„Das kleine Journal”

Jahrgang 1898, Nr. 217, 9.August 1898
„Abendblatt”, (Chicago Ill.), 25.08.1898 (nur Teil I.)

Bade in Spitzbergen.

1.Reisebrief von Freiherr von Schlicht.

Merok, 2.August 1898

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Es hieße bayerisches Bier nach München und Kinder zu dem Storch tragen, wenn ich zu den vielen Imperativen der Welt mit den Worten „Bade in Spitzbergen” einen neuen fügen wollte. Wo meine lieben Mitmenschen baden, ist mir gleichgültig, wenn sie sich überhaupt nur baden; so denke ich auch nicht daran, ihnen ein Bad in Spitzbergen zu verordnen, sondern ich will sagen: Bade ist auf dem Weg nach Spitzbergen, und wie es uns, seinen Passagieren, unterwegs ergeht, will ich in den folgenden Zeilen und Briefen schildern.

Wie man sich in einer fremden Stadt nur amüsirt und etwas zu sehen bekommt, wenn man einen guten Freund hat, der den Ort wie seine Westentasche kennt, so wird auch nur der etwas von einer Reise nach Spitzbergen haben, der mit einem Kenner Spitzbergens fährt. Und einen besseren als Kapitän Bade giebt es nicht, denn er war es, der Spitzbergen der reisenden Menschheit erschloß. Im jugendlichen Alter von fünfzehn Jahren machte er seine erste Reise nach dem nördlichen Eismeer und trat dann später in den Dienst der arktischen Forschung. Im Jahre 1869/70 verlor er in dem Kampf um den Nordpol sein Schiff „Hansa” – 237 Tage trieb er mit wenigen Kameraden auf einer Eisscholle im grönländischen Meer, bevor er gerettet wurde. Sein Name war damals in Aller Mund, er hielt in allen großen Städten Vorträge, man staunte den Helden an, der so Großes geleistet, so Viel geduldet. Der Ausbruch des Krieges 1870 lenkte das allgemeine Interesse auf andere Dinge, aber daß Kapitän Bade's Thaten nicht vergessen sind, beweist am besten die von Jahr zu Jahr sich steigernde Zahl von Theilnehmern an seinen Touristenfahrten nach Spitzbergen und dem ewigen Eis – wer es irgend kann, fährt mit Bade. So hat sich auch diesmal eine zahlreiche Touristenschaar aus den ersten Gesellschaftskreisen an Bord des „Kong Harald” eingefunden, um sich von Bade in das durch ihn erschlossene Wunderland führen zu lassen. In früheren Jahren führte Kapitän Bade von Hamburg und Bremen aus Riesendampfer nach Norwegen und Spitzbergen, aber er gab diese großen Schiffe bald auf, weil sie sich wegen ihres Tiefganges nur wenig für die Fahrt eignen. „Kong Harald” ist ein Schiff, wie Kapitän Bade es braucht, und selbst auf den eleganten Dampfern des Norddeutschen Lloyd finden die Passagiere nicht mehr Bequemlichkeit und Luxus.

Am Sonnabend den 30.Juli, Abends 12 Uhr, fuhr der „Kong Harald” von der St.Pauli-Landungsbrücke in Hamburg ab. Bis spät in die Nacht saß man noch bei dem Becher zusammen und schloß Bekanntschaften, dann suchte man endlich sein Lager auf. Als wir erwachten, hatten wir vor Cuxhafen Anker geworfen, es war Sturm gemeldet und Kapitän Bade dachte: „Erst in Ruhe frühstücken und dann seekrank werden.” Und so geschah es. Als Helgoland in Sicht kam, wurde ich ans Telephon gerufen.

„Nanu?” sagte ich, „was soll das bedeuten? Hier Freiherr von Schlicht, wer dort?”

„Aegir, Herr der Fluthen, haben Sie mir denn gar nichts mitgebracht?”

„Doch, doch,” beeilte ich mich zu versichern, und ich gab dem Herrn der Fluthen, was des Herrn der Fluthen war – nicht mehr, aber er konnte zufrieden sein, es war fast ein „erlauchtes” Geschenk.

Nachdem ich die Pflicht der Höflichkeit erfüllt und dem Meere meinen Tribut geopfert hatte, zog ich mich in meine Gemächer zurück und lag dort 48 Stunden dem Tode näher als dem Leben. Dann hielt der Dampfer plötzlich wieder, ich stieg aus dem Bett heraus und sah neugierig durch das Fenster. Wir hatten die norwegische Küste erreicht – von dem kleinen Dorf Kopervick stieß ein Boot in See, das uns den Lootsen und den Zollbeamten an Bord brachte. Dann setzten wir die Fahrt fort, aber an Deck war eine Hast und Unruhe, die ich mir nicht zu erklären vermochte, es mußte etwas geschehen sein. Schnell schlüpfte ich in die Kleider und eilte nach oben: „Was giebt's?” fragte ich, „was ist passirt?”

