aber sollen wir auch keinen Flurschaden machen, und längs der ganzen Luftlinie, soweit man überhaupt sehen kann, wächst Raps —”

„Oder Lupinen —”

„Nee, Raps — das sieht man doch!”

„Schön, bleiben Sie bei Ihrem Raps. Wa die Frage betrifft, wie wir da hinüberkommen, so liegt die Sache meines Erachtens sehr einfach. Wir können das nämlich machen, wie wir wollwn — auf alle Fälle machen wirs falsch. Aber damit wenigstens Einer 'ne Chance hat, wollen wir uns trennen. Entweder suchen Sie den nächsten Feldweg und ich gehe durch die Lupinen —”

„Raps! Zum Donnerwetter —”

„Oder Sie gehen durch Ihren Raps, und ich mache den Umweg. Was wollen Sie nun?”

„Ich ziehe es vor, dem Spezialbefehl entsprechend den kürzesten Weg zu nehmen.”

„Bon, also werde ich der Generalordre folgen und keinen Flurschaden machen. Aber was Du thun willst, das thue bald. Wenn die Leute drüben merken, daß wir uns hier häuslich niederlassen, dann kriegen wir noch extra 'was reingewürgt. — Stiiiiillgestanden! Das Gewehrrrrr üb'r. Links um! Ohne Tritt maa-rsch!”

Leutnant von Schremp senkte in flottem Gruß den Degen und setzte sich an die Spitze seiner Heerscharen. Während sein Zug alsbald in dem aufwirbelnden Staube der Landstraße verschwand, zog Herr von Bernstorff mit seinen wie Störche im Salat einherstelzenden Mannen quer über das bestellte Feld.

— — —

Major von Reinrodt war in der denkbar schlechtesten Laune. Es war die Laune eines Mannes, der seine glänzendsten Combinationen durch die Unzulänglichkeit subalterner Organe gefährdet sieht. Wie Wellington bei Waterloo nach den Preußen ausschaute, so harrte er der Besatzungstruppen, die er nach der Mühle beordert. Er hatte erfahren, daß dieselbe vom Feinde besetzt werden sollte — wenn er ihm mit einer genügenden Macht zuvorkam, so war das eine glänzende Waffenthat, die manches ausgleichen konnte, was seine hohen und höchsten Vorgesetzten im Verlaufe des Manövers schon „seeehr befremdlich” gefunden hatten. Kamen die Truppen aber nicht rechtzeitig, so, konnte es ihm passiren, daß er vom Feinde gefangen genommen und damit in jenen bekannten Wurstkessel spedirt wurde, der die Form eines Cylinderhutes hat das wäre dann der Anfang vom Ende.

Endlich! — Der Herr Major kochte vor Wuth und flehte bereits alle Strafen der Hölle auf das Haupt der Säumigen, als der Ersatz anrückte — und zwar von drei Seiten zugleich. Soweit das seine Corpulenz gestattete, hastete der Major wie der Wind von seinem Auslug auf dem Boden der Mühle hinunter und hauchte säuselte den Führer der alsbald einmarschirenden ersten Colonne an.

„Herr Hauptmann Keßler! Herr Hauptmann Keßler! Ist das der kürzeste Weg!?”

„Zu Befehl, Her Major,” erwiderte der zum Umfallen erschöpfte Häuptling, indem er salutirend den Degen senkte. „Der kürzeste Weg führte durch den Wald — leider sind wir durch das Niederholz etwas aufgehalten worden, aber ich glaube doch, daß — —”

„Was Sie glauben, Herr Hauptmann Keßler, das geht mich hier gar nichts an! Ihr Glaube mag Sie selig machen, mich nicht, Herr Hauptmann Keßler! Wenn Sie meinen , den kürzesten Weg gewählt zu haben, so müssen Sie unterwegs mit Ihren Leuten Heidelbeeren Beesinge gesucht haben — anders kann ich mir die Bummelei nicht erklären! — Und wo kommen Sie her, Herr Oberleutnant Graf Bassingen!?” wandte er sich schnaubend an den Führer der eben einrückenden zweiten Colonne.

— — —

„Zu Befehl, Her Major — vom Standquartier zu Klein-Machnow -Ribnitz. Der kürzeste Weg führte meines Erachtens zwischen Wald und Chaussee am Ufer des Flusses entlang, der die Mühle treibt.”

„Natürlich, Herr Graf!” höhnte der Major mit schier überschnappender Stimme. „Wo werden Sie diesen Weg nicht für den kürzesten halten! Derbehaglichste ist er jedenfalls! Wie wandelt sich's herrlich am blumigen Ufer —! Vieleicht auch noch ein erfrischendes Bad genommen, Herr Graf, nicht wahr? Während ich hier auf'm Proppen sitze und laure! Na, ich kann Sie versichern — — — — aber was ist den das!!? Heiliges Himmeldonnerwetter noch einmal! Herr Leutnant von Bernstorff — reitet Sie der Deibel!! Wie kommen Sie in den Buchweizen!?”

