Eine verantwortungsvolle Mission.
Von Teo von Torn.
in: „General-Anzeiger Altona” vom 28.10.1902
Wenn Hans Detlev von Röer sonst in seine schmucke Feldjägerleutnant-Uniform stieg, war er ein „gehobener” Mensch. Es soll damit nicht gesagt sein, daß er dann den „Buntkoller” bekam, wie mancher seiner Kameraden. Mit nichten. Er war ein natürlich empfindender, stämmiger Marschensohn und ein guter Kerl — zu gut vielleicht , um sehr gescheidt zu sein.
Mit diesem letzteren Umstande hing es auch zusammen, daß Hans Detlev heute in minder gehobener Stimmung war, als er sich in den zeisiggrünen Waffenrock einknöpfte.
Er sollte ins Examen steigen. Und zwar zum zweiten Male schon.
Der alte Herr auf Schloß Röer in Holstein hatte es sich mit friesischem Eigensinn in den Kopf gesetzt, in seinem zweiten Sohne einen eigenen Oberförster sich zu erziehen. Und dieser Sohn hatte im Allgemeinen auch nichts dagegen, soweit es sich um die Ausübung des edlen Waidwerks handelte, dem er con amore ergeben war. Leider aber wurden für die regelrechte forstliche Laufbahn noch allerhand andere Sachen verlangt: Pflanzenkunde, Bodenanalyse, meteorologische Berechnungen etc. etc. — und vor allem auch ein Stück Juristerei, das gut und gern für ein halbes Dutzend handlicher Bürgermeister langen könnte.
Das war stärker als Hans Detlev. Seine Wissenschaften hatten zur Noth für das Offiziers-Examen ausgereicht. Sein erstes forstliches Examen hatte den Herren Professoren soviel scherzhafte Ueberraschungen bereitet, daß er es auf allgemeines Verlangen wiederholen sollte. Wenn er auch persönlich wenig Neigung hatte, den gelehrten Herren Vorstellungen zu geben, so blieb ihm unter dem Drucke der väterlichen Willensmeinung doch nichts Anderes übrig.
Heute war der zweite und der letzte Termin.
Hans Detlev stülpte den blinkenden Helm auf das blonde, von trüben Gedanken erfüllte Haupt. Und als er aus der Thür ging, hätte sein Wichier beinahe eins ins Genick bekommen, da der gemüthsrohe Kerl — übrigens auch einer von der Wasserkante — mit hochgezogenen Augenbrauen und seltsam verkniffenen Gesicht vor sich hinmurmelte:
„Hest'm fleigen seh'n — —?”
Die Schinderei war im besten Gange.
Manche Antwort des Kandidaten Jobses hatte bereits das klassische Schütteln des Kopfes erregt — zunächst machte der Professor der Chemie „Hm, hm,” die Anderen secundum ordinem.
In der Waldkunde dagegen ging die Sache wesentlich besser. Aber was war das Eine für so Viele! Das Fünkchen von Hoffnung, das kaum entglommen war, erlosch, sowie Hans Detlevs verstörter Blick den Juristen streifte, der schon darauf lauerte, ihm mit der Gemeinde-Ordnung und dem Feld- und Polizeigesetz zu Leibe zu gehen.
Und eben erhob sich dieser fürchterliche Mann, als eine Störung eintrat.
Ein Depeschenbote — mit einem Telegramm an Herrn von Röer, Leutnant im reitenden Feldjägerkorps.
„Geben Sie nur her,” bemerkte der vorsitzende Geheimrath, recht unwillig ob der Störung. „Herr Leutnant von Röer befindet sich im Examen und darf hier direkt keinerlei Zuschriften empfangen.”
„Ich darf aber die Depesche dem Herrn Leutnant nur persönlich aushändigen — gegen Quittung,” erwiderte der Jünger Krätke's(1) eigensinnig. „Es handelt sich um ein Staatstelegramm.”
Ein Staatstelegramm — —!
Donnerwetter nochmal — das war was Anders.
„Also wollen Sie dann von der Depesche Kenntniß nehmen, Herr Leutnant,” bemerkte der Geheimrath verbindlich, „und uns den Inhalt mittheilen — à discretion natürlich. Wir sind gemäß der Prüfungsordnung gezwungen, das zu verlangen.”
Hans Detlev unterschrieb die Quitung.
Nachdem er die Depesche gelesen, mußte er an sich halten, um sich der würdigen Corona von Professoren und den ob der Unterbrechung aufathmenden Leidensgefährten nicht in der Rolle eines tanzenden Derwischs zu produzieren.
Er beherrschte sich, klappte die Hacken zusammen und überreichte das Dokument:
„Sie haben sich sofort zur Bahn zu begeben und mit der schnellsten Verbindung nach Elbing zu reisen, wo Ihnen auf dem Bahnhofe eine Couriertasche ausgehändigt werden wird. Dieselbe ist unter Vermeidung jeglichen Aufenthaltes und unter reglementsmäßiger Verantwortlichkeit nach Kiel zu bringen und bei dem unterzeichneten Amte einzuliefern. Das Hofamt.”
