Humoreske von Teo von Torn.
in: „Neuigkeits-Welt-Blatt” vom 15.08.1906
in: „Indiana Tribüne” vom 27.09.1906
In jedem Beruf gibt es — diesseits und jenseits der goldenen Mittelmäßigkeit — zwei Sorten von Menschen. Die eine Sorte ist der Ansicht, daß man sich zwar beschäftigen müsse, die Beschäftigung aber niemals in Arbeit ausarten dürfe. Einer von dieser Sorte hat sogar den mutigen Sinnspruch geprägt:
Wer die Arbeit kennt
Und sich nicht drückt,
Der ist verrückt.
Die andere Sorte hingegen läßt es sich nicht genug sein an der Erfüllung normaler Durchschnittspflichten. Ihre Emsigkeit greift weit über das Unerläßliche hinaus — einmal aus angeborenem Uebereifer und zum anderen natürlich auch, um das Wohlgefallen der höheren Götter zu erregen.
In dem ehrbaren Stande, welcher erforderlichenfalls die Aufgabe hat, das Vaterland zu vertheidigen, gibt es ebenfalls beide Sorten, und zwar in ausgeprägtester Form.
Die militärischen Drückeberger sind von eherner Grundsatztreue, da sie mit einem Schein von Berechtigung sich darauf stützen können, daß das Vaterland momentan gänzlich ungefährdet ist und daß, somit keine zwingende Veranlassung vorliegt, sich die Aermel auszureißen. Wer schläft, der sündigt nicht, wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin nicht um und wer keinen Dienst tut, kann nicht angeschnauzt werden.
Die militärischen Streber dagegen — Schuster nennt man sie — sind die strebsamsten Streber der Welt. Sehr erklärlich, da es in keinem Beruf so viele höhere Götter gibt wie beim Kommiß.
Hauptmann Perkuhn war ein gewaltiger Schuster. Sein Landsmann und Jugendfreund, der Oberleutnant Konschel, behauptete sogar, er sei ein geborener Schuster. Als Godi(1) Perkuhn bei seiner Taufe von einem leibhaftigen General auf den Arm genommen wurde, habe er partout strammstehen wollen. Bei diesen wilden Bemühungen sei er aus dem Steckkissen gefallen und wäre um ein Haar im Taufbecken ertrunken. Als Knabe habe er aus inneren Gründen hie und da Rizinusöl einnehmen müssen. Während andere Kinder gegen dieses Genußmittel sich heftig zu sträuben pflegen, habe Godi stets das doppelte Quantum erbeten. Und auf der Kriegsschule erst! Wenn alle anderen schon Blut und Oel schwitzten, da sie schriftlich sich über die Gefechtsstellungen an der Katzbach äußern sollten, lieferte der Leutnant(2) Perkuhn nicht nur die beste Arbeit, sondern fügte aus freien Stücken noch eine Abhandlung hinzu — über die Schlacht bei Murten oder über die taktischen Lehren des zweiten punischen Krieges.
Solcher Art hatte Gottlieb Perkuhn sich angenehm gemacht vor Gott und den Menschen — und sicher hätte er einen ungeahnten Aufstieg genommen, wenn ihm als Hauptmann nicht eine fatale Geschichte passirt wäre.
Eines Tages versammmelte der Herr Oberst die Herren Hauptleute des Regiments um seinen rundlichen Bauch und hielt ihnen eine längere Ansprache, in der er Mißfallen ausdrückte, daß die Felddienstübungen so gedankenlos über einen Kamm geschoren würden. Es grenze nahezu an Stumpfsinn, jedenfalls aber an Geistesarmuth, wenn immer wieder dieselbe abgedroschenen Ideen benutzt würden. Der „markirte Feind”, der ausgerechnet immer in einem Gehölz sich verborgen halte, und das „zu besetzende Gehöft” seinen nachgerade zum kotz... (der Herr Oberst bediente sich hier eines Wortes, das heftigen inneren Widerwillen ausdrückt). Er müsse dringen darum bitten, daß die Herren Kompagnieführer endlich ein wenig Gehirnschmalz aufwenden und etwas Neues, Originelles ersinnen.
