Die Kirschen des hohen Herrn

Militärische Humoreske von Teo von Torn
in: „Altonaer Nachrichten/Hamburger Neueste Zeitung” vom 01.09.1903


Gegenüber den mannigfachen Belästigungen, denen die detachierten Bataillone im Regimentsverbande ausgesetzt sind, führen die selbständigen Bataillone — beispielsweise der Jäger — ein recht beschauliches Dasein.

Da gibt es keinen Regimentskommandeur, den ganz unvermutet die Neugier plagt, wie es wohl seinem zweiten Bataillon in der Fremde ergeht; ob es sich gesund befindet, ob es brav Dienst tut und in seiner Ausbildung gleichen Schritt hält mit den übrigen Bestandteilen des Regiments.

Die Jägerbataillone erziehen sich sozusagen selbständig — und im allgemeinen liefern sie den schlagenden Beweis, daß es für die tüchtige Ausbildung einer Truppe nicht gerade ein unumgängliches Erfordernis ist, daß ihr die ganze Himmelsleiter von Vorgesetzten auf dem Nacken sitzt. Das Gefühl der größeren Verantwortlichkeit ist bei den betreffenden Kommandeuren von ungleich besserer Wirkung, als wenn ihnen zu jeglicher Frist die zärtliche Fürsorge eines höheren Besserwissers in den Kram redet.

Aber wie es nichts Vollkommenes gibt auf dieser Tränenwelt, so bleibt auch die Idylle der selbständigen Bataillone nicht ganz ohne Störung — und just in dieser Stunde, da unsere Geschichte einsetzt, saß der Oberstleutnant Hellriegel im Bataillonsbureau über einem verdächtigen, großformatigen Schriftstück.

Die Vormittagssonne lag prall auf den kleinen, von Efeu dicht eingesponnenen Fensterchen der Wilzenburg, in deren Erdgeschoß das Bureau installiert war. Die wenigen Strahlen, die sich durch das Blattwerk drängten, vollführten einen Flimmertanz auf dem Papier, funkelten auf dem mächtigen Siegelringe des Herrn Oberstleutnants, vergoldeten seine Platte und kitzelten ihn schließlich so heftig an der Nase, daß deren Spitze das unsicher balacierende Pincenez entglitt und ein Nieser durch das lauschige Halbdunkel des Gemaches dröhnte.

„Zur Gesundheit, Herr Oberstleutnant!” rief der Adjutant, nachdem er sich von dem leichten Schreck erholt.

Es ist das sonst nicht üblich. Aber bei den engen dienstlichen und persönlichen Beziehungen, die Leutnant von Zeising zu seinem „alten Herrn” unterhielt, konnte er sich solchen, zwar unmilitärischen, aber doch frommen und freundlichen Wunsch immerhin gestatten. Und der Oberstleutnant nahm das auch nicht übel.

Er sagte: danke, um gleich darauf den Mund aufzureißen, mit den Nasenflügeln zu zucken und mit den Augen zu plinkern. Aber die also vorbereitete Detonation war ein Versager. Der alte Herr schnäuzte sich kräftig in sein Schnupftuch, und nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, das Pincenez wieder auf der Nasenspitze zu installieren, hielt er das Schriftstück nach Art der Weitsichtigen in der nötigen Entfernung, um noch einmal ohne Glas zu lesen.

„Hol' mich der Deuwel, Zeising,” sagte er dann, indem er die Augen mit dem Handrücken rieb, „ich kann da nichts anderes herauslesen, als daß Seine Durchlaucht, der hohe Chef des Bataillons, uns persönlich die Ehre geben will —”

„Sehr wohl, Herr Oberstleutnant, das steht auch da.”

„Und zwar morgen!”

„Allerdings, Herr Oberstleutnant — morgen.”

Wenn der alte Herr sich bisher noch an die Hoffnung geklammert, daß seine unsicheren Augen ihm einen wilden Spuk vorgezaubert, so war das nun hinfällig. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände über dem Bauche und fragte langsam, so recht aus der Tiefe seiner beunruhigten Seele heraus:

„Na — haben — Sie — Worte — — —?”

Leutnant von Zeising hatte welche. Sogar sehr viele, die sich alle auf die nötigen und dringenden Vorbereitungen bezogen, die noch bis morgen zu treffen waren. Diese Frage jedoch war noch zu unsubstanziiert, um daraufhin loszulegen. Er beschränkte sich also auf ein bedauerndes Hochziehen der Schultern und auf ein viel- oder auch nichtssagendes Lächeln.

