Ein Kilometerfresser.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Der deutsche Correspondent” vom 24.01.1904
in: „Über Land und Meer” 1903 Seite 1136


Einer jener merkwürdigen Zufälle, an denen unser Leben so reich ist, hatte es gefügt, daß Wolf Egbert von Amundsen gerade auf dem Bahnhofe war, als der Mittagszug der Klingelbahn herantorkelte, um sich hier sechs Minuten lang zu verpusten. Wer die strahlend aufgeregten Augen, die festlich glühenden Ohren und überhaupt die ganze Illumination auf Wolf Egberts übergesundem Antlitz bemerkte — dazu die impulsive Herzlichkeit, mit der Gustel Warburg ihr weißbehandschuhtes Händchen aus dem Coupéfenster herausreckte, dem wurde es ohne Weiteres klar, daß es sich nicht nur um einen merkwürdigen, sondern auch um einen glücklichen Zufall handelte.

Der Wahrheit gemäß muß hier in Parenthese bemerkt werden, daß es um diesen Zufall doch eine eigene Sache war. Wirklich rein zufällig begegnet man in den weitaus meisten Fällen nur unliebsamen Menschen: seinem Schneider beispielsweise, dem man noch Geld schuldet, oder — wenn man Offizier ist und verbotenerweise in Zivil geht — seinem Regimentskommandeur. Will man dagegen einem blonden Mädchen begegnen, in das man so unsinnig verliebt ist, wie der Rittergutsbesitzer Egbert von Amundsen in Gustel Warburg, und soll diese Begegnung überdies zu einer bestimmten Stunde auf einer bestimmten Station einer mecklenburgischen Klingelbahn erfolgen, so muß man dem Zufall schon ein wenig auf die Sprünge helfen.

Das war denn auch gechehen. Vor vier Tagen hatte Leutnant von Kreitling in Ludwigslust einen Brief bekommen etwa folgenden Inhalts: „Lieber Rolf, Deinem Fuchswallach geht es sehr gut und mir auch soweit. Die sechs Wochen Sommerübung bei euch sind mir rasend schnell vergangen. Ich kann mich zu Hause noch gar nicht zurechtfinden. Mir fehlt was. Vielleicht bist Du's, vielleicht der königliche Dienst, vieleicht — mach nicht so'n dämliches Gesicht, bitt' ich mir aus! Aber da Du gerade daran denkst, so schreibe mir umgehend, wann Warburgs nach Boltenhagen ins Bad reisen. Tag und Stunde — genau! Das andere suche ich mir dann schon im Kursbuch zusammen. Informire Dich sorgfältig. Das kann Dir als Vetter nicht schwer fallen. Treffe ich sie nicht, dann suche ich Dich auf und halte Dich so lange mit steifem Arm aus dem Fenster, bis Du verhungert bist.   Dein Wolf.”

Mit dieser kleinen Hilfe also fügte sich der merkwürdige und glückliche Zufall . . .

„Das ist ja reizend, Herr von Amundsen,” sagte Frau Konsul Warburg, deren vornehmes Matronengesicht über den breitrandigen Hut hinweg dem Glückseligen zulächelte. „Welch unverhoffte Begegnung! Sie haben hier zu thun?”

„Sehr wohl. gnädigste Frau, ich — ich habe einige Waggons Saatgut zu verladen,” log der jungen Landwirth mit größerer Kühnheit als Geschicklichkeit; denn Saatkorn wurde um diese Jahreszeit gemeinhin nicht verschickt, und außerdem bediente man sich zu solchen Geschäften nicht eines so tadellosen Dogcart, wie es jenseits des kleines Stationshäuschens auf der Chaussee hielt.

„Aber ist denn das Ihre Station?” fragte das junge Mädchen, indem es die munteren Augen auf dem Perron umherschweifen ließ. „In Ludwigslust erzählten Sie mir doch, daß Sie von Berchow aus mit der Strelitzer Bahn zu fahren pflegen.”

„Ganz recht — aber ich habe zwei Stationen. Jawohl. Berchow ist ja etwas näher, dafür aber sind die Wege lange nicht so gut. Ich mache deshalb lieber die paar Kilometer mehr.”

