"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 19 - 21
14. bis 28. Februar 1935


19

Der Dienstmann stirbt aus - Straßenlotterie für das Winterhilfswerk - "Das Mädchen Johanna" im Werden - Zu Max Liebermanns Tod.

Der rotmützige Dienstmann, der früher an allen Ecken stand, aber mit dem Eckensteher Nante nur entfernt verwandt war, ist im Aussterben. Wozu soll man ihm eine Botschaft für 60 Pfennige anvertrauen, wenn man für 10 Pfennige viel schneller telephonieren kann? Warum muß er den Rosenstrauß zu unserer entzückenden 1935er Karnevalsliebe hintragen, wenn dies doch jeder Blumenladen umsonst macht? Wie komme ich dazu, neben meinem Koffer auf seinem Karren herzutrotten, wenn die BzBG. (gräßlich: "Bahnamtlich zugelassene Berliner Gepäckbeföderung") mir bequemer alles abnimmt? In Kleinstädten mag er freilich als Vertrauter der gesamten Einwohnerschaft für hundert verschiedene Aufgaben verwendbar sein. Und in München, das ja immer noch Charakter wahrt, ist er, der bedächtig schnupfende Philosoph, aus dem Straßenbilde auch noch nicht wegzudenken.

Dafür haben wir jetzt die "grauen Glücksmänner" wenigstens mit dem Mützenrand in Rot.

Sie tragen ihren Bauchladen mit den Lotterielosen des Winterhilfswerks unter dem Umhang. Sie stehen überall auf der Straße und gehen in jedes Restaurant. Man gibt sowieso jeden Sonntag 20 Pfennige oder mehr für irgendeine Plakette, da kann man auch mal 50 Pfennige für ein Los riskieren. Dann fühlt man sich doch als Mitarbeiter in dem neuen Staat. Außerdem - hm - man hätte nichts dagegen, 1000 Mark zu gewinnen. Man liest es ja alle Tage in der Zeitung, daß hier und da die ärmsten Menschen für ihren letzten Fuffz'ger so belohnt worden sind. "Gehöre ich etwa nicht zu den Armen?" sagt sich jedermann und denkt an diejenigen Bekannten, die eine Lohnstufe höher stehen. Aber ich traue der Fortuna nicht so recht. "Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück", haben wir einmal in der Schule gelernt; denn Patroklus liegt begraben und Thersites kehrt zurück. So hat vor einigen Jahren der Besitzer eines 100pferdigen Mercedes auf der Tombola des Presseballs ein Kleinauto gewonnen, und auf dem Fliegerball bekam nicht das Schneiderlehrmädchen die Nähmaschine, sondern ein Großkonfektionär. Wo schon ein Haufen liegt, macht der Teufel immer einen neuen dazu, pflegte man früher zu sagen.

Aber die Glücksmänner verstehen ihr Geschäft. "Hals- und Beinbruch! Zum Auszahlen komme ich gleich wieder an Ihren Tisch!", erklärt laut der eine, der täglich etliche Dutzend Male in den Lokalen in der Leipziger Straße alle Schmausenden abpatrouilliert. Da greift man die gelben Umschläge, und überall raschelt es. "Nichts."  "Nichts." Nun wenn schon, das macht nichts. Oder doch: man ist eben Wohltäter der Nation; in aller Stille und ohne jegliches Aufsehen ist man der unbekannte Opferdarbringer der Notzeit. Außerdem haben die zwei Damen doch ihren Spaß daran, ihre halbe Minute aufregender Spannung. Ein anderer Glücksmann, im Berliner Westen, ist noch ein besserer Psychologe. Der ruft. "Nur wer wagt, der gewinnt! Wer nicht heiratet, der bekommt kein Ehestandsdarlehen!" Das zündet, das leuchtet jedem ein, da gehen die Lose ab wie warme Würstchen um 3 Uhr morgens an windigen Straßenecken. Man ist immer wieder erstaunt, wie geschickt und liebenswürdig einem heute das Geld lose gemacht wird.

