Die See-Cur.

Strandskizze von Teo von Torn.
in: „Agramer Zeitung” vom 23.07.1901,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 24.07.1901,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 28.07.1901,
in: „Badische Presse, Unterhaltungsbeilage” vom 28.07.1901,
in: „Kieler Zeitung” vom 01.08.1901,
in: „Güstrower Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 27.07.1902,
in: „New Ulm Post” vom 19.11.1920


Käthe Wendring hatte es sich in ihrer Sandburg bequem gemacht. Gegen den Protest ihrer Governeß, Miß Lighton, hatte sie sich der weißen Lederschuhe sowie der Strümpfe entledigt und wühlte die nackten, rosigen Füßchen tief in den warmen Sand. Dann kuschelte sie sich behaglich mit dem Rücken gegen die von Bastmatten geschützte Wand und vertiefte sich in den Band „Tauchnitz Edition”, den ihr Miß Lighton jeden Nachmittag in die Hand zu drücken pflegte — gleichviel ob man in der heimatlichen Villa zu Hamburg-Uhlenhorst oder, wie jetzt in dem kleinen Ostseebade war, in welches eine unerforschliche Laune des Herrn Generalconsuls Wendring Fräulein Käthe für die Saison verschlagen hatte.

Es war zur Zeit der Mittagssiesta — jene Stunde, in der jeder Badegast sich vornimmt, noch selbigen Tages abzureisen, sofern der liebe Gott ihm über den Sonnenstich und die dräuende Auflösung in den zweiten Aggregatzustand gnädiglich noch einmal hinweghelfen würde. Der Mensch kann aber viel aushalten, wenn er es zu seiner Erholung aushält.

Zur Zeit der Mittagssiesta wagt selbst die See kaum zu athmen in der vibrirend heißen Luft. Langsam, schwerfällig und ohne ein einziges Schaumkrönchen wälzen sich die lichtgrünen Wellenketten gegen den Strand, deponiren zur Noth eine blanke Qualle auf das weiße, im Sonnenbrand flimmende Ufer, um dann wie matt und erschöpft zurückzusinken. An allen Strandkörben und Basthütten sind die Marquisen herabgelassen — und jegliche Creatur sucht einen schattigen Platz und einen kühlen Traum.

Wenn Käthe Wendring um diese Stunde zu lesen vermochte, so lag das einmal an der Frische und Unverwüstlichkeit ihrer achtzehn Jahre und zum andern auch an einem gewissen Eigensinn. Wenn alle wie ausgerissene Winterlevkojen herumwankten, so hielt sie sich extra tapfer und war im stande, noch ein Tänzchen anzuregen — und wenn alles ausgelassen war, dann kam es vor, daß sie sich zurückzog. Sie hatte früh ihre Mutter verloren, und obwohl der Generalconsul im Grunde ein energischer Herr war, hatte seine sorgende Zärtlichkeit aus seinem Töchterchen doch ein capriciöses Geschöpfchen gemacht, mit dem schwer umzugehen war. Bei aller schwärmerischen Liebe, mit der sie an ihrem Vater hing, konnte dieser bei ihr eigentlich nur dann etwas erreichen, wenn er ungefähr das Gegentheil von dem anregte, worauf er factisch hinauswollte.

Miß Lighton war — von der Last ihrer erzieherischen Aufgabe ebenso ermattet, wie von der Mittagshitze — fest eingeschlafen. Die langen Gliedmaßen hingen ihr, wie man so sagt, zum Abfallen schlaff um den sehr übersichtlichen Körper, und dem halboffenen Munde entrangen sich mit wachsender Gewalt tiefe, rasselnde Schnarchtöne.

Plötzlich geschah etwas Unerhörtes. Der Boden des Sandburg sackte ein — kühles Wasser sprudelte auf — — und in demselben Moment senkte sich die Wand, an welche Miß Lighton ihren Oberkörper lehnte, so schnell, daß die würdige Dame hintenüber fiel und einen Moment lebhaft mit den Beinen in der Luft herumfuchtelte.

