Die Bazarpost.

Eine Humoreske.
in: „Neues Wiener Journal” vom 15.11.1902


Die Idee, welche die pikante kleine Baronin Lydia Malkow — das rothblonde Sprühteufelchen, der Schwarm und Verzug der ganzen Garnison — für den Casinobazar ausgehegt hatte, war nicht gerade neu.

Aber auf welchem Gebiete gibt es denn heutzutagte überhaupt noch neue Ideen! In der Dichtkunst, in der Musik, in der Malerei, ja selbst in der Mode — überall ist Ben Akiba zu Hause. Und nun gar auf dem so viel beackerten Felde geselliger Veranstaltungen!

Wie selbst das häßlichste Mädchen und der älteste Witz immer noch einen Reiz haben, nämlich den der Neuheit, wenn man sie zum erstenmale sieht beziehungsweise hört, kann auch eine minder originelle Idee beifällige Aufnahme finden, wenn sie irgendwo so unbekannt ist, wie Lydia Malkow's Bazarpost in dem Vergnügungsrepertoire der kleinen Garnison.

Wer die lebhafte, aus tausend kleinen Capricen zusammengesetzte junge Wittib einigermaßen kannte, für den unterlag es keinem Zweifel, daß sie sehr wohl auch etwas ganz Eigenes hätte austifteln können — wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte überhaupt Vieles nicht. So wollte sie beispielsweise den Major von Rehm nicht heiraten, den schmalzbacken poetischen Oberlieutenant Graf Hietzing auch nicht; am allerwenigsten aber den Rittmeister Kröner, diesen süffisanten widerwärtigen Menschen, den sie haßte, den sie mit ihren zehn rosigen Fingerchen längst schon erwürgt hätte, wenn das Scheusal nicht so unvernünftig groß und stark gewesen wäre.

Im Grunde war Leberecht Kröne daran schuld, wenn sie sich die Bazargeschichte diesmal ein wenig leicht gemacht hatte. Er hatte sie in den letzten Wochen derart geärgert und gereizt, daß ihre ganze Erfindungsgabe in hellen Zorn aufgebrodelt war. Sie konnte einfach nichts Anderes denken als die ungezählten Missethaten des dickfelligen, durch nichts aus seiner olympischen Ruhe aufzukratzenden, unausstehlichen Bären, der sie — und überhaupt alle Frauen — wie Päppelkinder behandelte.

Ja noch schlimmer! Auf dem Thée dansante bei Sülfelds, der die Saison eröffnet hatte, war er in aller Oeffentlichkeit mit der Behauptung hervorgetreten, daß ein jegliches weibliches Wesen von Natur aus eine gewisse verbrecherische Anlage habe — und als sie, Lydia Malkow, ihm darauf mit der stahlscharfen Frage ins Gesicht gesprungen war:

„Ich auch, Herr Rittmeister —?”

Da hatte er bedächtig den vierkantigen Schädel geneigt und laut und vernehmlich erwidert:

„Sie auch, Frau Baronin. Und ich werde Ihnen binnen heute und drei Monaten den Nachweis dafür erbringen.”

Man hatte darauf gelacht und allerhand mehr oder minder gute Scherze gemacht. Aber ihr war gar nicht zum Lachen. Auch jetzt noch nicht — obwohl doch schon mehr als ein Monat darüber hingegangen war, ohne daß sie silberne Löffel gestohlen, ihr Haus angesteckt oder einen Eisenbahnzug zum Entgleisen gebracht hatte.

Der Nachweis sollte ihm wohl schwer werden.

Und doch —

Sie ertappte sich darauf,daß sie ihr ganzes, kaum zweiundzwanzigjähriges Dasein nachprüfte — streng, grüblerisch, gewissenhaft. Die Nadeln, welche sie ihrer Miß dereinst in den Polsterstuhl gesteckt hatte, pickten ihr schmerzhaft in die Seele. Von der Chocolade, die sie als Kind gemaust hatte, bekam sie nachträgliche Congestionen. Sie ward schließlich so schreckhaft und nervös, daß sie alle ihre Handlungen auf Grund eines neugekauften Reichs-Strafgesetzbuches nachprüfte und zu verschiedenen Malen sogar schon von Handschellen geträumt hatte. In einer fürchterlichen Nacht hatte sie sich sogar auf dem Schaffot gesehen.

Danach war es vollkommen begreiflich, wenn sie den Rittmeister so schrecklich haßte und darüber keine Zeit fand zu originelleren Ideen.

Die Bazarpost war ja an sich auch eine sehr niedliche Sache. Hübscher jedenfalls als der öde Handel mit Brandmalereien, selbstgehäkelten Spitzen und italienischem Salat. Die Blumenstände mit den Fünf-Mark-Rosen und melancholischen Fuchsien nicht ausgenommen.

Das Postamt wurde denn auch wirklich der Clou des Abends. Hinter dem stilvoll hergerichteten Schalter waltete Lydia Malkow ihres fröhlichen Amtes als Annahmebeamter — das Postmützchen keck auf die bronzefarbenen Haarmassen gedrückt und die schlanke, biegsame Taille in der prall sitzenden blauen Uniform.

Der Verkehr war kolossal. Scherzhafte Briefchen und Telegramme wurden aufgegeben und gegen Erlegung der Gebühren von einer Schar munterer Briefträgerinnen an die Adressaten bestellt. Auch die Findigkeit ließ nichts zu wünschen übrig. War beispielsweise ein Eilbrief an „die Schönste auf dem Bazar” gerichtet, so war die betreffende Jüngerin Kraetkes(1) nicht im Geringsten im Zweifel, daß das Schreiben an sie selbst gerichtet war, und es verschwand in ihrer Tasche. So ging der postalische Betrieb stundenlang mit immer neuen Ueberraschungen.