Auch wenn wir lachend spenden, Hand aufs Herz, es bleibt doch noch immer genug da, womit wir unser Vergnügen bezahlen. Das wirkliche Opfer beginnt erst bei dem Verzicht. Ich habe aber noch niemand getroffen, der um der Plakette willen eine Zigarre oder für ein Los einen Kinobesuch ausgelassen hätte.

Leben und leben lassen!

Auf dem Gebiet des Films ist der Berliner ja bevorzugt und etwas verwöhnt. Er hat meist das jus primae noctis, ich meine, den Genuß der Uraufführung, er hat Kinopaläste mit riesigen Wunderorgeln und mit "lebenden" Darstellungen auf der Bühne von hohem Rang, er sieht leibhaftig seine Stars auf der Vorbühne und wohl gar führende Staatsmänner in den Logen. Außerdem hat vielleicht schon jeder tausendste Berliner einmal in das Werden eines Films draußen in Neubabelsberg hineingeguckt.

In einem der ungeheuren Tonateliers ersteht da eben das Gelände vor einer alten Feldbefestigung, mächtige Palisaden hinter Gräben, davor eine sandige, hügelige Landschaft. Hier soll "Das Mädchen Johanna" in klirrender Rüstung daherschreiten, Gott und König und Vaterland im Herzen. Bei Schiller in seiner "Jungfrau von Orleans" haben wir noch diesen Aufschrei des Herzens. Bei Voltaire in seiner "Pucelle" ist sie schamlos-schmutzig in eine Lagerdirne zerwitzelt. Bei Shaw in seiner "Heiligen Johanna" dreht sich alles um die Verächtlichmachung ihrer Richter, der englischen Offiziere und der kirchlichen Prälaten im besetzten Gebiet. Der französische Film "Jeanne d'Arc" mit seinen ungeschminkten Großaufnahmen, vor einigen Jahren gegeben, war ein auf die Nerven gehendes Märtyrerstück. Sicherlich wird nun in Gerhard Menzels Werk, das diesen Winter über in Neubabelsberg gedreht wird, der heldische Idealismus und das Gottgesandtsein wieder zu seinem Rechte kommen. Vielleicht wird das "der" Film des Jahres; auch der Führer und Reichskanzler will ihn jedenfalls schon im Entstehen gern kennenlernen, so wie er auch Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" teilweise vor der Fertigstellung sich hat vorführen lassen. Es geht nicht an, daß die Kunst ausschließlich heroische Motive hat, aber wir atmen doch auf, weil sie nicht mehr als rückständig ganz verbannt werden.

Wir haben trübe Jahrzehnte hinter uns, in denen das auf jedem Gebiete der Kunst geschah. Kunst ist Geschäft, und das Geschäft ist eine Kunst, wurde uns vorgelebt; es war ganz gleich, ob man mit Hasenfellen oder mit Bildern, mit Mädchen oder mit Schlagern, mit Schlachtvieh oder mit Altertümern, mit Kokain oder mit Aktien handelte. Wir waren ohnmächtig dagegen, denn die geschäftliche Internationale war glänzend organisiert.

Da arbeitete man Hand in Hand. Die Zeitschrift "Kunst und Künstler" gab Bruno Cassirer nur heraus, um seinem Vetter, dem Gemäldehändler Paul Cassirer, die Hasen in die Küche zu jagen. In jeder Nummer erschienen Lobhudeleien auf den "größten deutschen Maler", Max Liebermann, dessen Bilder durch Paul Cassirers Salon gingen, oder auf die französischen Impressionisten, die auf dem Wege uns eine Inflation der Kleckse brachten.

Jetzt ist Liebermann, 88 Jahre alt, zu seinen Vätern versammelt und in Abrahams Schoß eingegangen. Er war nie groß, er wurde nur, das verstanden seine Leute immer, groß "herausgestellt". Die Kunstkritiker, Karl Scheffler und Julius Meier an der Spitze, regierten die willfährige Presse, und diese tyrannisierte die Galeriedirektoren in ganz Deutschland, bis sie alle ihren Liebermann und ihre Franzosen hatten. Geschäft ist Geschäft. Ein Bild von Liebermann? Unter 30 000 Mark nicht zu machen! Dabei fielen für Kunsthandel und Kunstkritik ganz fette Provisionen ab; und bis in städtische Rathäuser hinein wurden die Schmierereien gelotst.

