Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 224 vom 24. September 1898 Seite 2

Mit Bade in Spitzbergen.

Von Freiherr von Schlicht


Werbemarke.jpg Während der diesjährigen Kieler Woche war es, wir hatten am Vormittag einer Regatta beigewohnt und saßen nun mit dem bekannten Polarfahrer Bade, den wir zufällig auf unserem Begleitdampfer getroffen hatten, in Fölker's Garten bei einer Flasche Wein. Kein Zweiter versteht so zu erzählen wie Kapitän Bade und je länger ich seinen Worten lauschte, desto größer wurde in mir die Sehnsucht, ihn auf seiner diesjährigen Expedition nach Spitzbergen zu begleiten, mit ihm zusammen jenes Wunderland aufzusuchen, das er zuerst der reisenden Menschheit zugänglich gemacht hat. Ein Wort gab das andere und am 30. Juli schiffte ich mich, gleich so vielen Anderen, an Bord des eleganten Salondampfers "Kong Harald" ein und bald darauf lichteten wir die Anker. Langsam ging es die Elbe hinauf, an Cuxhaven und Helgoland vorbei, hinein in die Nordsee. Von jeher waren mir größere Quantitäten Wasser nur in gebranntem Zustande sympathisch, auch dieses Mal vermochte die Nordsee nicht, mir große Sympathieen für sie einzuflößen. Erleichtert athmete ich auf, als wir am ersten August abermals die norwegische Küste erreichten und in Koperwick, wo wir auch die Nachricht vom Tode Bismarcks erhielten, den Lootsen an Bord nahmen. Alles Leid hatte nun ein Ende, die Fahrt zwischen den Inseln und Schären, die durch das allmälige Untertauchen der schwedischen Felsplatten unter den Meeresspiegel entstanden sind, begann. Vorbei an dem dreitausend Fuß hohen "Hornesen" und dem westlichen Vorgebirge Norwegens, dem Cap Stadland, ging es hinein in den Geiränger-Fjord. Zwischen vielen hundert Meter hohen, steilen Felswänden, an denen hin und wieder vereinzelte Häuser wie Schwalbennester klebten, glitt das Schiff auf spiegelblankem Wasser hin, zahlreiche Möven folgten uns und tauchten nach jedem ihnen zugeworfenen Bissen. Da, wo der Fjord mit den Felsen zusammenstößt, wo die Welt für die Schifffahrt ein Ende hat, liegt Merock - in dem Augenblick, wo wir Anker warfen, trat der Mond über die Berge und beleuchtete goldig den Fjord und "die sieben Schwestern" - sieben Wasserfälle, die aus gewaltiger Höhe herabstürzen. In der Nacht schon ging es wieder weiter - am nächsten Tag landeten wir in Drontheim und besuchten die gewaltigen Wasserfälle von Serfos. Am fünften August passierten wir den 251 Meter hohen Torghattan, der auf halber Höhe von einem fast zweihundert Meter langen Tunnel durchschnitten ist. Plötzlich stoppte die Maschine, wir hatten den Polarkreis erreicht und ein Matrose mußte nach altem Brauch erst in die oberste Mastspitze klettern, um den Polarkreis hinüberzuwerfen. Als wir am nächsten Morgen an Deck kamen, hatten wir schon die Lofoten erreicht - einen geradezu entzückenden Anblick bietet die Stadt Henningsvaer, der Hauptplatz der Dorschfischerei, die auf zahllosen kleinen Felsen und Inseln gebaut ist. An den gewaltigen Felsmassen der Lofoten vorbei, ging es in den durch seine Schönheit berühmten Reftsund, - auf den Bergkuppen liegt ewiger Schnee, aber auf den Abhängen grünen weite Birkenwälder. Je höher wir nach dem Norden kamen, desto reiner wurde die Luft, desto abwechslungsreicher die Scenerie. Sehr interessant und lehrreich in jeder Hinsicht, war ein stundenlanger Besuch auf der Walfang-Station Scaroe, nördlich von Tromsö. Sechs mächtige Walkadaver befanden sich dort in Behandlung, um als Luges (? d.Hrsgb.) zu neuem Leben zu erwachen, in liebenswürdigster Weise wurde uns auch die große Thranfabrik gezeigt, aber der Geruch dort war ein derartig grausamer, entsetzlicher, jeder Beschreibung spottender, zum Selbstmord