„Also sind die Wege hier hinauf besser? Das ist mir lieb zu hören. Ich will nämlich von Grevesmühlen aus per Rad nach Boltenhagen fahren, während Mama mit dem Gepäck einen Wagen benutzt. Sie sind doch auch Radfahrer, Herr von Amundsen?”

„Aber natürlich, gnädiges Fräulein — selbstverständlich! Heutzutage muß man ja radfahren können. Das Rad ist überhaupt das Verkehrsmittel der Zukunft.” Wolf Egbert war sehr glücklich, dergleichen irgendwo gelesen zu haben.

„Ich finde, es beherrscht schon die Gegenwart,” warf Frau Warburg lächelnd ein, „meine Tochter ist mir zu passionirt. Ich lebe in einer ewigen Angst. Sie besuchen uns doch in Boltenhagen, Herr von Amundsen?”

„Wenn Gnädigste gestatten, mit großer Freude!” rief er strahlend, und sein rundes Antlitz flaggte in den glühendsten Farben, als das junge Mädchen sich der Einladung in ihrer lebhaften und natürlichen Art anschloß.

„Am besten ist, Sie kommen per Rad, Herr von Amundsen, also heute über acht Tage. Das wäre besonders nett. Rolf hat uns für diesen Tag seinen Besuch versprochen. Wir machen dann hübsche Ausflüge zu dritt. Wie weit ist es denn von Ihrem Gute bis Boltenhagen?”

„Wenn ich nicht irre, vierzig bis fünfundvierzig Kilometer —”

„Und wie lange fahren Sie?”

„Die Bahn bis Grevesmühlen fährt —”

„Ach, gehen Sie! Ein ordentlicher Radfahrer fährt doch nicht per Bahn, wenn er nicht muß. Ich meine natürlich per Rad!”

„Ach so — selbstverständlich — per Rad. Nun, in einer Stunde denke ich doch —”

„Alle Wetter! Hast du gehört, Mama? Fünfundvierzig Kilometer Chaussee fährt Herr von Amundsen in einer Stunde! Das ist ja kolossal! Um so mehr aber freue ich mich. Auf Wiedersehen also am Sonnabend. Und Sie benutzen die Eisenbahn nicht!?”

„Nie mehr, wenn Sie befehlen!”

Als der Zug und ein weißes Tüchlein hinter der Waldecke verschwunden waren, hätte Wolf Egbert dem alten Stationsvorsteher beinahe einen Kuß gegeben, besann sich aber noch rechtzeitig und begnügte sich mit einem kräftigen Händschütteln. Als dann schritt er gedankenvoll zu seinem Dogcart.

Am nächsten Tage war er in Ludwigslust. Rolf von Kreitling verschanzte sich erschrocken hinter seinem Schreibtisch, als Wolf Egbert plötzlich vor ihm auftauchte.

„Allmächtiger! Hast du sie denn nicht getroffen? Ich schrieb dir doch . . .”

„All right, mein Sohn. Ich komme nicht, dich zu morden, sondern um dir zu danken. Außerdem muß ich unter allen Umständen radfahren lernen.”

„Nanu, mit einem Male? Willst du schlanker werden?”

„Das auch. Hauptsächlich aber will ich am Sonnabend fünfundvierzig Kilometer in einer Stunde fahren. Von Kriewen nach Boltenhagen.”

„Das auch. Hauptsächlich aber will ich am Sonnabend fünfundvierzig Kilometer in einer Stunde fahren. Von Kriewen nach Boltenhagen.”

Leutnant von Kreitling, der sich inzwischen aus seiner Verschanzung hervorgetraut, sah seinen Freund mit großen Augen an und suchte wiederum Deckung. „Weiter nicht? Ich meine, die Landesirrenanstalt liegt in einer ganz anderen Richtung. Dableiben, du! Ich werfe mit dem Briefbeschwerer —”

„Leg das Ding hin. Ich thu' dir nichts. Ich will mir bloß eine Zigarre nehmen. Ich bin ohnehin in der Gemüthsverfassung eines vergrämten Shrapnels. Ich muß am Sonnabend fünfundvierzig Kilometer in einer Stunde fahren. Da beißt keine Maus einen Zipfel von ab.”