Wie fiel man über den Kaiser her, als er sich einmal gegen diese "Rinnsteinkunst", gegen das betont Häßliche und Schluderige gewandt hatte! Er sei ein Laie, er sei ein Banause, er habe keine Ahnung. Dabei steht eines doch fest: Max Liebermann ist der größte - Plagiator aller Kunstepochen gewesen. Er war, was ja seiner Rasse eigentümlich ist, nie schöpferisch, sondern immer nur Nachahmer. Als er, der 1918 auf seinem Palais am Pariser Platz die rote Fahne gehißt hatte, 1933 den Präsidentenstuhl der Akademie verlassen mußte, sagte er: "Wieso denn? Was hat denn Kunst mit Rasse zu tun?" Du liebe Güte. Man braucht bloß den Kölner Dom mit einer chinesischen Pagode, den Zeus von Otricoli mit einem geschnitzten Südseegötzen, Beethovens Eroica mit einem Rumba zu vergleichen, dann ist man im Bilde. Liebermann aber hatte nicht einmal etwas rassisch Eigenes, sondern schrieb nur ab, schrieb mit affenartiger Geschwindigkeit ab und schrieb schlecht ab. Munkacsy malte 1871 seine "Charpiezupferinnen", Liebermann 1872 seine "Gänserupferinnen": schon da ist der Diebstahl in die Augen fallend. Nur sind Liebermanns Kopien immer verdreckt, blutlos, ohne Knochen und Muskeln, leichenhaft, sogar - um von den Menschen nicht erst viel zu sprechen - seine Bäume sind Pappkulissen, und seine gemalten Pferde, das ist das einzig echte, haben dieselbe Hängenase wie er selber. Alles, was Erfolg hatte, hat er sofort auf diese Art vervielfältigt, auch den urdeutschen, herrlichen, von ihm verfälschten Uhde ("Tischgebet"), ebenso Menzel ("Kösen"), ferner Trübner, Millet, Degas, Manet, überhaupt alles, was gerade in Mode war.

Natürlich haßte er, als guter Geschäftsmann, jede Konkurrenz bis zur Raserei. Dem Maler Lesser-Ury, seinem eigenen Volksgenossen, schlug er einmal auf dem Pariser Platz mit dem Regenschirm um die Ohren.

Der größte deutsche Meister, den es seit Dürer und Holbein gegeben hat, Wilhelm Leibl, wurde in der Öffentlichkeit ebenso auf ein Nebengeleise geschoben wie der kernig-innige Fritz Uhde oder der grobschlachtige, aber lebenstrotzende Lovis Corinth, während auf dem Haupte des Leichenschauhäuslers Liebermann sich alle Ehren häuften. Sogar das Kollegium der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite wählte ihn in seine Mitte! Unwillkürlich kommt einem Schillers Wort in den Sinn: "Ich sah des Ruhmes heilige Kränze auf der gemeinen Stirn entweiht."

Es ist in kulturellen und Kunstdingen noch nicht ganz so, wie wir es wünschten, es gibt noch zu viele Eiferer und Dogmatiker, zu wenige Kenner und Könner, es steht auch noch mancher im Schatten, der in Bild oder Schrift oder Ton leuchten könnte, aber wenigstens die Aera Liebermann ist erledigt. Seine Bilder sind heute schon fast wertlos und werden ganz wertlos werden; sie müßten nun endgültig aus den Galerien entfernt werden, um für die deutsche Kunst Platz zu schaffen, vor allem müßten die vielen Selbstporträts dieses alten Ahasver sofort verschwinden.

Man bebt noch nachträglich voll Zorn in Erinnerung an unsere in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet vergeblichen leidenschaftlichen Kämpfe.

Was sind unsere Gemäldesammlungen verschandelt worden!

Die Porträts aller großen Preußen sind in das Rote Haus hinter der Kommandantur, das dem Publikum kaum bekannt ist, abgeschoben worden. Das beste Lenbach-Bild Bismarcks, noch von Wilhelm I. bestellt und der Nationalgalerie überwiesen, mußte weichen. Statt dessen ließ der Direktor Justi im Kronprinzenpalais die Bronzebüsten der beiden Kunsthändler Paul Cassirer - aus Schwientochlowitz - und Alfred Flechtheim aufstellen, damit man in der Weimarer Republik doch das richtige Schönheitsideal vor Augen habe.

