Assessor Delorges.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Der deutsche Correspondent” vom 24.03.1901 und
in: „Moderne Kunst” vom April 1902

(Bei der Lektüre dieser Humoreske sollte dem Leser tunlich Schillers Gedicht „Der Handschuh” gegenwärtig sein.)


„Sie können aber großartig laufen, Herr von Weltzow —”

„Nicht wahr? . . . . Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß! Uebrigens haben Sie mich doch um verschiedene Nasenlängen geschlagen, mein gnädiges Fräulein!”

Ada Berghoff verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln und zuckte die Achseln. Dabei ordnete sie mit beiden Händen an dem wuchtigen braunen Haarknoten, welcher sich bei der eiligen Flucht vor dem auf der Wiese stampfenden Ungethüm stark verschoben und gelockert hatte. Während sie auf dem Rande des Feldgrabens ausruhte, lehnte der Assessor Klaus von Weltzow an dem aus kräftigen Buchenästen gezimmerten Gitterzaun und verfolgte mit Spannung, wie der Stier sich zu dem rothbebänderten Strohhut stellte, den der Assessor bei der großen Retirade verloren hatte.

Weltzow klemmte sein Monocle ein und neigte den Kopf auf die Seite — wie der Preisrichter, welcher ernst und gewissenhaft die Chancen eines Ringkampfes taxirt.

„Es hat den Anschein, als wenn das Thierchen meinen Chapeau nicht annehmen wollte,” bemerkte er interessirt, „was meinen Sie, gnädiges Fräulein — — — da, sehen Sie, es erweist ihm lediglich eine Reverenz — wie dem Hut des Landvogts — —”

„Ich bin der Meinung, daß Sie dem Thier sehr verächtlich vorkommen.”

„Hm — allerdings; es macht so runde, herausfordernde Augen, als wenn es sagen wollte: Kommen Sie 'mal ein bischen her, meine Herrschaften! Wissen Sie — ich bin aber nicht dafür, daß wir der freundlichen Einladung Folge leisten.”

Damit ließ er sich gemächlich neben dem jungen Mädchen nieder, welches ostentativ von ihm abrückte und mit beiden Händen an dem dürren Grase zupfte, das den Feldrain überwucherte. Das nahm sich schrecklich nervös aus — aber Klaus von Weltzow folgte diesen heftigen Bewegungen mit einer Ruhe, als handelte es sich um ein kleines Frühstück für den schnaubenden Beherrscher der Wiese, welcher eben — mehr aus Unachtsamkeit wie Böswilligkeit — dem Strohhut den Boden durchgetreten hatte.

Der Assessor bemerkte dieses Faktum mit einem langgezogenen bedauernden O——h!

„Nun ist er hin — er hat ihn durchgerissen, er liegt zu seinen Füßen, als wär's ein Stück von mir. Sehen Sie, mein gnädiges Fräulein,” fügte er philosophisch hinzu, „das wäre wahrscheinlich auch unser Schicksal, wenn wir in dem Greifenspiel mit dem munteren Wiederkäuer minder behende gewesen wären.”

Ada Berghoff zuckte abermals die Achseln. Der überlegene Ton dieses Menschen, den er anscheinend in allen Situationen beibehielt, reizte sie maßlos. Es waren kaum vierzehn Tage her, daß der Zufall sie in dieser Sommerfrische zusammengeführt — und kein Tag verging, ohn daß sie sich über ihn zu ärgern gehabt. Er schien es direkt darauf anzulegen, sie zu reizen und sich ihr, in aller formellen Liebenswürdigkeit, von der unsympathischsten Seite zu zeigen. Und das war Ada Berghoff nicht gewohnt. Die einzige Tochter des bekannten Millionärs und Großindustriellen hatte, trotz ihrer noch nicht ganz vollendeten achtzehn Jahre, bereits die feste Ueberzeugung, daß sämmtliche Männer zwischen zwanzig und vierzig die Pflicht hatten, ihr gegenüber so „nett” zu sein, wie sie nur konnten. Und nun gar ein Mensch, wegen dessen sie heute, wie schon häufig, Miß Kingsley beschwindelte, um — — um — sich ungestörter über ihn ärgern zu können. Es war überhaupt empörend.

„Sie haben eine erbärmliche Figur gemacht!” rief sie, indem sie sich jäh erhob und die Grashalme von ihrem Kleide klopfte.

Wieder neigte der Assessor den Kopf nachdenklich zur Seite.

„Daß Sie das in der Eile bemerken konnten, ist eigentlich kolossal, mein gnädiges Fräulein, aber meinen Sie wirklich, daß ich mich zwischen den Hörnern des Stieres vorteilhafter gemacht hätte? Ich bin eigentlich schon seit Jahren jeder Luftgymnastik abhold und weiß nicht, ob ich — sofern mir ein Absprung überhaupt beschieden gewesen wäre — die vorgeschriebene turnerische Kniebeuge noch mit der nötigen Elastizität und Grazie exkutirt hätte.”

Dabei hatte er sich erhoben und sah mit himmlischer Ruhe in das spöttisch verzogene Gesicht der Kleinen. — „Und Ihr Hut?” fragte sie.

„Erinnern Sie mich nicht an diese bodenloseste aller „Behauptungen”. Ich verzichte auf ihn.”

„Aber Sie werden mich doch nicht ohne Hut in's Dorf begleiten wollen. Holen Sie ihn — ich wünsche es!” Das klang so eigensinnig, daß der Assessor sich abwenden mußte, um ein übermüthiges Lächeln zu verbergen.