„Aber Mensch!” rief Herr von Kreitling empört, „das ist doch Wahnsinn! Du bist doch nicht Robl(1) oder Jimmy Michael(2)! Du bist der dicke Amundsen, der seine reichlichen zweihundert Pfund noch nie einem Rade anvertraut hat! Ebensogut kannst du hergehen und sagen, du müßtest am nächsten Sonnabend Looping the loop machen.”

„Mach nicht Quatsching the quatsch, Rolf. Ich muß,” erwiderte Wolf Egbert gedrückt, aber entschlossen. „Ich gabe ja zu, daß ich mich eklig verhauen habe mit der Geschichte. Das kommt daher, weil ich keine Ahnung habe, was man auf so 'ner Strampelchaise leisen kann. Aber behalte mal einer den Kopf oben, wenn einem ein paar süße blaue Mädelsaugen ins Herz kitzeln. Da geht eben alles mit einem durch. Wenn sie mich gefragt hätte, ob ich von Kriewen nach Boltenhagen in einer Tour Kobolz schießen kann, hätte ich auch ja gesagt und mich no ch verpflichtet, jede halbe Meile einen doppelten Saltomortale zu machen. Auf alle Fälle muß ich am Sonnabend von Kriewen in einer Stunde nach Boltenhagen fahren. Und schließlich — das muß doch zu machen sein, zum Schwerebrett! Sieh mal, die Hauptsache ist doch, daß man auf so einem Dings sitzen und die Balance halten kann. Und du hast mir früher mal selbst gesagt, daß das in fünf, sechs Tagen sehr gut zu lernen ist. Was dann nachher die Geschwindigkeit betrifft, das ist nur Sache der Kraft und des Muthes — und ich habe beides!”

Leutnant von Kreitling maß seinen Freund mit jenem resignirten Blick, mit dem man Unheilbare betrachtet, die sich hinsichtlich ihres Zustandes Illusionen hingeben und noch Zukunftspläne machen. Und solchen Leuten darf man nicht widersprechen, das wäre eine Gefühlsroheit. Obwohl es Sonntag war, ließ der Leutnant den Sergeanten Sommer, den Radfahrlehrer des Bataillons, kommen, empfahl ihm den Freund und dessen Seele Gott. —

Was Rolf von Kreitling im Laufe der Woche von den sportlichen Fortschritten des Dicken hörte, stellte seine schwärzesten Befürchtungen in den Schatten. Schon am zweiten Tage meldete sich der Sergeant Sommer wegen Muskellähmumg revierkrank. Auch Wolf Egbert hatte eine Anzahl Beulen und Bruschen, die sein sorgenvolles Mondgesicht verunzierten. Er hatte sie sich dadurch zugezogen, daß er eigensinnig immer in eine Stuhlpyramide fuhr, die in einer Ecke des Uebungssaales aufgebaut war. Jedesmal mußte er unter dem Berg von Sitzgelegenheiten ausgegraben werden, und dann blessirte er noch die Schienbeine seiner Retter, weil er auch als Gefallener immer noch weiter strampelte, da man ihm gesagt hatte, daß er treten müsse, unentwegt treten.

Endlich am Donnerstag war er soweit, daß der Offizier eine erste Ausfahrt mit ihm riskiren zu können glaubte. Helle Schweißtropfen auf der Stirn, mit Augen, die auf eine Knopfgabel zu ziehen waren, taumelte der Dicke wie ein betrunkener Scheerenschleifer neben ihm her. Es gab nichts, was ihm nicht im Wege war. Um ein Haar hätte ihn die elektrische Bahn überfahren, weil sein Stahlroß Neigung zeigte, auf den Vorderperron zu hüpfen. Trotz aller Ermahnungen hielt er die Lenkstange wie ein Ertrinkender den sprichwörtlichen Strohhalm, und so kam es denn, daß die Probefahrt für Wolf Egbert von Amundsen in einem Obstkeller endete. Nur dem glücklichen Umstande, daß er mit Kopf und Händen in einem Korbe voll reifer Zwetschgen landete, verdankte er es, daß bloß sein Rad sich in seine Bestandtheile zerlegte. —