Fehlte bloß noch Tilla Durieux-Cassirer, von Liebermann als nackte Delila gemalt, oder die Bergner als heilige Johanna.
14. Febr. 1935 (Donnerstag)


20

Der alte Kriegskamerad - Christnacht-Erinnerung aus dem Osten - Die Bauten für den "Amphitryon"-Film - Ein Szenchen in Neubabelsberg - Parodietheater - Autoausstellung und Erfinderwelt - Die "Wiederbelebung der City" - Marlene Dietrich an der Kranzler-Ecke.

Plötzlich steht draußen in Neubabelsberg, in der Kantine, in die ich aus der Tonhalle zu einer Tasse Kaffee gegangen bin, ein alter Kriegskamerad vor mir. Er macht runde Augen, ich auch; ich frage, was er hier zu tun habe, und er fragt mich das gleich.

Ja, das war in dem eisigen Winter im Osten, wo wir Weihnachten feierten, in einem ausgebauten großen Unterstand, man kann ihn beinahe Stollen nennen. Vor dem aus Zeltbahnen geknüpften Vorhang stand als Prologus ein Kriegsleutnant, Bergassessor im Zivilberuf, deklamierte etwas von der Christgeschichte und blieb prompt stecken. Da aber gingen die Zeltbahnen nieder, und wir sahen das mit viel Mühe und wenig Lappen und Lumpen gestellte lebende Bild: Maria mit dem Kindlein in der Krippe, Josef, die Hirten, dazu in der Ecke ein Kalb; einen Esel hatten wir nicht auftreiben können.

Es war die tiefste Ergriffenheit, die ich je erlebt habe. Von meinen Leuten, größtenteils Märkern, waren die meisten unwillkürlich niedergekniet. Sie hielten die Hände gefaltet und starrten.

Maria, ein netter junger Soldat, hatte sich natürlich dazu den Schnurrbart abrasieren müssen. Am schwierigsten war mir vorher die Darstellung des Jesuskindes erschienen. Aber da wußte Schulze-Mittendorf Rat. Den hatte ich, einen bescheidenen und still seinen Dienst tuenden Mann, erst kürzlich dank seiner auffallend gebildeten Sprache entdeckt, aus der Masse hervorgeholt und auf den Weg zur Offizierslaufbahn gebracht. Er war Bildhauer. Und nun hatte er aus einer Kohlrübe, anderes Material hatten wir nicht, ein entzückendes Kinderköpfchen geschnitzt und bemalt, und das lächelte uns aus Lumpen in der Krippe an. Draußen donnerten die Kanonen. Hier bei uns aber war noch einmal der Heiland geboren.

Dieser Bildhauer lebt nun seit langen Jahren in Berlin und macht Architektonisches und sonstiges für Filme, auch wieder aus meist vergänglichem Material. Gerade hat er eine Kollossalstatue des Zeus vollendet,die im "Amphitryon" der Ufa, dem neuen klassischen Bierulk, Verwendung finden soll. Ich sehe mir auch die übrigen Bauten an, das prächtige altgriechische Luxusbad, die großen bemalten Amphoren, die heroische Landschaft.

Schon Plautus und dann Molière haben die Sage, nach der Zeus in Gestalt des Amphitryon dessen Gattin Alkmene naht und den Halbgott Herakles zeugt, vergnügt verarbeitet. Es ist eben ein galanter Schwankstoff. Wenn die Griechen selber, schon etwas skeptisch geworden, das Menschlich-Allzumenschliche ihrer Götter verulkten, warum sollten andere es nicht tun? "Die schöne Helena" und "Orpheus in der Unterwelt" sind des Zeuge; dem Komponisten Jacques Offenbach lag das Parodieren besonders, und noch in den letzten Jahren hat Max Pallenberg in Berlin als Meneläuschen die lächerlichste und eigentlich erbarmungswürdigste Rolle seines Lebens gespielt.

