Holewas Gemeinheit.

Von Teo von Torn.
in: „Rostocker Anzeiger” vom 30.12.1900


„Himmeldonnerwetter, Herr — passen Sie doch auf!Andere Leute haben ooch Füße!”

Wladislaus Rezowski begleitete diesen Aufschrei mit einer energischen Reflexbewegung seines getretenen Fußes und seiner mit „Pavianspoten” bekleideten Fäuste, die sich dem Attentäter in den Rücken bohrten.

Der also Zurechtgewiesene brummte etwas, das „Pardon” oder auch „Hol Sie der Teufel” heißen konnte und raffte einen Berg großer und kleiner Packete von dem Rücksitz des Taxameters, den er eben etwas unvorsichtig rücklings verlassen hatte. Gestoßen und gedrängelt von der dichten weihnachtsfrohen Menge, die die untere Leipziger Straße durchwogte, hatte er noch nicht die Hälfte seiner Fracht an den Paletotknöpfen und unter dem Arme verstaut, als zwei buntwollene Handschuhe sich von hinten um seinen Hals legten.

Herr von Rezowski hatte sich nämlich im Weitergehen noch einmal nach seinem Peiniger umgedreht und war gleich darauf mit einem Freudenschrei gegen den Strom auf ihn zugesteuert.

„Jesses, Viktor — Mensch — Freund — ist es möglich!”

Viktor Holewa fuhr herum — das heißt, er versuchte es, und dieser Versuch kostete ihn einige kleinere Packete, die theils in den Wagen, theils unter die Räder fielen. Zwischen Lachen und Aerger schüttelte er den Landsmann von seinem Rücken.

„Aber so laß doch nur los, Dicker — die halbe Bescheerung liegt auf dem Straßendamm!”

„Lege die andere Hälfte daneben und gieb mir einen Kuß, Junge!” schrie der Besitzer der beiden „Pavianspoten” begeistert. „Hier muß ich Dich treffen! Aber komm aus der Brandung, Mensch! Die Bambusen schupsen einen hier ja invalide! Hast Du Deinen Kram beisammen?”

Leutnant Holewa hatte seine Packete nicht ohne Lebensgefahr wieder zusammengesucht und rief den Kutscher an, der eben davonfahren wollte. Dann bugsirte er den quecksilbernen kleinen Herrn, der ihn umhüpfte, mit den Ellenbogen und dem Knie in die Droschke und stieg selbst wieder ein.

„Zu Kempinski!”

Langsam schob sich die „Weißlackierte” durch den hellen Trubel. Wenn sie sich nicht heiser brüllen wollten, mußten die beiden Freunde jedes Wort der Verständigung aufgeben. Herr von Rezowski half sich mit einer lebhaften Gesticulation und unausgesetzten Umarmungen, während der andere, dem man trotz seines eleganten Civils den Officier sofort ansah, an seinem Schnurrbart zwirbelte und etwas nervös vor sich hinlächelte.

Erst als sie in einer behaglichen Ecke einander gegenübersaßen und das erste Glas der alten Kameradschaft gewidmet hatten, taute auch Leutnant Holewa auf.

„Ja, sag' mal, wie kommst Du denn nach Berlin, Wladek! Und vor allen Dingen, weshalb hast Du mich denn nicht aufgesucht?”

„Stop — immer hübsch eins nach dem andern! Nach Berlin bin ich gekommen, weil ich unverheirathet in meinem kaschubischen Eulennest einen Weihnachtsabend nicht mehr erleben will. Das ist fürchterlich, sag' ich Dir! Du weißt, daß ich nicht so leicht eine Gemüthskiste aufmache — aber da komme ich nicht d'rüber weg. Wenn das so unten vom Dorf her 'reinläutet in meine Einsamkeit — heulen möchte man! Hier in Berlin bimmelt's ja auch von allen Thürmen, aber da stoßen einem die Menschen die Sentimentalität ab — und zur Noth stellt man sich an ein Schaufenster, da brennen ja auch Weihnachtsbäume, und die gelten dem Wladislaus aus Gronowo ebenso wie jedem andern, nicht wahr?”

„Armer Kerl — —”

„Na sei so gut! Bemitleiden lassen kann ich mich von meiner alten Haushälterin in Gronowo auch! Dazu komme ich nicht nach Berlin. Und aus dem gleichen Grunde, siehst Du, habe ich Dich auch nicht aufgesucht. Du bist vier Jahre verheirathet — und nach den Packeten da zu schließen, hast Du mindestens drei Kinder. Das ist mir unangenehm! Das heißt — mach' nicht solch ein GWladislaus Rezowski schüttete sein Glas hinter die Binde, ohne eine Antwort abzuwarten, esicht — Du verstehst mich falsch. Unangenehm — ach Du lieber Gott, Es ist nur, weil ich ein schlechter Kerl bin, der so viel Glück bei anderen nicht aushalten kann! Meinetwegen könntest Du ein Dutzend haben — ich will sie blos nicht sehen, wie sie mit den blanken Kinderaugen — na überhaupt! Du — das älteste sagt wohl schon ,Papa', was?”