„Bismarck ist gestorben,” klang es zurück, „der Lootse bringt die Nachricht. Der Lootse der „Hohenzollern”, der in Kopervick wieder an Land gegangen ist, hat die Kunde mitgebracht. Mit voll Dampf, die Flaggen auf Halbmast, ist der Kaiser nach Kiel zurückgekehrt.”

So schien die traurige Nachricht wahr zu sein und dennoch konnten und wollten wir es nicht glauben.

Und weiter glitt unser Schiff. Die Fahrt durch die Schären, die niedrigen Felsinseln, die durch das allmälige Untertauchen der schwedischen Felsplatte unter den Meeresspiegel entstanden sind, begann. Ruhiger wurde das Wasser, die letzten Seekranken wurden sichtbar und nach zweitägiger Enthaltsamkeit erlaubte ich mir die erste Cigarre wieder. Nein, diese Freude, als die inständige Bitte: „Max, bleibe bei mir” in Erfüllung ging – man fühlte sich wie neugeboren und zum ersten Mal hatte man Sinn für Schönheit der Natur. An Hangesund vorbei führte der Weg. Die kleine Stadt, die sechstausend Einwohner zählt, ist ganz auf Felsen gebaut, einige Häuser liegen so dicht am Wasser, daß die Wellen sie beständig bespülen, einige andere wenige Häuser liegen ganz zerstreut auf den kleinen Felsen, so die Kirche, die ganz für sich liegt. Bis zum späten Abend blieben wir an Deck; als wir aufstanden, hatten wir Bergen bereits passirt – auf der Rückreise blieben wir dort zwei Tage – und waren in den Sognefjord eingelaufen, an dessen Ausgang das Stabben Fyr, der Leuchtthurm, ganz für sich mitten im Meere liegt. Abgeschnitten von der ganzen Welt und jeder Verbindung hausen die Bewohner des Leuchtthurms – nicht Jedermanns Sache dürfte ein so mühseliges und verantwortungsvolles Leben sein. Eine kurze Strecke im offenen Wasser, dann taucht die Insel Brananger auf mit dem 915 Meter hohen Felsen Horneley. Grünes Moos, hin und wieder auch ein Baum schmückt die steile Granitwand – von oben herab kommen in Zwischenräumen die Wasserfälle, und angeschmiegt, fast hätte ich gesagt angeklebt an die Felswand sind kleine Häuser. Die zahlreichen Segel- und Ruderboote, die den Fjord beleben, zeigen, daß die Bewohner fast lediglich von Fischfang leben, aber auch geringe Viehzucht wird getrieben – vereinzelt klettern Schaafe auf den Felsen herum. Wenig weiter und man erreicht das Fischerdorf Moldoeren, zwölf aus Holz gefertigte Häuser zählte ich, so sauber, so freundlich in dem Schein der Mittagssonne lag dies Fleckchen Erde da, daß man die Bewohner fast beneidete um das ruhige, stille, behagliche Dasein, das sie führen. Ein Schuß von dem Schiffsgeschütz rief ein lautes Echo in den gewaltigen Felsen wach, dann kam zu Aller Leidwesen wieder die hohe See, wir passirten das Kap Stapland, das Vorgebirge der norwegischen Westküste. Es hätte des Hinweises von Bädeker, daß dies eine „gefährliche Ecke” sei, nicht bedurft. Wie es gekommen war, wußte Niemand – aber auf einmal ein Aufschrei: Tische und Stühle