Hier im werdenden neuen "Amphitryon" habe ich mir das Drehen einer Szene angesehen. Der Gott Merkur, des Zeus Begleiter auf dem Seitensprung zur Erde, kommt - es ist unser Komiker Kemp - in der Maske des Sosias, des Gatten der Alkmene-Zofe Andriea, zu dieser, meckert, schnauzt, läßt sich Wein geben, läßt sich von ihr den Rücken schrubbern. Andriea ist willig und geschäftig, sie trällert Schlager, kommt aber bei der Rüdigkeit ihres vermeintlichen Gemahls allmählich aus dem Singen ins Schluchzen. Das agiert die Darstellerin - Fita Benckhoff - ganz entzückend. So etwas inszenierten früher manche Schaubühnen. Aber die Ufa macht, glaube ich, mit diesem "Amphitryon" zum erstenmal den Versuch, einen übermütig-beschwingten Bierulk in klassischem Gewande zu geben. Beim Parodieren liegt die Gefahr einer Entgleisung ins Schmierige, à la Herrenabend, natürlich immer nahe. So ist mir Blumauers "Aeneis" aus längst verklungenen Zeiten, wo dergleichen zur Bildung gehörte, noch in widerlicher Erinnerung. Aber man kann ja saftig sein, ohne gemein zu werden.

Einer reizenden Engländerin, der jungen Miß Ward aus London, die dort mit der Bergner gefilmt hat, paßt schon der "Amphitryon" nicht. Sie sieht sich wie auch ich ein Szenchen an. Nein, sagt sie bei der Betrachtung der klassischen Kostüme, so wenig angezogen möchte sie doch nicht auftreten; dabei ist das wirklich gar nicht etwa so ausgefallen toll. "Klapp!", da ertönt die Scheere der Parze, ist das Szenchen schon zu Ende. "La répétition française, s'il vous plaît!", ruft der deutsche Spielleiter; nun kommt also die Aufnahme in französischer Fassung, und der Pariser Darsteller des Merkur, lange nicht so komisch wie unser Kemp, ist noch nicht bereit, ruft noch nach seinem Anschnall-Bauch, den er irgendwo hat liegen lassen.

Vor langen Jahrzehnten existierte in Berlin, weil ein Bedürfnis darnach vorhanden war, ein eigenes Parodietheater. Es veralberte alles. Leider waren weder die Verfasser noch die Schauspieler erster Klasse. Bei einem von diesen - er war eigentlich Tischler, hätte also gut zu den Komödianten in Shakespeares "Sommernachtstraum" gepaßt - hatte ich, in der Brüderstraße, ein paar Wochen ein möbliertes Zimmer inne. Seine Frau kochte elenden Kaffee, eine Lorke, einen Plurksch, wie man es auf Deutsch nennt, er aber gab dafür Freibilletts. So habe ich mir "Die Ehre oder die Jöhre oder wenn ich so was höre, von Hermann Suderfrau" angesehen und, entsetzlich, auch eine Tannhäuser-Verballhornung. Heute stellt man größere Ansprüche. Ein solches Theater wäre selbst bei studentischer Fiducität nicht mehr möglich.

Man hat ja auch andere Interessen. Gewiß braucht man zu seiner Entspannung gelegentlich einen leichten Film, aber Parodie bleibt eben Parodie, und das wahre Leben, so heißt es heute, ist draußen am Kaiserdamm. Hunderttausende haben die Autoschau besucht. Mehr oder weniger sachverständig mustert jedermann die Modelle; denn auch für sogenannte kleine Leute rückt der Kraftwagen in den Bereich der Anschaffungsmöglichkeit, sogar unter die früher für unerreichbar gehaltene Grenze von 1500 Mark. Allerdings erheblich teurere Sportzweisitzer in Stromlinienform, die ein Rennauto vortäuschen, bei ihren etwa 100 Stundenkilometern Reisegeschwindigkeit die Stromlinie aber gar nicht nötig hätten, sind für diese Ausstellung vielleicht das Bezeichnendste gewesen. Es geht jedenfalls rasend vorwärts seit dem starken Impuls im neuen Staate; 1923 verfügte Deutschland über 213 000 Kraftfahrzeuge, 1934 aber schon über 1 746 000, das ist doch wirklich eine unerhört steile Kurve.