„Aber so reden Sie doch, Unglücksmensch!” beschwor der Oberstleutnant nunmehr stärker. „Was stellen wir denn auf!”

„Erlaube mir gehorsamst auf den Inhalt des Schreibens hinzuweisen. Seine Durchlaucht befehlen eine Übung in gedecktem Gelände — wahrscheinlich, um unsere Fortschritte in der neuen Burentaktik zu kontrollieren, zu deren Vorzügen sich der hohe Herr ja schon im vorigen Jahre bekannt hat. Ich glaube, wir haben da nichts zu fürchten, Herr Oberstleutnant. Unsere Schützenlinien werden schon seit Monaten breit auseinandergezogen, ihr Auffüllen geschieht prompt, die Sprunglänge ist auf 25 Meter reduziert und das „im Liegen vorwärts” machen unsere Leute wie Eidechsen. Alles, wie Seine Durchlaucht sich das gewünscht hat. Fehlen nur noch einige Spezialdispositionen für die Herren Kompagnieführer und die Verständigung der Kasinoleitung. Der Fürst ist sehr für einen guten Bissen und namentlich für den Nachtisch. Wenn der Herr Oberstleutnant befehlen, so werde ich unverzüglich — —”

„Schön, schön, Zeising — machen Sie das,” sagte der alte Herr gedrückt und mit einem Gesicht, das deutlich einen mühsam verkniffenen körperlichen Schmerz ausdrückte. Er wiegte sich einen Augenblick in den Hüften und fuhr dann fort: „Die Herren Hauptleute lasse ich bitten, gleich nach dem Mittagessen auf den Kasernenhof zu kommen. Sagen wir mal um zwei. Ich werde selbst — — notabene wenn ich kann. Sie wissen, Zeising — meine Erkältung und dann vor allen Dingen diese verfluchte Magenverstimmung! Wie soll das bloß werden! Ich kann mich kaum auf dem Stuhle, geschweige denn zu Pferde halten — jedenfalls nicht lange. Gar nicht lange! Sie müssen mich übrigens schon wieder mal 'n Augenbick entschuldigen. Zeising — — —” ächzte der alte Herr, indem er sich schwerfällig erhob. „Gibt es denn gar nichts gegen, zum Donnerwetter noch einmal — —”

„Zu Befehl. Wenn der Herr Oberstleutnant es vielleicht mit getrockneten Besingen versuchen wollten — das soll sehr gut sein.”

„Aex — pfui Spinne! Blaubeeren! Aber meinen Sie wirklich? Na, dann sagen Sie mal der Ordonnanz, sie soll mir welche holen. Ein Pfund vorläufig, was? Oder lassen Sie lieber gleich zwei Pfund holen, Zeising. Wenn ich sie heuten nicht aufnaschen kann, hebe ich mir den Rest für morgen auf. Pardon — entschuldigen Sie mich — —”

— — —

Die Sonne versendet glühenden Brand. Aber die Kniee des Jägerbataillons wanken — entgegen dem Bilde des Dichters — noch nicht. Das Bataillon hält sich unter den drei Augen Seiner Durchlaucht, des hohen Chefs, ausgezeichnet. Die „unendliche Mühe” soll auch erst noch kommen! Eine in ziemlicher Entfernung winkende Bergruine, zu der der Fürst und seine kleine Suite demnachst abreiten werden, markiert den gedeckten Feind, gegen den sich die Jäger bis auf sichere Schußweite heranzuschlängeln haben.

Vorläufig ist eine Rast befohlen. Die Leute lagern auf den Wiesen zu beiden Seiten der Chaussee. Die Offiziere — soweit sie nicht von Seiner Durchlaucht herangewinkt worden sind — haben den Schatten der Chausseebäume aufgesucht. Der hohe Herr hatte es sich auf einem Haufen geschlagener Steine spartanisch bequem gemacht und war in gnädigster Stimmung — Oberstleutnant Hellriegel in entsprechend gehobener. Und er hatte auch sonst alle Ursache. Keine seiner grauen Befürchtungen hatte sich erfüllt. In einer unbewachten Minute flüsterte er seinem Adjutanten zu: „Zeising, die Blaubeeren sind großartig! Sie seien Ihnen gesegnet an Ihren Kindern und Kindeskindern. Vielleicht auch mal 'ne kleine Handvoll gefällig?”

„Danke gehorsamst, Herr Oberstleutnant, danke sehr!” wehrte der Bedrohte entsetzt ab.