fielen um – Männlein und Weiblein rollten in buntem Durcheinander auf Deck, bis kräftige Stewards schließlich wieder Ruhe und Ordnung schafften. So Mancher, der da glaubte, nie wieder in seinem Leben seekrank zu werden, wurde von Neuem belehrt, daß Irren menschlich sei. Um 4 Uhr Mittags bogen wir in den Bordefjord – es ging zu Tisch, aber schnell eilte Jeder wieder an Deck, um die herrliche Szenerie zu bewundern. Auf spiegelglattem Wasser gleitet das Schiff zwischen den Felsen dahin, der Fjord ist kaum hundert Meter breit, man hat das Gefühl, als könnte man mit der Hand die Felsen erreichen. Zur rechten erhebt sich das Lindalshom – auf den Kuppen der Berge liegt der ewige Schnee, golden leuchtet die Sonne, zahllose Möven folgen dem Schiff und tauchen nach einem hingeworfenen Stück Brot oder Fleisch. An den Abhängen der Berge kleine Dörfer oder einzelne Häuser, hin und wieder auch ein Leuchtfeuer – schön, unbeschreiblich schön ist es hier in den Fjorden, und daß man sich nicht satt sieht an der Schönheit, beweisen die leuchtenden Gesichter der norwegischen Matrosen, die das ihnen bekannte Heimathland mit demselben Entzücken betrachten wie wir. Prachtvolle Gestalten, diese Norweger Fischer, und ein geradezu klassisches Seemannsgesicht unser Lootse, der uns bis Merok führt. Durch den Sunelos-Fjord hinein in den Geiranger Fjord geht das Schiff – die Wendungen und Biegungen, die wir machen müssen, sind so scharf, daß wir oft ein Unglück befürchten, aber der Lootse kennt sein Wasser. Zwischen engen Felsen fahren wir hindurch – da stürzen plötzlich von oben herab, dicht nebeneinander, sieben Wasserfälle hinab, die sieben Schwestern genannt. Dann noch eine Biegung und vor uns, da, wo der Fjord mit den Felsen zusammenstößt, wo die Welt für die Schifffahrt ein Ende hat, liegt Merok, eingerahmt von vielen hundert Fuß hohen Felsen, beleuchtet von dem Glanz des Mondes. Es ist elf Uhr – silbern glänzt das Wasser, der „Kong Harald” läßt sein elektrisches Licht weithin leuchten, wir steigen in die Boote und rudern ans Land. Wenige Häuser nur bilden die Stadt – wir steigen bei Mondenschein steile Pfade in die Höhe, besuchen den von einer hohen Steinmauer eingeschlossenen Kirchhof und denken dann an leibliche Stärkung. Als wir uns dem „Hotel Union” nähern, schließt eine resolute Schwedin uns die Thür vor der Nase zu – es sind Fremde da, die morgen reisen und in ihrer Nachtruhe nicht gestört sein wollen. Nicht viel besser ging es uns im Hotel Geiranger, auch dort wurden wir freundlichst gebeten, zu verschwinden. Nun ist es ein Uhr – bei Mondenschein, der den Schnee der Felsen wundervoll beleuchtet, fahren wir zurück durch den Geiranger Fjord. Kein Mensch denkt daran, zu Bette zu gehen, es ist eine Stille und Schönheit um uns herum, daß wir uns davon nicht zu trennen vermögen. Morgen landen wir in Drontheim – bald schreibe ich mehr.