treibender und zum Haareausreißen veranlassender, daß ich bald an Bord floh. In Hammerfest sah ich zum ersten Mal, daß die flachen Dächer der Häuser mit Gras besaet sind - es geschieht dies, um für die Ziegen wenigstens etwas Grünfutter zu haben. Nachdem wir der berühmten Meridianssäule unseren Besuch gemacht hatten, fuhren wir wieder in die hohe See hinaus; vorbei an dem von Millionen Möven bewohnten Vogelsberg, vorbei an dem Nordkap und der Bäreninsel, immer und immer weiter nach dem Norden. Weiter als bis zum Nordkap kommen nur wenige Reisende - nur wer mit Bade reist, bekommt das zweite auf Spitzbergen gelegene Nordkap und noch ein ganz Stück mehr von der wunderbaren Welt dort oben zu sehen. Am zehnten, Nachmittags, wurde Spitzbergen sichtbar, meilenweit leuchteten die Gletscher und die gewaltigen Schneeberge und unbeschreiblich schön war der Anblick, als die Mitternachtssonne Schnee und Eis im rosigen Schein erglänzen ließ. In der Rechereis Bay (? d.Hrsgb.) warfen wir zunächst Anker - in Booten ging es durch schwimmendes Eis hindurch bis dicht an die fast zweihundert Meter hohen, im herrlichsten Ultramarinblau leuchtenden Gletscherwände. Von Zeit zu Zeit löst sich durch die Kraft der Sonne ein Eisblock und stürzt donnernd und krachend hinab in das Meer. Durch den seinen Namen mit vollem Recht tragenden Eis-Fjord, der von Schnee und Eis starrt, ging es in die Advent Bay, wo wir die Jagd des Fürsten von Monaco trafen, dann in die Magdalenbay und erreichten damit die Gegend, die nur Kapitain Bade auf seinen alljährlichen Expeditionen nach Spitzbergen und dem ewigen Eis aufsucht. Am 13. Nachmittags ankerten wir vor Vigohaven, der Ballonstation Andrees und ein gar eigenthümliches Gefühl beschlich uns, als wir die Stätte vor uns sahen, von der aus Andree seinen kühnen Aufstieg unternommen hat. In Trümmern liegt das Ballonhaus, wild liegen die Bretter durcheinander. Unmittelbar daneben steht das von dem Engländer Sicks erbaute Holzhaus, das, mit Konserven aller Art angefüllt, Schiffbrüchigen Aufnahme bieten soll - es kommt leider oft genug vor, daß Fischer von Eis überrascht und an der Heimkehr verhindert werden. Interessant sind in dieser Hinsicht die Überreste einer kleinen Hütte, die wir in der Advent Bay fanden, in der 4 Fischer im Jahre 1896 überwinterten. Zwei derselben erlagen den Strapazen, und ein schlichtes Holzkreuz bezeichnet die Stätte, wo sie im ewigen Schlaf liegen. Virgohaven gehört zu Sweerenburg und dies ist entschieden der interessanteste Punkt Spitzbergens. im 17. Jahrhundert wohnten hier an 16 000 Walfischfänger, jede Station hatte ihr Reich hier oben für sich, daran erinnern noch die Namen Hamburger Hafen, Dänen Insel, Amsterdam Insel etc. Während des Spazierganges auf dem Festlande stießen wir auf zahllose menschliche Gerippe, die sich in diesem wundervollen Klima merkwürdig gut erhalten haben; nicht einmal das Holz der einfachen Kisten, in denen die Toten bestattet wurden, ist vermodert. Zahllos sind auch die Knochen und Überreste der Walfische, die herumliegen - auch die kreisförmig gebauten, halbhohen Mauern, in denen früher die gewaltigen Theekessel standen, sind theilweise noch erhalten. Bei dieser Gelegenheit mag erwähnt sein, daß die großen Polar-Wale, infolge des großen Fanges im 17. Jahrhundert, fast ausgestorben sind und nur noch vereinzelt bei Grönland vorkommen - die Wale, die heutzutage erlegt werden, haben nur ein Durchschnittsgewicht von 1500 Centnern. Wir hatten das Glück, mehrere lebende Wale während unserer Fahrt zu sehen - auch ein Walfischfänger mit sechs erlegten Walen zog an uns vorüber. Wir belohnten ihn für seinen guten Fang, der einen Werth von 20 000 Mk. repräsentierte, durch ein donnerndes Hoch.