Die Damen retteten sich kreischend aus der Ueberschwemmung und hatten sich noch nicht von ihrem Schreck erholt, als der eingestürzte Sandhaufen sich bewegte und ein Mann aus ihm auftauchte.

„Oha — —” stöhnte er verblüfft und richtete sich langsam so weit auf, bis er in den Knieen hockte, dann strich er sich mechanisch den Sand aus dem kurz geschorenen Haar und sah aus seinem runden, von Anstrengung und Schreck gerötheten Gesicht so überwältigend komisch auf die beiden Exmittirten, daß Käthe Wendling hell auflachte. Nicht so Miß Lighton. Als sich ihr der Urheber des Unfalles präsentirte, kaute sie in ihrer schönen Muttersprache eine ganze Anzahl heftiger Vocabeln und schob dann unter lebhaften Gesticulationen den Steg zum Hotel hinauf.

Ejnar Lundström sah ihr zerknirscht nach und richtete dann den Blick seiner gutmüthig durchtriebenen blauen Augen auf Käthe, welche sich immer noch vor Lachen ausschütten wollte. Ohne seine Stellung zu verändern, sagte er schleppend und mit den scharfen s-Lauten des nordischen Dialektes:

„Ich glaube, das habe ich wieder einmal wunderssön gemacht, Fräulein Wendring —”

„Allerdings,” lachte das junge Mädchen, „das haben Sie sehr schön gemacht! Aber —,” fügte sie hinzu, indem sie sich zum Ernst zwang, „nun möchte ich doch wissen, wie Sie eigentlich dazu kommen, uns unter Wasser zu setzen und den Burgfrieden zu brechen, he —?`”

Ejnar Lundström hob bedeutungsvoll die Schultern und sackte dann wieder auf die Kniee zurück.

„Wie soll ich Ihnen das bessreiben, Fräulein Wendring — ich hatte so viele Langeweile in meiner Burg nebenan, und da habe ich eine Cisterne anlegen wollen — —”

„Aber doch nicht bei uns!”

„Ganz richtig — bei Ihnen nicht — es war eben eine Versehung, jawohl.”

„Das ist aber merkwürdig — und gerade da haben Sie uns angebohrt, wo Miß Lighton saß — —”

„Das war Zufall, Fräulein Wendring,” betheuerte er treuherzig, indem er eine Hand aufs Herz legte und mit der anderen sehr eifrig den Sand aus seinem Hemdkragen wischte. Dann richtete er sich umständlich auf, klopfte den weißen Flanell seines Strandanzuges ab und warf einen forschenden Blick nach dem Hotel, wohin Miß Lighton einen so stürmischen Abgang genommen hatte.

„Meinen Sie, daß die Miß lange verhindert sein wird, Fräulein Wendring?” fragte er, indem er den runden Kopf etwas auf die Schulter neigte und die Augenbrauen hochzog.

„Ach so —” erwiderte das junge Mädchen, indem es in aufdämmernder Erkenntniß langsam mit dem Kopfe nickte, „also darauf will es hinaus!”

„Wenn Sie nichts dagegen haben — Sie wissen, daß ich Ihnen so viel 'was zu sagen habe — —”

„Gar nichts haben Sie mir zu sagen, verstehen Sie?” rief das junge Mädchen erröthend. „Außerdem drehen Sie sich gefälligst mal gleich um, damit ich mich anziehe!”

Whrend Ejnar Lundström sich zögernd und mit einem verschmitzten Ausdruck von Bedauern abwandte, kauerte Käthe Wendring nieder und zog hastig Strümpfe und Schuhe an. „Wissen Sie,” schalt sie dabei, „das war wieder einmal eine Ihrer Feigheiten! Pfui, wie kann man so feige und hinterlistig sein! Sie sollen sich nicht umdrehen, habe ich gesagt, verstanden? Ich werfe Ihnen Sand ins Gesicht!”