„Das kleine Journal”

Jahrgang 1898, Nr. 221, 13.August 1898

Bade in Spitzbergen.

2.Reisebrief von Freiherr von Schlicht.

Ich kann jedem, der die Stadt Aalesund noch nicht kennt, nur rathen, sich schleunigst ein Ruderboot zu miethen und auf Reisen zu gehen, die Stadt ist werth, gesehen zu werden. Am 3.August in aller Frühe kam ich schon an Deck – das Schlafen gewöhnt man sich um so mehr ab, je näher man der Mitternachtssonne kommt –, wir hielten, Depeschen wurden nach Aalesund an Land gebracht. Die kleine Stadt zählt nach Bädeker – und der muß es ja wissen – 85oo Einwohner und ist vollständig auf niedrigen Felsen gebaut, unmittelbar hinter der Stadt erheben sich die Felsen viele hundert Meter hoch. Der Hafen, der theils durch einen Damm, theils durch die vorspringende Halbinsel Shandey geschützt ist, lag voll von Schiffen – das Ganze machte bei dem Schein der Morgensonne einen ungemein freundlichen und anmuthigen Eindruck, zumal das Wasser spiegelglatt war.

Nach kurzem Aufenthalt ging die Fahrt weiter, zuerst noch eine kurze Strecke durch den Fjord, dann – heiliger St.Ullrich, stehe mir bei – hinauf auf das offene Meer. Aber Ullrich hat seinen guten Tag, er verschont uns, ungetrübt können wir uns den Freuden der Meeresfahrt hingeben, schnell und ruhig durchschneidet unser „Kong Harald” die Fluthen. Zu unserer Linken tauchen die Inseln Lepsö, Harhansö, Thömsö auf, nichts wie Stein und Felsen und doch von Menschen bewohnt, deren Beschäftigung, wie ich mir sagen ließ, hauptsächlich darin besteht, für die Bewohner der Leuchtthürme, deren es hier ungezählte giebt, zu sorgen. Auf mächtigen Felsen leuchten die Feuer weit hinaus, viele von ihnen brennen Tag und Nacht. An dem Maö Fyr vorbei geht es in den Harö-Fjord. Christiansund, die Stadt der Klippfische, taucht auf; stolz wie die Spanier, die den „Klippfisk” mit Vorliebe essen – Christiansund exportirt meist nach Spanien – fahren wir vorüber, nach Drontheim geht unser Sinnen und Trachten. Viele, viele Stunden dauert die Fahrt noch, auch als wir den Drontheimer Fjord erreichen, sind wir noch lange nicht am Ziel – erst um die neunte Abendstunde werfen wir Anker. Am Bollwerk warten Hunderte auf uns und unser Geld – unsere Kapelle spielt die norwegische Nationalhymne, freudig werden wir begrüßt. Alles stürmt an Land, ich schlendere durch die Straßen und begreife nun, da ich die aus leichtestem Holz gefertigten Häuser sehe, daß die Stadt alle fünf Minuten brennt. Damit in Zukunft wenigstens weniger Menschen als bisher verbrennen, sind die Fahnenstangen, die sich vor jedem Haus befinden, unmittelbar an die Fenster herangerückt, so daß selbst alte Murmelgreise, wenn ihr Leben in Gefahr ist, bequem aus der ersten Etage – eine zweite kennt man hier nicht – an der Stange sich herunterlassen können. Fast rechtwinklig schneiden sich die Straßen, und wenn man einmal neugierig um die Ecke sieht, blickt man auf den Fjord und die Insel Munkholm. Malerische Höhenzüge erheben sich im Osten, Süden und Südwesten, so daß die Stadt völlig von den hohen Bergen eingeschlossen ist. An guten Hotels ist kein Mangel – vor dem Hotel Britannia stand ein Reisegenosse mit mehreren Begleitern und flehte den Portier fast auf den Knieen an, ein Faß echten Münchener Bieres aufzulegen – „es braucht gar nicht so klein zu sein, wir bekommen es schon klein”, betheuerte der Bayer immer wieder von Neuem, aber alles Flehen war umsonst. Es gab kein Münchener. „Vielleicht im Tivoli”, lautete die Antwort – dies Drontheimer Vergnügungslokal ist im Genre des berühmten Kopenhagener gebaut, es bietet der Abwechslungen viele. Wir freuten uns auf den Gesang einer „schwedischen Nachtigall”, aber als wir unser Entree bezahlt und das Spezialitätentheater betreten hatten, tanzten auf den Bühne zwei deutsche Komiker – den Rixdorfer. Abends um zwölf Uhr war Drontheim still und todt, und der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, gingen wir an Bord, nein, wir fuhren, denn es hatte geregnet und nie sah ich auf den Straßen mehr Schmutz als in Drontheim. Man scheint hier die berühmten Steine nur zum Export zu benutzen und nicht zur Pflasterung der eigenen Straßen – wo Pflaster liegt, ist es allerdings sehr gut. Der ganze vierte August galt der weiteren Besichtigung der Stadt, da wir Kohlen