Weiteren Attentaten sah er sich entzogen, da der Fürst den Bataillonskommandeur zu sich rief. Seine Durchlaucht hatten bemerkt, daß die Chausseebäume, unter denen man sich befand, Kirschbäume waren, dicht behängt mit hellroten, würzig sauren Früchten. Obst war eine bekannte Leidenschaft des hohen Herrn — und so nahm es nicht sonderlich wunder, als er einige Soldaten beorderte, ihm einen Posten herunterzulangen.

„Werden mich auslösen bei dem rechtmäßigen Besitzer, Herr Oberstleutnant. Dürfen dafür auch zulangen. Setzen Sie sich hierher und futtern Sie mit. Aber machen Sie doch keine Umstände! Ich bitte Sie — unter Kameraden . . . . .!”

Damit zog Seine Durchlaucht den tödlich erschrockenen Oberstleutnant zu sich auf den Steinhaufen und hielt ihm die auf der Rückseite der Generalstabskarte servierten Früchte hin.

Kirschen! Saure Kirschen! Oberstleutnant Hellriegel hatte sie nie gemocht — auch in normalem Zustande nicht. Sein Magen reagierte aif das empfindlichste gegen alle Fruchtsäure. Und nun gar heute! Er wußte es so sicher, wie er wußte, daß er der unglückliche Oberstleutnant Hellriegel war: nur ein halbes Dutzend dieser gräulichen roten Dinger, und die ganze Kur war beim Teufel.

Aber es half nichts. Wenn Durchlaucht ihn der hohen Ehre würdigte, sozusagen aus einem Pott mit ihm zu essen, so durfte er keinesfalls einwenden: „Verzeihung, Durchlaucht, ich esse kein Obst, ich esse nur Blaubeeren — und zwar getrocknete!” — Das ging nicht.

Ein Sprichwort sagt, daß es nicht gut sei, mit hohen Herren Kirschen zu essen. Noch weniger gut aber ist es, die von einem hohen Herrn angebotenen Kirschen auszuschlagen. Und wenn der Fürst dem Oberstleutnant einen Aufguß von Sennesblättern und Kurellaschem Brustpulver angeboten hätte, mit Schweizerpillen als Gewürzkörnern darin, er hätte auch nicht gemuckt, sondern so eifrig getrunken, wie er jetzt aß — mit dem Mute der Verzweiflung und dem stillen Vorbehalte: Après nous le déluge!

Endlich — dem Bataillonskommandeur standen bereits die hellen Tropfen auf der sorgenvoll gerunzelten Stirn, endlich kaute auch Seine Durchlaucht mit langen Zähnen: das erste Merkmal eines beginnenden Krampfes im Kinnbackengelenk bei anhaltendem Gebrauch von stark sauren Genußmitteln. — Die Tafel wurde aufgehoben.

Der hohe Herr schwang sich auf sein Roß. Die Suite ebenfalls. Die Offiziere wirbelten an ihre Posten, und Oberstleutnant Hellriegel gab die Kommandos mit einer Verve, die auf eine ganz außergewöhnliche innere Spannung schließen ließ. Er besteig nicht sein treues Pferd, wie er es wohl hätte tun sollen, sondern ordnete zu Füß die Marschstellung der entlegensten Gleider an, wo er schließlich dem Blicke des hohen Chefs überhaupt entschwand.

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Die Ruine war von den Jägern mit Bravour genommen worden. Im Ernstfalle wäre Durchlaucht ein toter Mann gewesen, die Suite wäre auch tot gewesen, und selbst von den Ratten, die das alte Gemäuer bewohnten, hätte keine den mit Indianerschlauheit inszenierten Angriff des Jägerbataillons überlebt.

„Dieser Angriff, meine Herren,” erklärte der hohe Herr in seiner Kritik, „ist der Triumph der Burentaktik und die Bestätigung meiner Ansichten über diese. Ich bin ganz außerordentlich zufrieden. Ganz besonders mit der persönlichen Haltung Ihres verehrten Herrn Kommandeurs, des Herrn Oberstleutnant Hellriegel. Ohne die leiseste Anregung meinerseits haben Sie, Herr Oberstleutnant, durchaus das Rechte getroffen, indem Sie nicht zu Pferde stiegen, sondern das Vorgehen Ihrer Truppe in gedeckter Stellung begleiteten. Das war das Entscheidende und meiner Auffassung nach auch die Bedingung des bedeutenden Erfolges, zu dem ich Sie beglückwünsche.”

Oberstleutnant Hellriegel hielt beglückt die Hand am Helm und freute sich des persönlichen Erfolges, der aber nur möglich war — auf gedecktem Gelände.

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