Die subjective Dummheit.

Eine Jagdhumoreske von Teo von Torn.
in: „Rigasche Rundschau” vom 23.10.1902,
in: „Indiana Tribüne” vom 27.01.1903,
in: „Indiana Tribüne” vom 26.09.1906,
in: „Plöner Wochenblatt” vom 29.01.1903


„Uebermäßig gescheit bist Du ja nie gewesen, mein Junge — obwohl oder vielleicht gerade weil Du Doctor der Giftmischerei und verwandten Wissenschaften bist. Aber wenn Du das nicht merkst . . .”

Forstassessor Semrau hob die Schultern, um sie dann jäh fallen zu lassen, zugleich mit den erhobenen Armen. Diese Geste war ausdrucksvoller, als wenn Rolf Semrau den Conditionalsatz geschlossen hätte: dann beißen Dich die Gänse!

Der Apotheker Dr. Eugen Wurm erfaßte das auch ganz richtig. Er war sonst kein empfindlicher Mensch, namentlich seinem alten Freunde und Schulkameraden Semrau gegenüber nicht. Aber dieser schroffe Angriff auf seine Intelligenz verletzte ihn doch etwas. Er stützte die gespreizten Finger der Linken auf sein Knie und rückte mit der Rechten an seiner scharfen blitzenden Brille — Eugen Wurms Offensivstellung.

„Ich meine, Rolf,” sagte er, unter Bewegungen des Kopfes, die deutlich eine gewisse Empfindlichkeit ausdrückten, „daß Du am wenigsten Anlaß hast, meine geistigen Fähigkeiten herabzusetzen. Ich erinnere Dich nur daran, daß Du im Lateinischen zum Beispiel kaum jemals eine glatte Drei erzielt hättest —”

„Wenn ich nicht regelmäßig von Dir abgeklaut hätte,” vollendete der Assessor trocken, indem er seine Zimmerpromenade unterbrach, „das ist richtig; aber hältst Du das vielleicht für ein Zeichen von Gescheidtheit? Es ist im Gegentheil erschrecklich dumm, seine Arbeiten abschreiben zu lassen und dann noch außerdem wegen offenbarer Muschelei in Arrest zu gehen, wie Dir das oft genug passirt ist.”

Wenn Eugen Wurm erregt war — soweit davon bei seinem blonden, ausgeglichenen Wesen überhaupt die Rede sein konnte — stieß er etwas mit der Zunge an; und so klang es denn mehr gesäuselt als heftig, da er unter einem energischen Griff nach seiner Brille hervordruckste:

„Aber — erlaube mal — — das ist denn doch — —!”