einnehmen mußten. Vortrefflich hatte Kapitän Bade für seine Begleiter auf seiner neuen Spitzbergen-Expedition gesorgt: am Mittag fand gemeinsames Mittagessen im Hotel Britannia statt, dem ein Ausflug nach dem Wasserfall folgte – man fällt hier fast über Wasser. Nach einer wundervollen Wagenfahrt von etwa einer Stunde, während der man die schönste Aussicht über die Stadt, den Hafen und den Fjord hat, erreicht man den Lille Lerfos – nur aus geringer Höhe fließt das Wasser hinab, dennoch aber schäumt, braust und zischt es unheimlich. Auf einem schmalen, schlüpfrigen Weg hing es zu dem etwa eine halbe Stunde entfernten Store Lerfos, der durch eine Felswand in zwei Theile gespalten ist. Der Regen, an dem wir leider keinen Mangel leiden, hatte nachgelassen und hell schien die Sonne auf die schäumenden und tobenden Wassermassen. Im Hintergrund auf hohem Berg stehen die traurigen Überreste einer alten Burg, weit hinaus ragen die Trümmer ins Land. Nur schwer trennten wir uns von dem Bilde, das sich unseren Augen bot – es ist so schwer, sich bei dem Anblick dieser Schönheiten sagen zu müssen, daß man sie nie wieder sehen wird. Nach dem Tivoli führte uns unser Weg, und Abends um 12 Uhr kehrten wir an Bord zurück, die Meisten mit Schätzen reich beladen. Ich glaube, das bekannte Geschäft von Bruhn, in dem auch unser Kaiser mit Vorliebe einzukaufen pflegt, ist mit den Passagieren des „Kong Harald” zufrieden gewesen. Noch nie sah ich solche herrlichen Felle und Pelze, aber auch alte, köstliche Silbersachen erfreuten den Kenner. Ich handelte um einen schweren silbernen Humpen, der zweitausend Kronen kosten sollte – heute freue ich mich, daß wir nicht handelseinig geworden sind. Ich würde mich aber noch mehr freuen, wenn einer meiner Leser mir als Zeichen seiner Verehrung den Becher schenken wollte – er braucht nur an Bruhn zu schreiben, der weiß Bescheid. Bis Nachts um 2 Uhr kneipten wir an Deck nach den Klängen der Musik, dann ging es weiter, durch den Folden und Folden-Fjord. Im Laufe des Nachmittags passirten wir den 251 Meter hohen Torghatten, der auf halber Höhe durch einen fast zweihundert Meter langen Tunnel durchschnitten ist. Es geht die Sage, dem Gott Hestmands sei sein Lieb untreu geworden, er sah, wie sie mit einem Anderen entfliehen wollte. Zornig ergriff er einen Stein und schleuderte ihn den Flüchtigen nach. Anstatt des Liebespaares traf er den Torghatten und warf ihm das gewaltige Loch in den Kopf. Was aus dem Liebhaber geworden ist, weiß ich nicht – „die Jungfrau” steht aber heute noch als Fels acht Seemeilen von dem „Hestmands” entfernt. Weit ist sie auf ihrer Flucht also nicht gekommen. Nach einer Fahrt von mehreren Stunden tauchen die zwischen achthundert und tausend Meter hohen „Sieben Schwestern” auf, gigantisch ragen die Riesen empor – ein bläulicher Dunst umrahmt die Spitzen, die die Wolken zu berühren scheinen. Wir fahren, während ich dieses schreibe, an den Felsen vorbei, immer und immer wieder sehe ich sie an, aber vergebens suche ich den richtigen Ausdruck für die prachtvolle Beleuchtung, in der die Berggruppe daliegt, ich kann die Farbenzusammenstellung nicht definiren, sintemalen ich kein Chemiker bin. Abends um 11 Uhr passiren wir unter großer Feierlichkeit den Polarkreis – die Amateurphotographen sind enttäuscht, wegen der Dunkelheit den Polarkreis nicht aufnehmen zu können, und entschädigen sich durch einen Polargrogk. Am 7. Morgens erreichten wir die Lofoten und ankerten wohl eine Stunde bei der mitten im Meer gelegenen, von zahllosen kleinen Felsen umgebenen Stadt Henningsvaer, dem Hauptplatz der Dorschfischerei, dann ging es hinein in den Keftsund, an dessen Eingang sich der „Diggmulen” befindet. Auf schwindelnder Höhe steht daselbst ein kleines Häuschen, in dem unser Kaiser mit Vorliebe zu verweilen pflegt – dort entstehen zum größten Theil seine See- und Landschaftsbilder. Je höher wir kamen, desto wärmer wurde die Luft, desto abwechslungsreicher die Szenerie. Die Kuppen der Lofoten-Berge sind mit Schnee bedeckt, aber auf den Abhängen grünen weite Birkenwälder, hin und wieder sieht man schöne, frische Wiesen und mit dreifachem Hurrah wurde die erste Kuh, die wir seit einer Woche sahen, begrüßt. Hoffentlich revanchirt sie sich dadurch, daß sie keine saure Milch giebt.