„Oha — bitte nicht! Davon habe ich noch genug. Aber ich muß mich doch vertheidigen, wenn Sie mich so sselten,” erwiderte er, indem er sich abwandte und an seiner Burg die Sturmflagge zog. Und zwar geschah das nicht nur wegen des Kriegszustandes, in dem er sich eben befand. Das blendende weißliche Blau des Horizonts hatte sich an einer Stelle leicht verdunkelt — über die See kam plötzlich eine Kühlte auf.

„Wieso bin ich feige?” fragte er dann. „Weil ich nicht Tauben ssießen mag? Lassen Sie Adlers fliegen, Fräulein Wendring, oder — te te, wie heißt das Vogelchen, welches Hühner frißt und so — — Habicht! Ganz richtig Habicht! Lassen Sie Habicht fliegen, und ich werde immer los ssießen. Sind Sie fertig, Fräulein Wendring?”

„Nein!” rief diese schroff, da sie mit den letzten Knöpfen ihrer Stiefelchen nicht zurechtkommen konnte.

„Ssön, dann kann ich weiter reden — ich vertheidige mich nämlich viel besser, find' ich, wenn Sie mich nicht ansehen. Also weshalb bin ich noch feige? Weil ich nicht Caroussel fahren will? Das ist kein ssönes Vergnügen, Fräulein Wendring. Immer los rum — da wird mir kringelig und sslecht dabei, und wenn mir sslecht wird, dann sehe ich nicht ssön aus, und wenn ich nicht ssön aussehe — — weshalb lachen Sie, Fräulein Wendring?”

„Ueber Ihre ,Ssönheit'! Nun aber genug davon.” Das junge Mädchen erhob sich elastisch und stäubte den Sand von ihrem Kleide. „Beweisen Sie mir einmal, daß Sie Muth haben —”

„Oh, Sie werden noch sehen, was ich Courage habe!” erwiderte er eifrig, indem er seinen Strohhut aufsetzte und ihn mit einem energischen Klaps ins Genick rückte.

„Gut — es weht eine Brise auf. Sehen Sie das?”

„Jawohl; in einer halben Stunde gibt es Blitz und Donner.”

„Wollen Sie eine Segelpartie mit mir machen, Herr Lundström?”

Der junge Mann verzog das Gesicht zu einer kritischen Grimasse. Während er beide Hände langsam in die weiten Taschen seiner Beinkleider schob, warf er einen prüfenden Blick nach dem Himmel und dann über die See, deren dunkler gefärbte Wogen jetzt mit starkem Rollen heranrauschten und weiße Schaumkämme trugen. Dann sah er auf Käthe, die ihn aus ihren braunen Augen erwartungsvoll und triumphirend anblitzte.

„Das wird sslecht gehen, Fräulein Wendring,” sagte er bedächtig. „Um halb vier wollte mein Vater ankommen — und wenn ich dann ertrunken bin, ist ihm das ganz gewiß unangenehm.”

„Ist das Ihre Courage? Uebrigens erwarte auch ich meinen Vater — die Partie ist also gleich. Wollen Sie, oder nicht!”

Ejnar Lundström zögerte noch einen Augenblick, indem er mit kundigem Auge das aufsteigende Böenwetter taxirte. Dann gab er seiner „Sonnenblume” wieder einen energischen Klaps und ruckte mit den Schultern wie unter einem starken Entschluß.

„Well — fahren wir!” sagte er mit einem versteckten Lächeln und schritt dann voran nach dem schwanken, weit in die See hineingebauten Landungssteg, an dessen äußerstem Ende die Boote schaukelten.