Da Wolf Egbert — gleich nachdem er in dem Obstkeller sich den Fruchsaft aus den Augen gewischt — zerknirschten Abschied genommen hatte und auch am nächsten Tage sich nicht mehr sehen ließ, nahm Herr von Kreitling an, daß der Dicke nicht nur sein verdrehtes Vorhaben, sondern auch das Radfahren überhaupt aufgegeben hatte.

Um so sprachloser war er verblüfft, als ihm Cousine Gustel in Boltenhagen ein Telegramm unter die Nase hielt: „Starte soeben ab. Bitte auf Zeit zu achten. Amundsen.” Aufgegeben Berchow 8 Uhr 12 Minuten.

Leutnant von Kreitling sah unwillkürlich auf die Uhr, dann in das vor Freude und Erwartung brennrothe Gesichtchen des jungen Mädchens. „Jetzt ist's gleich neun,” jauchzte sie , „in zwölf Minuten muß er da sein!”

„Das ist Unsinn, Kleine,” stieß Rolf besorgt und ungeduldig hervor. „Es giebt überhaupt nur eine Möglichkeit: der Mensch ist aus Liebe zu dir verrückt geworden und liegt jetzt mit gebrochenem Genick in einem Chausseegraben.”

„Rolf!!” schrie das junge Mädchen entsetzt auf. Ihr Blick irrte verzweifelt die Chaussee hinab. Gleich darauf aber rief sie jauchzend einen zweiten Namen, der ganz ähnlich klang und stürmte die Verandatreppe hinab, einem Radfahrer entgegen, der in den unsicheren Schlangenlinien des blutigen Anfängers einherzitterte.

„Wolf!!”

Nachtwandler und lernende Radfahrer soll man nicht plötzlich anrufen, sonst fallen sie. Das Rad ruckte empor wie ein bäumendes Pferd, dann nahm es eine feurige Kurve nach rechts, übersprang einen Meilenstein, und Roß und Reiter verschwanden im Graben.

Einige Sekunden später hielt Gustel Warburg das Dulderhaupt Wolf Egberts in ihrem Schooße.

„Ach du,” hauchte sie zitternd an seinem Munde, „ich habe dich ja so lieb — und ich sterbe vor Angst, wenn du nicht sprichst. So sag doch — hast du dir sehr weh gethan? Wie ist dir?!”

„So ist mir wohl,” brummte er wie ein gestreichelter Bär, mit geschlossenen Augen, „so könnt' mir immer sein.”

Amundsen war noch nicht vernehmungsfähig — oder er that wenigstens so, als wenn er es noch nicht wäre. Die weichen Händchen, die sorglich seine verbeulte Stirn kühlten, waren eine Annehmlichkeit, die er sich möglichst lange zu erhalten wünschte nach all der Qual und den ausgestandenen Leiden. Außerdem konnte der Schwindel schon in der nächsten Stunde herauskommen, und dann war vielleicht alles aus.

Dazu ließ es Leutnant von Kreitling glücklicherweise nicht kommen. Er fing alle herankeifenden Bauernweiber nach und nach ab und bezahlte ihnen die Ziegen, Gänse, Hühner und Enten, die der Rekordmogler mit seinem Motorwagen, der zwei Kilometer zurück im Dorfe hielt, umgebracht hatte.

Gustel Warburg aber nahm ihrem Verlobten das Versprechen ab, nie wieder ein Rad zu besteigen. Er sei ein leichtsinniger Mensch, ein Kilometerfresser; und sie hätte keine ruhige Stunde mehr, wenn sie ihn zu Rad wüßte. Wolf Egbert hat das Versprechen gegeben und auch ehrlich gehalten.

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Fußnoten:

(1)   Thaddäus Robl(1877-1910) deutscher Radrennfahrer

(2)   Jimmy Michael(1877-1904) walisischer Radrennfahrer

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