Ja, man erfindet schon allerhand; nur auf das Notwendigste und Einfachste kommen die Menschen noch nicht. Ich denke mir da etwa einen Hebekran, der einen abends in irgendeiner Gastwirtschaft sanft lüftet und in das Bett zu Hause befördert. Oder an eine Pille, die man abends schluckt, um daraufhin morgens fertig frisch rasiert zu erwachen.

Auf jeden Fall hat die Internationale Automobilausstellung Berlin einen ganz ungeheuren Fremdenstrom nach Berlin gelockt, wovon besonders das Gasthausgewerbe profitiert hat, aber auch jedes andere. Man spricht so viel von der "Wiederbelebung der City", von Innen-Berlin, und veranstaltet dazu Promenadenkonzerte und schafft neue Anziehungspunkte für den vielgeliebten Provinzonkel, wozu jetzt auch, Jahrzehnte nach dem Eingehen von Castan, ein Wachsfigurenkabinett am Pariser Platz gehören soll. Aber neuzeitlich, anständig, prima natürlich, nicht mit Schreckenskammer, nicht mit anatomischem Museum, nicht mit Raubmörder Sternickel und Schusterhauptmann Voigt. Hand in Hand damit geht das Bestreben, die Innenstadt moralisch zu entsumpfen; ein Tanzcafé im lateinischen Viertel, früher fast nur von Studenten, heute vorzugsweise von Soldaten besucht, hängt an seiner Drehtür das Plakat aus: "Damen zweifelhaften Berufes ist der Zutritt verboten." Man meint natürlich: eines gewissen unzweifelhaften Berufes. Aber verstanden wird auch dieses zweifelhafte Deutsch. Den Beruf jeder eintretenden Dame sofort zweifelsfrei festzustellen, ist kein Kellner und kein Geschäftsführer in der Lage. Meist sind es Ladenfräulein aus der Umgegend, sonntags und donnerstags auch wohl Hausgehilfinnen, sehr selten eine Laborantin oder Studentin.

Die Fremden bleiben mehr im Zentrum. Das Zentrum von Berlin ist - nicht topographisch, aber kulturgeschichtlich - die Kranzler-Ecke Unter den Linden, wo es früher immer den großen Silvesterkrach gab. Unten ist noch immer das Kaffeehaus, vor dem sich alle Ausländer treffen, und oben wieder das Weinrestaurant. Es ist jetzt just 75 Jahre her, daß im Berliner "Publizisten", einer inzwischen längst eingegangenen Zeitung, die Notiz stand: "Der Konditor Kranzler errichtet in seiner Belle-Etage ein elegantes Estaminet." Da haben in der Blütezeit Berlins vor dem Kriege besonders die internationalen Artisten mit Riesengehältern verkehrt; der "Wintergarten" ist ja nur 3 Minuten von hier entfernt. Jetzt kommen manchmal auch Filmgrößen her, wenn sie nicht ihren Stammplatz bei Peltzer in der Neuen Wilhelmstraße, auch ganz in der Nähe der Linden, vorziehen.

Es war wohl bei Kranzler, wo ich einmal, in bester Gesellschaft, Marlene Dietrich gesehen habe, den späteren Vampyr von Hollywood. Sie ist richtige Berlinerin, wohnte in der Kaiserallee und ist seither "durch verschiedene Hände gegangen", ein hochbegabtes Geschöpf, wirklich mehr als nur Vampyr. Sie ist, offiziell eine Frau Siebert, an Hollywood gebunden, wo ihre Anbeter sitzen; ihrem Manne, Siebert, hat sie ein Pöstchen in Paris besorgt. Die Unstetigkeit in der Filmwelt ist doch die Regel. "Den einen küss' ich, den zweiten lieb' ich, den dritten heirat' ich einmal." Oder auch - umgekehrt. Darauf muß man heute natürlich gefaßt sein, sagte mir vor ein paar Jahren ein junger Leutnant. Ich aber denke, es kommt doch wieder einmal, wie es einst war, wo ich selber auf Freiersfüßen ging und bestimmt wußte, daß die Meine nie etwas anderes dachte oder gedacht hatte oder denken würde als: "Den einen küss' ich, den einen lieb' ich, den einen heirat' ich einmal!"
21. Febr. 1935 (Donnerstag)


21

Meyerbeer auf dem Index - Unsere Hugenotten - Die Börse für Zuschauer wieder geöffnet - "Zehntausend an Sie!" - Farbenfilm-Hoffnungen - Bockbiertage in der Neuen Welt.