Es ist jetzt 10 Uhr Abends, die Sonne ist immer noch nicht untergegangen, es ist taghell. Auf Deck herrscht fröhliches Leben und Treiben, aber man denkt doch daran, bald schlafen zu gehen, denn um 7 Uhr sollen wir in Tromsö sein. Dort muß dieser Brief zur Post – den nächsten schreibe ich, wenn wir in Spitzbergen und am ewigen Eis gewesen sind.

Eins möchte ich noch erwähnen. In Drontheim hörten wir die Bestätigung der Nachricht, daß Bismarck gestorben sei. In der Fremde erschütterte uns diese Nachricht doppelt und dreifach. In beredten Worten gedachte am nächsten Mittag unser verehrter Führer, der Kapitän Bade, des Verstorbenen und Exzellenz von Crailsheim, der bayerische Staatsminister, der bekanntlich Bismarck am 31. v.M. besuchen wollte, weihte dem großen Todten ein stilles Glas.

Und der Thränen, die vergossen wurden, waren nicht wenige.


„Das kleine Journal”

Jahrgang 1898, Nr. 240, 1.September 1898

Bade in Spitzbergen.

III.Reisebrief von Freiherr von Schlicht.

Wollte ich Alles beschreiben, was ich auf der Reise gesehen, so müßte ich mit der verehrlichen Redaktion nicht drei, sondern dreißig Briefe vereinbart haben. Wer es nicht glaubt, setze sich auf sein Rad und fahre nach der nördlich von Tromsö gelegenen Walfangstation Scarö – sechs mächtige Walkadaver befinden sich dort in Behandlung, um als Guano zu einem neuen Leben zu erwachen. Über das, was ich dort sah, könnte ich Bogen schreiben, über das, was ich roch – Bände. Der Geruch ist einfach grausam, er spottet jeder Beschreibung und er umschwebte noch unsere Nasen, als wir am nächsten Tag uns dem Vogelsberg näherten. Von Weitem sieht der Felsen aus wie eine mit unzähligen weißen Punkten versehene Schiefertafel – kommt man näher, so erkennt man in den weißen Punkten Millionen von Möven, die ein Schuß aus dem Schiffsgeschütz aus ihrer Ruhe aufscheuchte. Am Abend desselben Tages erreichten wir das Nordcap, auf dessen Spitze unserem Kaiser bei einem Glase Pommery ein donnernd Hoch gebracht wurde. Auf dem halben Weg zwischen Hammerfest und Spitzbergen liegt die Bäreninsel, die infolge des Zusammentreffens des Golfstroms und eines aus Norden kommenden kalten Stromes meist im dichten Nebel liegt. Wir hatten das Glück, dies ungefähr dreißig Quadratkilometer große Felseneiland vollständig frei und unbewölkt zu sehen, auf den Bergeshöhen wurde die Nacht im Freien verbracht, dann ging es weiter, dem hohen Norden entgegen. Am Nachmittag gegen fünf Uhr wurde Spitzbergen sichtbar, meilenweit leuchteten die Schneeberge und die gewaltigen Gletscher und unbeschreiblich schön war der Anblick, als die Mitternachtssonne Schnee und Eis im rosigen Schein erglänzen ließ. In der Recherche-Bay im Belsund warfen wir Anker, die Boote wurden ausgesetzt und zwischen schwimmendem Eis hindurch ging es bei herrlichstem Wetter bis dicht an die wohl hundert Meter hohen steilen Wände der im köstlichsten Ultramarinblau leuchtenden Gletscher. Die Kraft der Sonne hat in die Eismassen große Risse und Klüfte gegraben, von Zeit zu Zeit löste sich ein Eisblock und stürzte donnernd und krachend hinab in die Fluth. So gewaltig und imposant die Recherche-Bay, so grausam langweilig ist die Advent-Bay, in der wir am 11. August ankamen und wo wir dicht neben der Yacht des Fürsten von Monaco Anker warfen. Die Südseite der Berge ist vollständig frei von Schnee und Eis, Gletscher sind nur in weiter Ferne zu sehen, aber die Advent-Bay gehört trotzdem zu jenen Dingen, die man gesehen haben muß – warum? ist mir nicht klar. An Land erwarteten uns norwegische Jäger, die uns Rennthiergeweihe zum Kauf anboten, dann ging es zu dem Hotel, das zugleich Poststation ist, um die Ansichtspostkarten aufzugeben. Der höchste Rekord, der in diesem edlen Sport erzielt ist, beträgt bisher einhundertundzwei. So viel Karten hat ein Herr an einem einzigen Tage geschrieben und abgeschickt – und der Mann lebt noch. Interessant sind die Überreste einer kleinen Hütte, in der vier vom Eis überraschte Fischer im Jahre 1896 überwinterten – zwei derselben erlagen den Entbehrungen und ein schlichtes Holzkreuz bezeichnet die Stätte, wo sie ausruhen von des Lebens Mühen und Lasten. Wenig geschmackvoll ist eine große Blechfahne, die von den Reisenden der „Augusta Victoria” dort errichtet ist. Mittags um 1 Uhr lichteten wir die Anker und fuhren hinein in den seinen Namen mit vollem Recht tragenden Eis-Fjord. Wieder ging es in Booten bis dicht an die Eiswände, vorbei an einer Anzahl von Seehunden, die sich durch uns in ihrem Mittagsschlummer nicht stören ließen. Am 13. Morgens erreichten wir die Magdalenen-Bay und sind damit in der Gegend angekommen, die nur Kapitän Bade auf seinen Expeditionen aufsucht.