Wladislaus Rezowski schüttete sein Glas hinter die Binde, ohne eine Antwort abzuwarten, zu der sein Gegenüber auch gar keine Anstalt machte. Dann faltete er die Hände und preßte sie gegen sein feistes Kinn.

„Viktor — Mensch! Ich will ja nicht mal 'ne Frau! Kann ich ja gar nicht verlangen! Vielleicht bin ich wirklich zu dumm und zu dick zum Heirathen. Aber was ich möchte, weißt Du, —, was ich so ster-bens — gern möchte, das ist ein Kind; sag' mal, lachst Du oder heulst Du — nimm mal gefälligst die Hand vom Gesicht! Mir ist das ernst! — Und wenn es so ein ganz nuttiges, kleines, schnodderiges Jöhr wäre — so 'ne Handvoll, das noch nicht papp und bäh sagen kann! Herrgott — und das müßte mein sein! Dann pfiffe ich was auf Euer dwatsches Berlin, Dann giebt's blos noch Weihnachten in Gronow bei Carthaus! Augen sollte das Balg machen — Augen!”

Rezowski sackte fast ruckweise in seine kinderlose Wirklichkeit zurück. Außerdem genirte er sich ein bischen. Ohne seinen Jugendfreund und Landsmann anzusehen, griff er wieder nach der Rothweinflasche, um sich einzuschenken. In der nächsten Secunde aber ergoß sich die dunkle Fluth über das blühweiße Tischtuch.

„Das muß sehr, sehr schön sein” — hatte Victor Holewa gesagt. Und in seiner Stimme hatte so etwas Sonderbares, unweihnachtlich Herbes gelegen, daß es dem Herrn von Rezowski ordentlich in den Musikantenknochen gefahren war; und da hatte er zu rasch aufgesehen und den Wein neben das Glas gegossen.

Nachdem er mit umständlicher Geschäftigkeit beide Salzfässer auf den Fleck ausgeleert, zog er den dicken Kopf so tief in die Schultern, daß sich zwei mächtige Fettrimmel über den Hemdkragen legten; und dann war es doch so etwas wie eine Gemüthskiste, als er nun seinerseits sagte:

„Ach so . . . Armer Kerl!”

*           *           *

Die Weihnachtsglocken dröhnten über Berlin.

„Ich muß nun nach Hause, Wladek. Und — unter diesen Umständen wirst Du mir wohl nicht abschlagen, mich zu begleiten. Meine Frau wird sich sehr freuen. Wir sind dann auch nicht so allein.”

„Wenn Du meinst —”

„Wir werden uns sehr freuen. Wenn Du nur so gut sein wolltest — nicht davon zu sprechen — nicht wahr? Wir denken ja eigentlich auch das ganze Jahr nicht daran — blos so zu Weihnachten, da geben wir uns Mühe, nicht daran zu denken. Eins glaubt immer, daß das Andere sich härmt. Und so vermeiden wir denn alles — den Christbaum und die Lieder und — aber beschenken thun wir uns natürlich reichlich, daß man doch auch eine Freude hat.”

Noch im Entree, als sie die Ueberröcke ablegten, flüsterte Victor Holewa seinem Freunde Rezowski ins Ohr:

„Also nichts davon, Wladek, keine Silbe. Es ist nur der kleinen Frau wegen — ich weiß, daß sie sich härmt.”

Dann öffnete er die Thür und — verharrte auf der Schwelle wie festgewurzelt. Auf dem Tisch flimmerte ein Lichterbaum, und im Nebenzimmer sang eine schöne Frauenstimme zwischen Weinen und Jauchzen: — „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all — —”

Und als Victor Holewa mäher trat, da lag unter dem Christbaum ein wunder-niedliches Wickel-Balg aus Marzipan und darauf war ein Zettel geheftet, auf dem nicht weiter als: „a conto . . .

*           *           *

Wladislaus Rezowski blieb eine ganze Zeit allein mit dem schwälenden und knisternden Lichterbaum und dem Balg aus Marzipan — und er guckte aus seinen vorstehenden, wasserblauen Augen so lange darauf, bis er kaum noch etwas sah. Als aber die Beiden eintraten — sein Freund Holewa und die kleine blonde Frau, die ihr heißes Gesichtchen an die Schulter ihres Gatten lehnte, da wandte Wladislaus Rezowski sich ab, schnaubte schrecklich laut in sein buntseidenes Taschentuch und raunte dem Freund vorwurfsvoll zu:

„Und zu so was lädst Du mich ein? — Sieh mal, Viktor — das ist nun doch 'ne rechte, schlechte Gemeinheit von Dir!”

— — —