Während die anderen Hauptleute nach dieser Ansprache in allerhand Erörterungen über die zunehmende Meschuggigkeit der Vorgesetzten sich ergingen, wandelte Perkuhn tiefsinnig nach Hause. Sein Gehirn arbeitete wie ein Zweizylinder-Motor von 40 HP. — nur daß er keine üblen Düfte und keine äußerlich merkbare Bewegung entwickelte. Hier war endlich wieder einmal eine Gelegenheit gegeben, vor allen anderen sich auzuzeichnen — und er hätte nicht Godi Perkuhn heißen müssen, um eine solche Gelegenheit ungenützt zu lassen.
Dem nachdenklichen Tag folgte eine schlaflose Nacht. Im Verlauf derselben nahm der junge Hauptmann drei kalte Fußbäder, acht Schweizerpillen(3) und eine halbe Flasche Gießhübler(4) — alles Dinge, von denen er einmal gehört, daß sie direkt oder indirekt die Phantasie anregen sollen. Bei einer Cigarre, die er — als Nichtraucher — von seinem Burschen sich hatte geben lassen, wurde ihm übel, weshalb er dieses Anregungsmittel alsbald aufgab und lieber noch eine Abreibung der edleren Kopfteile mit kölnischem Wasser versuchte.
Alle diese Bemühungen blieben stundenlang ohne rechten Erfolg. Als aber der Morgen graute, hellten sich die qualvoll sinnenden, sorgenvollen Züge des Hauptmanns auf und, als die Stunde kam, da er seine Kompagnie zur Felddienstübung angetreten wußte, eilte er erhobenen Hauptes und beflügelten Schritts nach dem Kasernenhof.
Er hatte eine Idee — so neu und originell, wie sie selbst Edison nicht hätte erdenken können, wenn er seine Geistesthätigkeit von der Technik ab- und militärischen Problemen zugewandt hätte.
Hauptmann Perkuhn war so erfüllt von der Idee, daß er nicht einmal sein feierlich ernstes Dienstgesicht aufsetzte, als Oberleutnant Konschel die Kompagnie zur Stelle meldete. Er legte nur flüchtig zwei Finger an den Tschako(5) und zog dann den Jugendfreund etwas abseits.
„Sag mal, Konschel — ob einer von den Leuten wohl eine leere Cigarrenkiste hat?”
Der Oberleutnant machte eine dienstwidrig krause Nase und fragte gedehnt:
„Waaaa—s sollen die Leute haben —?”
„Eine Cigarrenkiste.”
„Ich versteh' immer Cigarrenkiste.”
„Das sollst du auch! Ich frage, ob wohl einer der Leute eine leere Cigarrenkiste hat?”
Der Oberleutnant sah sich verstohlen nach der „Scheibtruchen”(6) um, von der sein Freund und Häuptling zweifellos überfahren war. Dann erklärte er kurz und trocken:
„Bei sich keinesfalls.”
Hauptmann Perkuhn fühlte sich geuzt und wurde dienstlich.
„Ich muß doch sehr bitten, Herr Leutnant! Wenn Sie hier in einer ernsten Angelegenheit und vor versammelter Mannschaft faule Bemerkungen machen werden, dann könnten Sie mich doch mal von der Schattenseite kennen lernen. Aber eklich! — Stellen Sie sofort fest, ob einer von den Leuten eine leere Cigarrenkiste beschaffen kann.”
„Zu Befehl, Herr Hauptmann. Eine zu fünfzig oder zu hundert?”
Auf einen unheildrohenden Blick seines Chefs nahm der Oberleutnant ohne weiteres an, daß es eine zu hundert sein müsse. Drei Minuten später meldete sich der Korporal(7) Plunz mit einer wenig ansehnlichen Schachtel. Er hatte bereits einige Monate lang seine Putzlappen darin aufbewahrt. Das schien aber die Brauchbarkeit des Möbels nicht zu beeinträchtigen. Hauptmann Perkuhn bestieg sein Schlachtroß, zückte sein Schwert und führte die Kompagnie unter Trommelschlag(8) ins Freie hinaus.