Ada Berghoff zitterte vor Aufregung und Ungeduld. Was würde er thun? In ihrem Köpfchen spukte noch die überspannte Romantik der Pensionsjahre, pointirt durch ganz seltsame Gedanken, die in den letzten Tagen über sie gekommen waren — — namentlich Abends, wenn sie vor dem Schlafengehen an dem niedrigen, von blauen Klematis umrankten Fenster saß. Unter Herzklopfen träumte sie dann, den Rechten, den Einzigen und Unvergleichlichen gefunden zu haben — — leider aber hatte er die Züge dieses schrecklichen Menschen — die lustigen braunen Augen, die von einem tiefen Schmiß verunzierte Nase und den moquanten Mund des Assessors von Weltzow. Leider! Mit den erwähnten Aeußerlichkeiten hätte sie sich wohl abgefunden, ja — sie gestand sich sogar, daß sie ihr gefielen — — sehr! Alles Andere aber war nicht nach ihrem Traum. Dieser Mensch hatte so gar nichts Kniefälliges, und wie er mit ihr sprach, erweckte er das Empfinden, als würde er sie im nächsten Moment auf den Arm nehmen und verlangen, daß sie „Papa” zu ihm sage. Und nun heute diese unritterliche Flucht! Er, mit dem sie den Begriff des „Unvergleichlichen” verband — in ungeordnetem Rückzuge vor einem Rindvieh!

Klaus von Weltzow ließ sein Monocle fallen, that einen tiefen Seufzer mit einem Blick gen Himmel, wie Jemand, der zum letzten Male athmet im rosigen Licht, und machte eine Handbewegung, die frei nach Hutten sagte: Ich wag's! — „Wohlan, mein gnädiges Fräulein,” sagte er, „ich werde meinen zertretenen Hut holen. Nicht um meinetwillen oder des Hutes wegen! Ich schwör' es Ihnen! Der Hut ist mir gleichgiltig — und wenn ich dieses junge Leben an ihn wende, so geschieht es Ihnen zu Liebe und damit Sie sehen, welcher Thaten ein preußischer Vicefeldwebel der Reserve fähig ist, wenn er gereizt wird. Bitte — funkeln Sie mich nicht so böse an — es ist mein heiliger Ernst: ich vollbring' es! Nur zwei Bedingungen stelle ich: Gelingt es mir, die rohe Kraft des Wächters meines Hutes zu überlisten, so müssen Sie gestatten, daß ich das Objekt des ungleichen Ringens auch trage, gleichviel in welchem Stadium der Verwüstung es sich befindet — es sei denn, daß die Ortspolizei dies inhibirt.”

War es die Bekennerpose des Assessors mit der auf der Brust gespreizten Rechten oder die Eventualität, den im Uebrigen so patenten Mann mit einem durchgestoßenen Strohhut einherwandeln zu sehen — — jedenfalls war jetzt an Fräulein Ada Berghoff die Reihe, sich abzuwenden. Ihre Schultern zuckten verrätherisch. Klaus von Weltzow fuhr jedoch unbeirrt fort:

„Für den anderen Fall aber, mein gnädiges Fräulein, daß das böse Thier mir irgendwelche Hindernisse in den Weg legen sollte, bitte ich Sie, sich abzuwenden — denn es wird fürchterlich. Ich werde keinen Pardon geben, und da es wahrscheinlich ist, daß ich eventuell auch keinen bekomme — — — — ich sehe mit Betrübniß, daß Sie lachen — der Moment ist ernst! — Hier deponire ich meine Uhr, ein mir theures Erbstück, das ich nicht mit in den Kampf nehmen will. Hier mein Portemonnaie, dessen Inhalt ich für die guten Leute bestimme, die sich mit dem Aufsammeln meiner einzelnen Bestandtheile, soweit dieselben mit bloßem Auge noch erkennbar sind, zu befassen haben werden. Dann meine Brieftasche — — diese aber kann ich nur in Ihre Hand legen, Fräulein Ada, — nehmen Sie! Es ist da ein Bild, das ich vorgestern aus Miß Kingsley's Album gemaust — ob sie's schon gemerkt hat, weiß ich nicht — jedenfalls will ich mit reinem Gewissen aus dieser Welt scheiden. Deshalb überreiche ich Ihnen auch des Weiteren den linken Handschuh, welchen Sie neulich vermißten, diese weiße Schleife von Ihrem Sonnenschirm und schließlich — nein, bitte, schlagen Sie mich nicht! — die Ansichtskarte an Ihre Freundin in Elberfeld, welche ich bewußt unterschlug, weil sie Ihren Namen trägt und Sie die Marke selbst aufgepappt haben — — So — und nun rasch, ehe das Rindvieh wiederkehrt!” — —

Der Stier hatte sich thatsächlich etwas zurückgezogen, und zweifellos wäre es dem Assessor geglückt, die formlosen Reste seines Strohhutes zu erwischen, wenn nicht ein gellender Schrei das Thier darauf aufmerksam gemacht hätte, daß neben dem frevlen Manne auch die junge Dame mit der rothseidenen Bluse wieder sein Gebiet betreten. Mit gesenktem Kopfe galoppirte er heran. Da ihm die Beiden aber wiederum — diesmal allerdings mit knapper Noth — entwischten, spießte er wenigstens den Hut auf und glotzte unter diesem seltsamen Hauptschmuck wüthend auf das Paar — das sich fest umschlungen hielt.

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(Der unterstrichene Textteil ist nur in der Fassung der Zeitschrift „Moderne Kunst” enthalten. D.Hrsgb.)