Am Nachmittag um 4 Uhr ankerten wir vor Virgohaven. Ein Gefühl der Trauer und des Mitgefühls beschlich uns, als wir die Stelle vor uns sahen, von der aus Andree seinen kühnen Ausflug unternahm. In Trümmern liegt das Ballonhaus – die Vorderwand stürzte und mußte bei dem Aufstieg des Ballons einstürzen. Die Stürme des letzten Winters haben auch die Hinterwand eingerissen, wild liegen die Balken und Bretter durcheinander. Unmittelbar daneben steht das von dem Engländer Piche erbaute Holzhaus, das Schiffbrüchigen Aufnahme bieten soll – es ist groß und geräumig und bietet Lagerraum und Proviant in Konserven für lange Zeit. Auch ein Gewehr und genügende Munition ist vorhanden. Im zweiten Stock dieses Hauses sind auch die Andrée'schen Brieftauben untergebracht gewesen – ich hatte das Glück, eine Feder mit dem Stempel A.B. (Andrée's Ballon) 64 zu finden, die ich zum Andenken an diesen Besuch an mich nahm. Steil erheben sich hier die Felsen – es ist bekannt, daß Andrée bei seinem Aufstieg fast an einem derselben mit seinem Ballon verunglückt wäre. Smeerenburg, zu dem Virgohaven gehört, ist entschieden einer der interessantesten Punkte Spitzbergens und die 36 Stunden, die wir dort blieben und mit Ausflügen nach den verschiedenen Inseln zubrachten, vergingen mir im Fluge. Am nächsten Morgen jagten wir auf der Mossen-Insel, die sehr, sehr selten betreten wird, dann ging es weiter, dem ewigen Eis entgegen, das am Nachmittag um 3 Uhr in Sicht kam – zwei Stunden später hatten wir bei 81 Grad 5 Minuten unseren nördlichsten Punkt erreicht, die Maschine stoppte, weiter ging's nicht mehr, wie es in dem Couplet heißt. Zahllose Eisschollen umschwammen unser Schiff, und als wir noch unsere Gedanken darüber austauschten, daß wir uns das ewige Eis eigentlich und uneigentlich ganz anders gedacht hätten, hob sich plötzlich der Nebelschleier, der bisher auf dem Meere gelegen hatte, und ein Ausruf des Erstaunens und der Bewunderung entfuhr uns: da liegen sie vor uns in weiter, weiter Ferne, die gewaltigen Eisberge, stundenweit leuchtend, eine zusammenhängende, undurchdringliche Kette bildend – Berg reihte sich an Berg, einer den anderen an majestätischer Schönheit und Größe überragend, so weit das Auge reichte nur Eis und immer wieder Eis. Stundenlang weilten wir an Deck, den Anblick, der sich uns wohl nie wieder bieten wird, genießend – dann mahnten die immer zahlreicher auftretenden Eisschollen zur Heimkehr. Der Abschied wurde uns schwer. Da rief eine Stimme: „Wer tanzt einen Walzer?” und fünf Minuten später walzten wir auf einer großen Eisscholle herum, schneeballten uns und trieben Unfug wie die kleinen Kinder. Während wir bei dem Abendbrod saßen, traten wir die Rückreise an: mit einer (?) Flasche Pommery stießen wir an auf eine glückliche Heimkehr. Nicht ohne Grund wünschten wir uns alles Gute, wir hatten starken Seegang und drei Tage und drei Nächte tanzte unser „Kong Harald” auf den Wellen einen gar seltsamen Tanz. Unser gutes Schiff aber hielt sich brav und wacker, zur festgesetzten Stunde liefen wir in Hammerfest ein, passirten Tromsö, Bodö und liefen dann in den Ramsdall-Fjord ein. Als wir am 22. Morgens erwachten, hatten wir bereits vor Naes Anker geworfen. Schnell ging es in die Kleider und dann an Land, um einen der kleinen zweirädrigen Karren zu miethen. Ein Feilschen und Handeln mit den Rosselenkern begann, man forderte zehn, ich bot sieben Kronen. Durch ein gedrucktes, mit dem Stadtstempel versehenes Dokument bewies man mir, daß die Preise fest und jedes Handeln unnöthig sei. Ich gab das Feilschen auf und wollte in den Wagen einsteigen; plötzlich zog mich ein Junge von zehn Jahren an meinen Rock: „Komm zu mir, ich nehm' nur neun Kronen.” Ein Wuthgeschrei der übrigen Rosselenker erhob sich und im Geiste sah ich den Bengel bei seiner Rückkehr wegen unlauteren Wettbewerbs über verschiedenen linken Knien liegen. Ich ergriff die Zügel, der Bub schwang sich hinten auf und die Fahrt ging los, gar bald aber merkte ich, daß nicht ich, sondern der Bengel fuhr. Ich mochte Zügel und den die Peitsche vertretenden Regenschirm gebrauchen so viel ich wollte. Alles war zwecklos, wenn meine Maßnahmen nicht den Beifall des jugendlichen Fuhrmanns fanden. Hatte der Bengel „Brrr” gesagt, dann stand der Gaul fester und unbeweglicher als das Brandenburger Thor, mochte ich noch so viel „Hü, Hott” rufen. Als es sehr steil bergab ging, nahm mir der Knabe die Zügel aus der Hand. „Nun wird er Schritt fahren,” dachte ich, um bald darauf einzusehen, daß unser Denken meist Unsinn ist. In einem geradezu wahnwitzigen Tempo ging es bergab – nun erst begriff ich, warum meine Unfallversicherung während dieser meiner Reise außer Kraft getreten ist. Nach einer Fahrt von zwei Stunden hielten wir bei dem Wasserfall von Mongefos – aus einer Höhe von mehr als tausend Meter stürzt das Wasser die Bergwand hinab, unterwegs durch zahllose Vorsprünge und Zacken aufgehalten, die den großen Wasserfall in eine Unzahl von kleineren verwandeln. Auf der Rückfahrt hielten wir in Horchheim – in der Wirthschaft hängt an der Wand unter Glas und Rahmen ein Blatt Papier, das an den Besuch unseres Kaisers im Jahre 1890 erinnert. Hoffentlich ist das Getränk, das man dem hohen Herrn vorsetzte, besser gewesen als das unedle Naß, mit dem wir uns begnügen mußten. Grunzend und pustend setzte sich der dicke Ponny wieder in Bewegung und ich hatte Mitleid mit ihm – in sausendem Schritt ging es zurück, um voll und ganz die Schönheit der mich umgebenden Natur genießen zu können.