Von Giacomo Meyerbeer, dem Berliner Bankierssohn Jacob Liebmann Beer, dem Komponisten aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, möchten unsere Refugiés, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 in Preußen ein Asyl fanden, zu ihrer Viertel-Jahrtausend-Feier gern die Oper "Hugenotten" aufgeführt sehen, aber den Gefallen tut ihnen die Staatsoper nicht. Wir können auch ohne Herrn Meyerbeer existieren, über dessen "kranke wütende Musik" sich schon der junge Bismarck als sein zeitweiliger Unterwohner ärgerte; ohne diesen Jacob-Giacomo, der nach einem Jahre Aufenthalts in Italien schrieb, alle seine Gedanken und Gefühle seien italienisch, er komme sich vor wie ein geborener Italiener, dann in Paris zum kompletten, revolutionär antipreußisch eingestellten Franzosen wurde, um schließlich doch wieder als Königlicher Hofmusikus in Berlin zu enden. Den Parisern zu Gefallen komponierte er den "Robert le Diable" mit dem schlüpfrigen Nonnenballett darin, und genau so variétémäßig aufgezogen, ohne jede Glaubenstiefe, gänzlich unfromm ist seine Hugenottenoper, die um des Stoffes willen und auch wegen ihrer unleugbaren Klangschwelgerei häufig gegeben worden ist, aber im neuen Deutschland nun endgültig verschwindet.

Unsere Berliner Hugenottenabkömmlinge, die v.François, de la Chevallerie, v.Fouqué und wie sie alle heißen mögen, müssen sich schon eine andere Festvorstellung aussuchen. Vielleicht wäre ein Schauspiel eines rechten Deutschen aus Österreich, Schönherrs "Glaube und Heimat", doch noch erhebender als die Oper jenes mit Heinrich Heine liierten Internationalen, der sich durch schwere Bestechungsgeschenke an einen Kritiker den Berliner Boden einst wieder ebnen ließ.

Es geht auch so. Es geht überall auch so, nämlich mit Ausmerzung und Reinigung. Man denke: sogar an der Börse. Die galt doch wirklich als Domäne derer, die sich gestern Polen nannten, heute Deutsche, morgen Franzosen. Jetzt ist sie stark entgalizisiert. Das große Publikum kann das ab 1.März feststellen. Es darf wieder herein. Wenigstens auf die Galerie, auf die Marmorbrücke hoch oben zwischen den beiden größten Sälen, um auf das Gewühl herniederzuschauen. Ich selbst bin früher gelegentlich auch unten gewesen, dank einer Erlaubnis, die der alte nationale Berichterstatter Alfred Schütze für mich erwirkt hatte. Die infernalischen Szenen dort im Auf- und Abwogen der Kurse habe ich dann geschildert. Bis jetzt ist also die Börse für Nichtzugehörige hermetisch geschlossen gewesen. Nur fern ab habe ich hin und wieder über ihre Entwicklung mit irgendeinem Bankherren oder dem Staatskommissar für die Börse sprechen können.

Geblieben ist auch heute die Form, die laute Form von Nachfrage und Angebot, das Armrenken, das Gebrüll, die ganze, etwas fieberige Atmosphäre einer Spielergemeinschaft. Gespielt wird ja im Grunde nicht mehr, sondern reell gekauft und verkauft, aber Gewinn und Verlust bei dem Besitzwechsel von Wertpapieren oder Landesprodukten machen trotzdem die Erregung erklärlich.