„Reg Dich nicht auf, Dr. Eugen Wurm,” winkte der Assessor begütigend ab. „Es ist so, wie ich sage. Und wenn Du Dich auf allen Geistesgebieten noch hervorragender bethätigt hättest — es giebt eine gewisse subjective, ganz persönliche Dummheit, die davon nicht berührt wird. Und die hast Du. Sieh mal, mein Junge: Ich weiß, daß der Forstrath Kaßner, ein sonst wenig umgänglicher, und widerborstiger alter Herr, Dich liebt. Auf seine Art natürlich. Der Mann giebt Dir seine Tochter, das unterliegt keinem Zweifel. Er würd Dich auf Wunsch sogar adoptiren, wenn Du nicht ein so grausamer Abderit in allen Dingen des edlen Waidwerks wärest. Die Vorliebe des Forstraths für Dich geht soweit, daß er mich — seinen ihm von Staatswegen zugetheilten Assessor, den er unbegreiflicherweise für einen Windhund hält — nur deshalb einigermaßen familiär nimmt, weil ich mich Deiner Freundschaft rühmen kann! Mach nicht so ein verständnißloses Gesicht, Dr. Eugen Wurm, es ist wie ich sage. Und wenn Du das nicht selbst bemerkt hast, dann liegt das eben an der subjectiven Dummheit, von der ich sprach. Was nun Fräulein Agathe Kaßner betrifft, so versagt hier Dein Intellect womöglich noch drastischer. Sag' mal, bist Du wirklich der Meinung, daß dieses strotzend gesunde, muntere Landkind alle die scheußlichen Mixturen und Latwerge thatsächlich benutzt, die es bei jedem Stadtbesuche in der Hirschenapotheke aufkauft? Das einzig Plausible, was sie holt, ist Strychnin für das Raubzeug. Alles Andere aber —? Die ungezählten Düten Kamillenthee, Schweizerpillen, Leberzucker, Salmiakpastillen, Cachou, Sennesblätter, Brustpulver und wie das Zeug sonst noch heißt — davon ist doch jedes Gramm ein Sympathiebeweis, jede Schachtel eine halbe Liebeserklärung! Merkst Du denn das nicht, Mensch!? Wer soll das Alles genießen auf dem Uhlenkamp, he!? Da ist ein Jeglicher so pöbelhaft gesund, daß Du in einem Jahre die Bude zumachen könntest, wenn Du von deren Gebresten abhingest! Dein Antlitz hellt sich auf — ich schließe daraus, daß Du mich endlich begriffen hast. So folge also meinem Rath und nutze die Einladung für morgen aus. Fahr' zur Jagd nach dem Uhlenkamp. Aber schieße nicht mit dem Gewehr — Du könntest ein Unglück anrichten — sondern schieße los mit Deiner Erklärung. Dann kriegst Du die Agathe und ich meine Ruh' vor Deinem ewigen Liebeskummer, der mir nachgerade fad ist. Hast Du aber wieder nicht die Courage, so bist Du eine noch größere Nulpe, als ich taxire — und die Kaßners können dann mit den aufgekauften Spezereien nächstens eine Concurrenzapotheke aufmachen. — Au —! Zum Donnerwetter, laß meine Hand los! Verflucht nochmal — — wenn Du nur die Hälfte der Kraft in Deiner Seele hast wie eben in der Pfote, so geht Alles gut!”

*           *           *

Die Herrgottsfrühe eines wundervollen Herbstmorgens.

„Also wie gesagt, Herr Doctor —” flüsterte Fräulein Agathe Kaßner, deren frisches Apfelgesicht von der Morgenkühle, vom Jagdfieber und vielleicht auch noch aus einem anderen Grunde glühte wie eine rothe Reinette auf der Sonnenseite, „möglichst leise — geräuschlos — damit wir den braven Bock nicht vergrämen, der über jene Lichtung wechseln muß. Hier ist auch schon unser Ansitz, die Kanzel — steigen Sie nur hinauf, Herr Doctor.”

„Aber mein gnädiges Fräulein,” lispelte Eugen Wurm pochenden Herzens unter einer Unzahl von Verbeugungen, „ich bitte Sie — nach Ihnen, selbstverständlich nach Ihnen!”

„Nein, Herr Doctor — das ist gar nicht so selbstverständlich,” erwiderte die Kleine, indem sie noch tiefer erröthete und ein reizendes Schmollgesichtchen aufsetzte.

Dem Apotheker dämmerte nun endlich das Verständniß für die Situation auf und er wurde seinerseits um eine Nuance verlegener.

„Ach so — jawohl — natürlich!” stieß er hervor und kletterte unverzüglich die Leiter hinauf, wobei ihm sein Schießgewehr gräßlich hinderlich war. Beinahe wäre er damit heruntergeschlagen; aber er hielt sich fest und kam denn auch glücklich oben an. „Darf ich Ihnen behilflich sein, gnädiges Fräulein?” fragte er laut, indem er niederkauerte und dem jungen Mädchen die Rechte entgegenstreckte.

„Ssst — um Gotteswillen leise!” raunte die Kleine, die die schwanke Leiter gewandt wie ein Kätzchen hinaufkletterte. „Und bewegen Sie sich nicht so viel! Die Kanzel ist nur leicht gebaut. Ich danke Ihnen!”