*           *           *

Das Gewitter hatte nur wenige Minuten gedauert, Es war eine jener kurzen, aber schweren Entladungen, welche an der See so häufig sind und die Schwüle eigentlich nur noch drückender machen. Die Tritonen und Nereiden aber werden von ihnen gewaltig aufgeregt. Die See färbt sich tiefgrün und ultramarinblau. Wie gepeitscht tosen die Wogen schäumend durcheinander, das Geschrei der mitten durch die Wellenberge schießenden Möven übertönend — ein Hexensabath, der in seiner grotesken Gigantik schon vom sicheren Strande aus sich einem auf die Nerven legt. Um wieviel mehr auf dem Wasser selbst, und in einer Nußschale, wie sie Ejnar Lundström über die tanzenden Berge und Thäler hinwegsteuerte.

Gleich bei der ersten Sturmböe war der Klüver mit sammt dem Baum über Bord gegangen. Das Boot führte nur noch ein kleines lateinisches Segel — aber wie der junge Schwede mit diesem Stückchen Leinwand operirte, das erregte die laute Begeisterung der „seebefahrenen” Ortsbewohner, welche auf die Nachricht von der tollkühnen Fahrt mit dem Gros der Badegäste am Strande zusammengelaufen waren. Und die Zuversicht dieser Leute beruhigte schließlich auch die unglückliche Miß Lighton etwas, welche jammernd am Strande auf- und abgelaufen war, wie eine Henne, der ein untergeschobenes Entenküchlein zu Wasser gegangen ist.

Lundström hielt das Segel mit ehernen Muskeln; ebenso führte die Linke das Steuer und dabei verrieth nicht ein Zug in seinem runden Gesicht irgend eine innere Spannung. Die einzige Veränderung an ihm war, daß die durchtriebenen blauen Augen des jungen Mannes einen Ausdruck schalkhafter Zärtlichkeit annahmen, wenn sie auf Käthe Wendring niederschauten, welche zu seinen Füßen niedergekauert war und ihr Köpfchen mit dem nassen, aufgelösten Blondhaar angstvoll an seinen Knieen barg. Als die erste Gewalt des Wetters gebrochen war und man sich in dem Brausen der Wogen einigermaßen verständigen konnte, bat sie ihn flehend, doch schnell zurückzufahren.

„Das hängt nicht ganz von mir ab, Fräulein Wendring,” sagte er, indem er kunstgerecht das Segel vor den Wind warf, und dann lächelnd zu ihr niederschaute. „Die See ist eigensinnig, und dagegen ist sswer was zu machen — nicht wahr, Fräulein Wendring?”

„Ja, Herr Lundström —” erwiderte sie zitternd. Dabei sah sie auf und erröthete unter seinem Blick, aber sie schmiegte sich noch fester an ihn.

„Ich findes es jetzt übrigens ganz ssön so — bis auf das Ssaukeln; das ist fast so unangenehm, wie das Carousselfahren — nicht wahr, Fräulein Wendring?”

„Ja, Herr Lundström.”

Das klang so kindlich willenlos, daß Ejnar schier Parterre-gymnastische Uebungen machte, um wenigstens eine Hand frei zu bekommen, und sie zärtlich auf das Köpfchen zu legen, das nicht mehr eigensinnig war. Aber es ging nicht, trotz des Sonnensegens, welcher eben durch die Wolken brach, und so intensiv war, daß er bis tief in Ejnar Lundströms Herz hinein leuchtete.

*           *           *

Als der Herr Generalconsul Wendring mit seinem Töchterchen auf der Hotelterrasse saß und seinen Freund Axel Lundström aus Malmö nebst Sohn erwartete, kam er aus dem Verwundern gar nicht mehr heraus.

Sein Töchterchen hatte keinen eigenen Willen mehr. Sie sagte zu allem ja — aber auch zu allem — selbst, als er sie ganz vorsichtig und so von hinten herum fragte, ob sie was dagegen hätte, wenn er den jungen Lundström als seinen künftigen Schwiegersohn betrachte . . .

— — —