Der kleine Bernstorff krähte schrie mit der Stimme ein es kranken Hahnes ein heiseres Halt und riß dann seine morschen Knochen vor dem Gestrengen Major zusammen. Die Schuppenkette umrahmte ein Gesicht, das kaum noch etwas Europäisches hatte. Namentlich der Schnurrbart und die Partie um die Nase herum waren so schwarz eingepudert, daß es ordentlich stäubte, als er erwiderte:

„Zu Befehl, Her Major — ich habe den kürzesten Weg gewählt, sozusagen die Luftlinie, diese führte allerdings durch den Raps, aber — —”

Zwei Momente waren es, welche den Eifer des Majors von Reinrodt nun zur Siedehitze entfachten. Einmal, daß ein Frechdachs von Leutnant es wagte, etwas als Raps zu bezeichnen, was er selbst für Buchweizen ansah, und dann bemerkte er, daß von der vierten Seite der Windrose her eine Cavalcade heransprengte, an deren Spitze er keinen Geringeren, als den Brigadegeneral erkannte. Das erforderte seine ganze Schneid. Zweimal japste er auf wie ein auf den Sand gesetzter Karpfen, und dann stäubte er den kleinen Bernstorff ab, daß diesem zum Sehen und Riechen auch noch das Hören verging. Je näher die Cavalcade kam, desto wilder wurde er.

„Sie glauben mir dadurch zu imponiren, Herr Leutnant von Bernstorff, daß Sie wie ein maskirter Pescheräh Loangoneger aussehen! Mit nichten, Herr Leutnant von Bernstorff, das imponirt mir gar nicht! Verstehen Sie — gar nicht!! Einsudeln kann sich Jeder! Mit Verstand eine Truppe führen, das ist schon eher ein Kunststück! Aber was kann man von einem Officier verlangen, der nicht einmal Buchweizen von Raps unterscheiden kann, der mit seinen Leuten über ein bestelltes Feld hüpft und dann behauptet, das sei der kürzeste Weg. Sie sind natürlich haftbar für jeden Schaden — und alles Sonstige wird sich später finden! Jetzt sagen Sie mir noch das Eine: Wo haben Sie den Leutnant von Schremp gelassen?!”

„Das kann ich Ihnen sagen, Herr Major von Reinrodt!” rief der General in seinem wie eine Posaune des jüngsten Gerichts gefürchteten Baß. Er hatte die letzten Sätze der weithin schallenden Philippika des Majors gehört und parirte nun seinen Gaul dicht vor dem wetternden Bataillonskommandeur. Dieser hatte das Gefühl, seine Sache sehr gut gemacht zu haben. Auf dem Pflaster des Mühlenhofes festwurzelnd stramm in Positur, hob er tiefathmend das runde, rothe Gesicht mit den hervorstehenden blauen Plötzaugen erwartungs- und vertrauensvoll zum Brigadier.

„Vorerst, mein lieber Herr Major —” sagte der General mit seiner mörderischen Freundlichkeit, „möchte ich mir die Bemerkung gestatten, daß das, was hier herum wächst, nicht Buchweizen, sondern Serabella ist — Ornithopus sativus, aus der Gattung des Vogelfuß oder Krallenklee, ein Futterkraut, das in sandigen Gegenden viel gebaut wird und als Vorfrucht für Hafer sich vorzüglich bewährt. Ich freue mich, Herr Major, Ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse nach der Richtung hin erweitern zu können — vielleicht werden Sie das noch 'mal brauchen. Man kann nicht wissen. Was Herrn Leutnant von Schremp betrifft, so bin ich ihm auf der Suche nach Ihnen unterwegs begegnet und erfuhr, daß ich das Vergnügen haben würde, Sie hier zu finden. Da es aber nicht gut angeht, daß die ganze erste Compagnie Ihres Bataillons sich hier auf Sommerfrische befindet, so habe ich den Herrn Leutnant beordert, — — die richtige Mühle zu besetzen, welche etwa anderthalb Kilometer westlich von hier liegt. So, Herr Major, — das wollte ich Ihnen nur bestellen, damit Sie nicht in Sorge sind. Im Uebrigen lassen Sie sich nicht stören, amüsiren Sie sich gut. Und wenn Sie es für angezeigt halten, von hier abzurücken, dann reiten Sie — auf dem kürzesten Wege, wenn ich bitten darf — nach Hause und empfehlen Sie mich Frau Gemahlin unbekannter Weise. Mahlzeit!”

— — —

Als die Offiziere der ersten Compagnie am Abend dieses denkwürdigen Schlachttages vor dem Hotel des nächstgelegenen Kreisstädtchens saßen, knuffte Leutnant von Bernstorff seinen Freund und Kriegsgefährten Schremp in die Rippen und sagte:

„Mensch, Sie haben mehr Glück wie Ferdinand. Wie haben Sie es angestellt, dem General in die Arme zu laufen?”

„Lieber Freund,” erwiderte Leutnant von Schremp, indem er sein mit einer wundervollen Mütze behaftetes Glas Pilsener erhob, „merken Sie sich für alle Zeiten das Folgende: Der kürzeste Weg ist immer der — andere; nie nich der, den man denkt, Prost!”

— — —

Durchgestricher Text ==> nur in der Fassung der drei Tageszeitungen von 1901
Unterstrichener Text ==> nur in der Fassung der „Offiziersgeschichten”

— — —