Damit entzog sie ihm ihr Händchen und ordnete umsichtig die Sitze an.

„Hier, Herr Doctor, nehmen Sie Platz. Von einem bestimmten Zeichen ab, das ich Ihnen gebe — ich werde den Finger auf den Mund legen — sprechen Sie kein Wort und machen keine Bewegung mehr! Das ist das Wichtigste. Versprechen Sie mir das?”

„Alles, mein gnädiges Fräulein, Alles!” jauchzte Eugen Wurm bewegten Herzens — ein Tonfall, der Fräulein Agathe anscheinend nicht unsympathisch berührte, sie aber doch zu einem nochmaligen warnenden „ssst — !” veranlaßte.

„Nun wollen wir noch schnell verabreden, wer von uns Beiden schießt, wenn wir den Bock wirklich zum Schuß bekommen. Wollen Sie, Herr Doctor, oder — —”

„Nach Ihnen, selbstverständlich nach Ihnen!Ich werde wol überhaupt nicht zum Schießen kommen; denn ich habe vorhin bemerkt, daß ich in der Eile einige Rollen Zwanzigpfennigstücke erwischt habe anstatt der Patronen — ”

„Aber ich bitte Sie! Wie ist denn das möglich! Und ich kann Ihnen nicht einmal aushelfen — mein Drilling hat ein anderes Kaliber.”

„Das will ich glauben, gnädiges Fräulein. Meine Büchse ist nämlich eigentlich eine sogenannte Nilpferdkanone, ich habe sie von meinem seligen Vater geerbt, der einmal mit Stangen in Afrika gewesen ist. Das macht jedoch nichts, Fräulein Agathe — ich würde nicht geschossen haben, um kein Unheil anzurichten —”

„Still jetzt,” flüsterte das junge Mädchen, indem es mit den hellen Augen scharf zum jenseitigen Waldrand hinüberspähte. Dr. Eugen Wurm war aber derart schön in Fahrt, daß ihn keine Macht der Welt gehindert hätte, endlich sein Herz auszuschütten.

Der belebend frische sonnige Morgen, die Erinnerung an Rolf Semrau's unwiderlegliche Deduktionen, die enge Nähe des geliebten Wesens — alles das weckte in ihm ein entschlossenes „jetzt oder nie!” Und er sprach — der inneren Erregung entsprechend zwar mit den unbeholfensten s-Lauten, aber glatt, unaufhaltsam und mit zunehmender Verve:

„Nein, Fräulein Agathe — ich werde nicht schießen, ich werde endlich losschießen, wie mein Freund Semrau sagt. Ich werde Ihnen sagen, was mein Herz die ganzen langen Monate über bewegt, was es gelitten hat unter der schrecklichen Ungewißheit! In disem weiten herrlichen Gottesdome — nein, Fräulein Agathe, legen Sie nicht den Finger auf den Mund, heißen Sie mich nicht schweigen! Treten Sie mir ruhig weiter auf den Fuß — das Alles wird mich nicht hindern, mir die Gewißheit zu holen, die ich brauche, um leben zu können! In diesem weiten herrlichen Gottesdome, wo uns Niemand hört als der Höchste, der in mein Herz sieht und weiß, wie treu und ehrlich ich es meine — kneifen Sie mich nur weiter, Fräulein Agathe! — hier endlich habe ich den Muth, mich Ihnen zu Füßen zu werfen und . . .”

Ein Krachen und brechen. Dr. Eugen Wurm hatte bei seinem exstatischen[sic! D.Hrsgb.] Fußfall eine der leicht aufgenagelten Latten herausgebrochen und außerdem die Verbindung der Kanzel mit der Kiefer gelockert, an deren Stamme sie errichtet war. Ein heftiges Schwanken — dann ein Schrei &mdash, — und die Jagdgesellschaft hing festgeklammert an der Kiefer. Die Kanzel unter ihnen war zusammengefallen — und drüben setzte der Bock in weiter Flucht zu Holze.