Der Herr Geheimrath verbeugte sich unwillkürlich, die anderen Herren desgleichen.
Das Examen war aus für Hans Detlev von Röer.
Der Jurist bemerkte zwar, daß er gern noch ein paar Fragen aus seinem Spezialgebiete an den Herrn Examinanden gerichtet hätte, aber angesichts der verantwortungsvollen Mission, die keinen Aufschub erleiden dürfe, verzichte er gern darauf. Es unterliege für ihn keinem Zweifel, daß der Herr Examinand bei seinen gewissenhaften Studien über den Waldbau auch die einschlägigen Rechtsfragen nicht vernachlässigt haben dürfte.
Der Chemikus gab seinem Bedauern Ausdruck, daß die hohe Aufgabe ihm die Möglichkeit nehme, einige Irrthümer des Herrn Examinanden, die bei dessen bedeutenden Kentnissen im Waldbau lediglich auf Verwirrung oder Indisposition zurückzuführen seien, nachzuprüfen. Es unterliege aber auch für ihn keinem Zweifel . . . .
Und da auch sonst keine Zweifel geäußert wurden, so konnte der Herr Geheimrath den Examinanden mit einem freundlichen Händedruck und der Mahnung verabschieden, daß er sich in der sorgfältigen und umsichtigen Erfüllung seiner Aufgabe durch irgend welche Befürchtungen nicht beirren zu lassen brauche.
Hans Detlev hätte dem alten Herrn liebend gern einen Kuß gegeben — aber einmal schickte sich das nicht und zum Anderen hatte er auch keine Zeit mehr.
Er eilte nach Hause, bemächtigte sich seines Dienstrevolvers, beutelte den bis zur Maulsperre erstarrten Wichsier bei beiden Ohren und stürmte zur Bahn.
* * *
Der Dienstrevolver war nicht etwa blos eine Formsache. Mit dem Moment, da Hans Detlev die ziemlich schwere Couriertasche ausgehändigt erhalten, hatte er diese gemäß der Instruktion für die reitenden Feldjäger mit seinem Leben zu vertheidigen.
Nur über seine Leiche durften Unberufene an den Inhalt der Tasche heran.
So hielt er denn während der ganzen vielstündigen Fahrt den einen Arm um die Mappe gelegt, den anderen griffbereit am Waffengurt.
Obwohl er in einem eigenen Coupé erster Klasse fuhr, fühlte er sich nicht sicher.
Wenn auf den Zwischenstationen irgend Jemand sich dem Coupé näherte, schreckte er auf und setzte sich in Vertheidigungsposition.
Selbst den Schaffnern traute er nicht. Da zeitweilig doch einer die Thür öffnete, ließ er den Zugführer rufen und machte diesen mit seiner verantwortungsvollen Aufgabe bekannt. Der Mann salutirte — und von dieser Minute an blieb der Courier unbehelligt. Die Passagiere wurden in die anderen Coupés vertheilt, und die Beamten beschrieben um die goldgeränderte Thür der ersten Klasse scheu einen großen Bogen, wenn sie auf den Stationen da vorbeizugehen hatten.
All das blieb natürlich auf die Stimmung Hans Detlev's nicht ohne Einfluß. Je länger die Reise dauerte, desto nervöser wurde er.
Die Sache war durchaus nicht vergnüglich. Für einen gewissenhaften Menschen war sie sogar ängstlicher und aufreibender als selbst ein Examen. Als bei einbrechender Dunkelheit das flackernde Deckenlämpchen im Coupé angezündet worden war, zog der Courier die Tasche noch fester an sich und hielt von nun ab den Revolver frei in der Hand — — —
So verharte er regungslos und mit angespannten Nerven und Muskeln bis endlich der Zug in Kiel einlief.
Hans Detlev verließ den Zug nicht eher, als bis der Stationsvorsteher herbeigerufen war. Bei diesem erkundigte er sich zunächst, wo das betreffende Hofamt untergebracht war, und beorderte eine geschlossene Droschke, die an einem versteckten seitlichen Ausgange des Bahnhofes zu halten hatte.
Erst dann wagte sich der erschöpfte Feldjäger mit seiner Tasche aus dem Coupé, bestieg den Wagen — — — und zehn Minuten später befand er sich tief aufathmend am Ziel.
Sein erster Courierdienst war vollbracht.
Ein Beamter empfing ihn, der dann bei einem höheren Beamten, der im Nebenzimmer arbeitete, anfragte, ob die Tasche aus Elbing sofort weiterbefördert werden solle.
„Nein —,” erwiderte man durch die Thür. „Die Tasche kann ausgepackt und der Inhalt über Nacht in den Keller gebracht werden. Aber kollationiren Sie — — zehn Pfund westpreußische Gutsbutter.”
— — —
Reinhold Kraetke (1845–1934), deutscher Staatssekretär des Reichspostamtes von 1901 bis 1917. [D.Hrsgb.]