Als wir auf der Dänen-Insel umherstreiften, sahen wir auf dem offenen Meer den ersten schwimmenden Eisberg, dem wir uns bald darauf mit unserer Dampfpinasse näherten. Der Eisblock, der sich von einem Gletscher losgelöst hatte, ragte wohl 20 Meter hoch über dem Wasser empor, in seinem Innern war ein beständiges Krachen und Beben. Weithin leuchtete die wundervolle, dunkelblaue Farbe.

Am nächsten Morgen ankerten wir für einige Stunden vor der Mossen-Insel, die sehr, sehr selten betreten wird. Unsere Jäger gingen an Land, um Gott weiß wie viel hundert Seehunde, Eisbären und Rennthiere zu schießen, sie wollten dies Alles schießen - aber eine einzige Eiderente war Alles, was die kühnen Männer mit an Bord brachten. Dann ging es weiter, dem ewigen Eis entgegen, das nachmittags um 3 Uhr in Sicht kam. Zwei Stunden später hatten wir bei 81 Grad 5 Minuten unseren nördlichsten Punkt erreicht, die Maschine stoppte, wir waren am Ende unserer Fahrt angekommen. Die zahllosen, theilweise sehr großen Eisschollen, die unser Schiff umschwammen, verboten ein weiteres Vordringen. Nach kurzer Zeit hob sich der Nebelschleier, der bisher eine weite Fernsicht verhindert hatte, und vor uns in majestätischer Schönheit, in weiter, weiter Ferne lagen die gewaltigen Eisberge und Eismassen, stundenweit leuchtend, eine zusammenhängende, undurchdringliche Kette bildend. Stundenlang weilten wir an Deck, gingen hinauf auf die Eisschollen, tanzten dort, schneeballten uns und trieben Unfug wie die kleinen Kinder. Das Wetter war herrlich, wie wir überhaupt während der ganzen Reise vom Wetter sehr begünstigt waren, die Temperatur im ewigen Eis betrug nur - 3 Grad. Es war so schön, daß wir gern nicht Stunden, sondern Tage dort oben zugebracht hätten, aber unser Führer mahnte zur Heimkehr, wir mußten umkehren, wenn wir uns nicht der Gefahr aussetzen wollten, daß das Eis die Schraube unseres Dampfers beschädigte. Schweren, schweren Herzens nahmen wir Abschied vom hohen Norden; in schneller, sicherer Fahrt führte uns der "Kong Harald" zurück nach Hammerfest, Tromsö, Bodö, nach Bergen, wo wir die Fischereiausstellung besuchten, und von dort nach Hamburg.

Nun sitzt man wieder daheim an seinem Schreibtisch: anstatt auf Gletscher und gewaltige Bergeshöhen sieht man auf mittelmäßig gefegte Straßen und sich prügelnde Knaben. Aus der Ruhe und Erhabenheit der unbewohnten Gegenden ist man wieder in die sogenannte "Civilisation" zurückgekehrt - wer einmal mit Kapitän Bade in dem Wunderland "Spitzbergen" war, ist keinen Augenblick mehr darüber im Zweifel, wo es auf der Erde am schönsten ist.



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© Karlheinz Everts