Fräulein Agathe Kaßner ließ sich sofort herab. Als Tochter eines waidgerechten Jägers hatte sie keinen Sinn für die Komik der Situation und zunächst auch für nichts Anderes. Sie dachte jetzt nur daran, daß der Bock vergrämt worden war und daß Papa sie nun auslachen würde wegen dieses Tölpels. —

Und ungefähr wie „Tölpel!” lautete es auch, was Dr. Eugen Wurm in seiner luftigen Höhe zuletzt noch zu hören bekam.

„Uebermäßig gescheidt bist Du ja nie gewesen, mein Junge — obwol oder vielleicht gerade weil Du Doctor der Giftmischerei und verwandten Wissenschaften bist. Aber wenn Du einer Jägerstochter Deine Liebeserklärung beim Ansitz auf einer Kanzel machst . . .”

Wiederum hob der Forstassessor Semrau die Schultern, um sie dann jäh fallen zu lassen, zugleich mit den erhobenen Armen.

Der Apotheker war heute noch empfindlicher als gestern; die linke Hand konnte er zwar auf dem Knie nicht spreizen, weil diese Hand reichlich mit Heftpflaster beklebt war. Die Rechte hatte er sich überhaupt verknaxt und trug sie in der Binde. Dafür äußerte er sich umso heftiger:

„Das ist Alles Unsinn — verstehst Du? — was Du gestern und heute hingeredet hast! Ein Mädchen, das einen Mann liebt, schaut nicht nach so einem dummen Bock aus, wenn von ihrer Liebe die Rede ist —”

„Das meinst Du, der keine Ahnung hat, was so ein Ansitz für ein waidgerechtes Herz bedeutet!”

„Die läßt diesen Mann nicht zwischen Himmel und Erde hängen —”

„Na, sollte sie Dich vielleicht 'runterschütteln wie eine reife Pflaume!?”

„Und vor allen Dingen sagt sie nicht „Tölpel” zu solchem Manne!”

„Weshalb nicht, mein Jungen — wenn man einem Mädchen mit so einem schlagenden Beweis von subjctiver Dummheit kommt — — — aber laß Dich nicht stören, da ist eben Jemand in Deinen Giftladen gekommen.”

Dr. Eugen Wurm trat aus dem Privatkomptoir in die Apotheke.

„Fräulein Agathe —” stammelte er unter lebhaftem Farbenwechsel.

„Guten Tag, Herr Doctor,” hauchte die Kleine. „Darf ich vielleicht für fünfzig Pfennig Heftpflaster bitten?”

„Heftpflaster — sehr wohl. Aber Sie haben sich doch nicht ernstlich wehgethan —?”

„Nein — so gut wie gar nicht. Ich — ich bin eigentlich auch nur gekommen, um Sie um Entschuldigung zu bitten. Ich war recht unfreundlich . . . es war wirklich nur wegen des Rehbocks und in dem allerersten Aerger. Ich habe ganz bestimmt gedacht, Sie würden noch zum Frühstück zu uns kommen. Wie Sie dann nicht kamen — habe ich mich sehr geängstigt und gegrämt und . . . die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen und deshalb . . .”

„Was —!” jauchzte Dr. Eugen Wurm mit frohbewegter Stimme, indem er hinter dem Ladentisch hervor auf sie zustürzte und ihre beiden Händchen ergriff, die sie ihm gern überließ. „Sie haben sich gegrämt und die Nacht nicht geschlafen — um mich!? Um mich, Fräulein Agathe!? Oh — — oh Fräulein Agathe — in diesem weiten herrlichen Gottesdome . . .”

Glücklicherweise kam Dr. Eugen Wurm nicht weit mit dem Unsinn, seine Giftbude als einen Gottesdom anzusprechen. Fräulein Agathe Kaßner lehnte ihr Reinettengesichtchen an seine Schulter — und so hatte die subjective Dummheit doch gesiegt.

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