Nachdem man die Festungswälle und die Glacis hintersich gelassen, ertönte ein donnerndes Halt! Hauptmann Perkuhn reckte sich auf seinem Fliegenschimmel empor und ließ sich also vernehmen:
„Aufgepaßt! Die Idee der heutigen Felddienstübung ist folgende: Der Herr Kommandant der Festung ist plötzlich wahnsinnig geworden. In dieser unzurechnungsfähigen Geistesverfassung hat er den Kriegsschatz gestohlen(9), worauf er drüben in jenen Wald geflüchtet ist. Die Kompagnie hat den Auftrag, ihn zu suchen. Der wahnsinnige Kommandant wird durch den Korporal(7) Plunz, der Kriegsschatz durch die leere Cigarrenkiste dargestellt.”
* * *
Korporal(7) Plunz — nicht gerade eine Leuchte der Wissenschaft — war knapp eine Viertelstunde in dem Wäldchen unterwegs, als er auf einen ihm unbekannten hohen Offizier stieß. Eingedenk seiner Rolle kniff er aus, wurde aber durch einen Anruf zum Stehen gebracht.
„Wo wollen Sie denn hin? Was machen Sie hier?”
„Ich verstecke mich, Herr General.”
„So. Und vor wem?”
„Vor meiner Kompagnie, Herr General.”
„Sooo. Das ist ja recht nett. Wie heißen Sie?”
„von Randow.”
„Was? Was? Wie?”
„Oberst von Randow, Kommandant der Festung.”
„Mensch,” hauchte der General entsetzt. „Sie sind wohl wahnsinnig?”
„Zu Befehl. Plötzlich wahnsinnig geworden, den Kriegsschatz gestohlen und damit geflohen,” meldete stramm der Korporal.
Kaum hatte er ausgesprochen, so entriß der General dem guten Plunz das Seitengewehr, nahm ihn am Arm und führte ihn eigenhändig der nächsten Wache zu. Hier wurde der Arrestant unter schärfste Aufsicht gestellt. Zwei der kräftigsten Soldaten mußten ihn an den Handgelenken festhalten — bis zum Eintreffen der telephonisch herbeigerufenen Stabsärzte.
* * *
Die Begeisterung der Kompagnie ob der originellen Aufgabe steigerte sich zu hellem Entzücken, als man des Gesuchten absolut nicht habhaft werden konnte. Man suchte eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, erkletterte die höchsten Bäume und schlängelte sich indianerhaft durch das dichteste Unterholz — von dem wahnsinnigen Kommandanten und der Kriegskasse war keine Spur. Schließlich blieb nichts anderes übrig, als unverrichteter Sache wiederabzuziehen.
Hauptmann Perkuhn schwur, daß den Kerl ein heiliges Donnerwetter frikassiren solle, sobald er sich wieder sehen lasse.
Leider kam es anders. Kaum war die Kompagnie eingerückt, als der Hauptmann zum Regimentskommandanten befohlen wurde — — und hier frikassirte ein heiliges Donnerwetter ihn selbst.
Das kommt daher, wenn man neue Ideen hat.
Fußnoten:
(1) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: Gottche Perkuhn.
(2) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: Fähnrich Perkuhn.
(3) Brockhaus 1911: Schweizerpillen — aus Silge, Moschusgarbe, Aloe, Wermut, Bitterklee und Enzian bestehend, wirken abführend.
(4) Kurzbezeichnung des Mineralwassers Gießhübler Sauerbrunnen.
In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier hingegen: eine halbe Flasche deutschen Sekt.
(5) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: an den Helm.
(6) In der Fassung der „Indiana Tribüne” fehlt — neben anderen — auch dieser Absatz. Deswegen bleibt unklar, ob diese niederösterreichische Dialektbezeichnung für eine Schubkarre von Teo von Torn oder von der Redaktion des „Neuigkeits-Welt-Blattes” stammt.
(7) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: Sergeant Plunz.
(8) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: unter den forschen Klängen der Knüppelmusik zum Städtlein hinaus.
(9) In der Fassung der „Indiana Tribüne” heißt es hier: In dieser unzurechnungsfähigen Geistesverfassung ist er in den Juliusthurm eingebrochen und hat den Kriegsschatz gestohlen.
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