Allmälig ließ die Erfindungsgabe der Baronin in dieser Richtung doch nach. Sie war etwas ermüdet und abgespannt. Dazu kam noch eins. Sie wollte es sich nicht gestehen, und doch war es so: mehr und mehr hatte sie die Unruhe überkommen darüber, daß der Rittmeister sich noch nicht ein einzigesmal an ihrem Schalter hatte sehen lassen.

Er war da; das wußte sie. Hatte er doch ziemlich ostentativ bei der dicken Oemich Blumen eingekauft. Ausgerechnet bei der Oemich! Es war, um in die Luft zu gehen! Die zudringliche Person, welche bei solchen Gelegenheiten immer mit ihren Cassenerfolgen protzte! Kunststück — wenn der Papa Regimentscommandeur ist!

Weshalb kam er nicht? Ob er sich schäme wegen seiner neulichen dummen Behauptung? Pah — der und schämen! Der war ja so dickfellig, so abgebrüht, so — so — —

Es war überhaupt zum Heulen. Und es fehlte auch nicht viel, so hätte Frau Lydia Malkow den winzigen Spitzenknäuel, welcher ihr als Taschentuch diente, gegen die schönen, feuchtschimmernden Augen gedrückt.

Aber sie faßte sich noch. Ihre kleinen Postschweden durften nichts merken. Außerdem mußte er ja doch kommen. Er mußte —! Sechs, nein sieben Stück postlagernder Briefe waren für ihn eingegangen. Die hatte er doch abzuholen — und wenn sie schließlich nach ihm schicken sollte.

Rittmeister Kröner kam nicht. Seit einiger Zeit war er überhaupt verschwunden.

Es wurde immer langweiliger hinter dem Schalter, denn auch die Briefträgerinnen hatten sich nach und nach verkrümelt. Es war dicht vor der angesetzten Souperstunde.

Da die Baronin sich unbeachtet wähnte, trat nun doch der winzige Spitzenknäuel in Function.

Lydia Malkow hatte überhaupt keine Worte für ein solches Benehmen — selbst wenn sie sich Jemand hätte offenbaren können, was nicht der Fall war. Sie war mutterseelenallein mit ihrem Zorn, mit ihrer Empörung, mit den sieben Briefen und einem Kummer, der ihr das Herz abdrückte.

Dazwischen fand sie aber doch noch Zeit, angestrengt darüber nachzudenken, wer wohl an diesen Ekel geschrieben haben mochte — und was!

Sie besah jeden der Briefe an allen Seiten und Ecken. Die Adressen zeigten verschiedene Handschriften. Damenhandschriften! Natürlich — sieben Damen hatten an ihn geschrieben. Sieben!!! Es war einfach schmachvoll, unwürdig! Wie kamen diese Personen dazu, an den Rittmeister Leberecht Kröner zu schreiben! Hatten sie denn keinen Stolz, daß sie sich mit einem Menschen befaßten, der bezüglich des weiblichen Geschlechtes solche albernen Behauptungen aufstellte?! Empörend!

Wahrscheinlich hatte man ihn noch angehimmelt. Es gibt ja Frauen, die nicht ein bißchen Zurückhaltung und Selbstgefühl haben. Sie hätte ja auch schreiben können. Aber nie — nie würde sie so etwas über sich gewinnen. Und nun gar an Den!

Wieder vergingen Minuten qualvollen Harrens.

Auf einen dieser Briefe richtete sie ihr besonderes Augenmerk. Der war sogar parfümiert. Mit einem schauderhaft süßlichen, aufdringlichen Parfüm. Da konnten nette Geschichten drin stehen! Und sie — sie mußte noch den postillon d'amour spielen — —

Nein! Das war zu viel verlangt. Das konnte ihr kein Mensch zumuthen. Mit einem krallenden Griff packte sie den Brief und — ritsch, ratsch — war das Couvert heruntergerissen. Sie fieberte ordentlich, als sie las.

Gleich darauf ließ sie das Papier sinken und sah sich tödlich erschrocken um. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:

„Gnädigste Frau Baronin, gleichviel welchen der an mich gerichteten sieben Briefe Sie unter Bruch des postalischen Amts- und des allgemeinen Briefgeheimnisses öffnen — jeder derselben muß Ihnen sagen, daß die Neugier eines der weiblichsten aller weiblichen Verbrechen ist. Trotzdem bin ich geneigt, Ihnen mildernde Umstände zuzubilligen. Noch heute Abend erfolgt Ihre Verhaftung. Und daß Sie lebenslänglich verurtheilt werden, dafür garantirt Ihnen

Leberecht Kröner.”  

Der Punkt hinterm r ordentlich mit einem kräftig geschwungenen Schnedderendeng.

Lydia Malkow erhob sich. Sie betastete Gesicht und Schläfen, dann preßte sie die Händchen fassungslos ineinander. Was hatte sie gethan? Wie konnte sie sich diesem Menschen gegenüber so viel vergeben? Und was war nun zu thun?

Sich darüber klar zu werden, dazu kam sie nicht mehr. Eine baumlange Gestalt erschien in dem niedrigen „verbotenen Eingange”, der zum Schalterraum führte, und eine sonore Stimme sprach ernst und feierlich:

„Im Namen des Gesetzes!”

Seltsamerweise machte das Sprühteufelchen nicht nur keinen Fluchtversuch, sondern ließ sich sogar vollkommen freiwillig und unter einem seltsamen halberstickten Aufjauchzen von zwei mächtigen Armen fest, ganz fest — arretiren, und zwar auf Lebenszeit.

Theo v. Torn.

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Reinhold Kraetke (1845–1934), deutscher Staatssekretär des Reichspostamtes von 1901 bis 1917. [D.Hrsgb.]