Am Nachmittag setzten wir unsere Fahrt fort – man glaubt immer, schöner kann es nun nicht mehr werden, und doch ist der Molde-Fjord, zumal bei so prächtigem Sonnenschein, wie wir ihn hatten, vielleicht das Schönste, was wir bisher sahen. Der Badeort Molde ist abgesehen davon, daß um neun Uhr Polizeistunde ist, allerliebst, und obgleich ich es hasse, Aussichtspunkte zu ersteigen, bin ich meiner ebenso schönen wie liebenswürdigen Begleiterin auf dem Bummel durch Molde doch sehr dankbar, daß sie mich bei der „Ambition” packte und mich bewog, den Pavillon aufzusuchen. Man hat eine Fernsicht von mehr als vierzig Kilometer; trotz dieser Entfernung sieht man die Berge sehr deutlich, ich nenne nur den 1832 Meter hohen Store-Froldtind und den fast ebenso hohen Vengetind, deren Kuppen mit Schnee und Eis bedeckt sind. Durch den märchenhaft schönen Sogne- und Naro-Fjord ging es nach Ludwangen. Zahlreiche Wagen erwarteten uns und hinauf fuhren wir nach dem herrlichen Stalheim. Es wäre zwecklos, wollte ich versuchen, die Schönheiten der Fahrt und die Lage von Stalheim zu schildern – „so was läßt sich nur empfinden, aber sagen läßt sich's nicht!” Sagen läßt sich auch nicht, wie wir an jenem Abend getanzt haben. Der Barbier des Hotels spielte Geige, seine Frau Klavier. Sie schielte und las daher immer falsche Noten, er konnte keinen Takt halten – aber getanzt haben wir stundenlang, zumal wir die große Freude hatten, schöne und liebenswürdige Damen, die selbstverständlich aus Berlin waren, dort zu treffen. Um 12 Uhr drehte der Wirth die laterna electrica aus, die Musik streikte – da blieb nichts Anderes übrig als nicht zu Bett zu gehen, sondern in der Bar im Dunklen zu kneipen. Auch der Jammer ist überwunden – schwer genug ist es mir geworden. Eine Wagenfahrt von 36 Kilometer brachte uns nach Voßwangen, von dort fuhren wir mit der Bahn nach Bergen – die Fahrt ist beinahe so interessant wie von Berlin nach Spandau. Während der vier Stunden passirt man zweiundfünfzig, theils sehr lange Tunnels – zwischendurch blickt man auf Felsen und Wasserfälle, auf malerisch gelegene Dörfer und Flecken, auf grüne Wiesen und Bäume. Es ist wohl schön hier oben,so schön, daß ich noch stundenlang darüber schreiben könnte, aber es wird Zeit, daß ich schließe, denn einmal muß dieser lettre ja doch ein Ende haben.

Und so nehme ich denn Abschied von dem schönen Land, dem elenden Bier und den hier so billigen Kronen – für hundert Mark kann man sich nicht weniger als achtzig kaufen, vorausgesetzt, daß man hundert Mark hat.

Kein Mensch kann wissen, wie es kommt, und schon Fritz Reuter sagt: nimm di nix vor, denn geiht di nix fehl – vorgenommen habe ich es mir trotzdem und ich wäre glücklich, wenn ich meinen Vorsatz ausführen könnte, noch einmal zu sein mit „Bad in Spitzbergen”.



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© Karlheinz Everts