Es existiert auch immer noch, wenn gleich sehr eingeschränkt, der sogenannte Kriegerverein: keiner hat etwas, aber jeder hat vom andern - etwas zu kriegen. Auch wird immer noch nach der alten, inzwischen abgeschafften Münzeinheit, dem Taler, gerechnet. Wenn zwei innerhalb eines Häufleins, in dem ein Papier gehandelt wird, sich anschreien:

"Zehntausend für mich!"

"Zehntausend an Sie!",
dann ist das Geschäft perfekt, es ist so gut wie das Amen in der Kirche oder wie die Unterschrift von Morgan-Newyork; aber es bedeutet nicht, daß der eine für 10 000 Mark vom andern etwas gekauft hat, sondern für 30 000 Mark. Meist natürlich nicht für sich, sondern für irgendeinen Kunden, der seiner Bank den Auftrag erteilt hat.

Man geht heute nicht mehr "an die Börse", um große Vermögen zu erraffen. Der Palazzo in der Burgstraße an der Spree ist seiner eigentlichen Aufgabe wiedergegeben, der Regler und Ausgleicher auf dem Geldmarkt zu sein. Wer etwas Großes vorhat, der geht "zu den Banken", um sie für seine Pläne zu interessieren, und da ist alles ruhig und sachlich.

Wir leben in keiner Gründerzeit, aber wer den Handelsteil der Zeitungen liest, der stößt doch fast täglich auf irgendein absonderliches Projekt. Da ist dieser Tage von dem Hofmaler Professor Fischer und Genossen eine Farbenfilm-Gesellschaft aufgemacht worden, und da recken sich natürlich die Hälse und die Ohren. Sollten diese Leute wirklich . . .? Also das sagt ja jeder, daß wir den plastischen und daß wir farbigen Film bekommen müßten, dann erst sei er ganz lebensecht und ein voller Ersatz für das Theater. Als vor Jahren der Tonfilm mit Geräusch und Krächzen begann, ahnten wir auch kaum seine jetzige Vollendung, und wenn wir heute einen Stummfilm sehen, in dem Leute den Mund auf- und zuklappen, ohne daß ein Laut herausdringt, lachen wir überheblich. Aber Fischer, Fischer? Das ist doch der Mann in der Passage, der ("von 50 Mark an, Teilzahlung gestattet") Ölporträts anfertigen läßt, in Wirklichkeit: übermalte Photographien. Derselbe Mann, der in einem Vorort von Berlin sich ein phantastisch-kitschiges Heim, gegen Eintrittsgeld zu besichtigen, gebaut hat, mit einer Riesenpalette auf dem Turm, mit viel Gips und Rabitzputz in exotischen Schnurrpfeifereien.

Man soll niemals "niemals" sagen, so wie der berühmte Physiker Helmholtz das Fliegen der Menschen für unmöglich erklärt hat, aber vor den Farbenfilm muß man zunächst doch noch ein dickes Fragezeichen setzen.

Ein Fachmann, der die Anzeige der Fischerschen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Kapital 20 000 Mark, auch gelesen hat, lächelt. "Wissen Sie, dieses Geld reicht gerade fürs Bureau, fallen Sie einmal Filmleuten in die Hände, Herr!" Außerdem: eine Farbenfilmung gibt es nicht, jedenfalls kann man einen Film, also eine Reihe von Bewegungen, heute noch nicht farbig photographieren. Nur etwas Feststehendes - eine ruhige Landschaft, ein Stillleben, das Innere eines Zimmers, ein Bild - dreimal hintereinander. Zuerst auf einem Streifen, der nur für rote Strahlen empfänglich ist. Dann wird der schon einmal belichtete Film noch einmal grünempfindlich und noch einmal blauempfindlich getypt. Schon das kostet sehr viel Geld und muß sehr fest eingestellt sein, damit nicht etwa eine rote Rose nachher blaue Ränder hat, aber ganz unmöglich ist es zur Zeit, irgendwelche Bewegungen dreimal hintereinander vor dem Objektiv millimetergenau wiederholen zu lassen. Ein Pariser Schwindler, der vor drei Jahren den Farbenfilm er"funden" haben wollte, hat seine Gläubiger um Millionen gebracht. Vorerst ist das Ganze immer noch einer der Wunschträume der Menschheit, nichts weiter. Nur grob übermalen kann man natürlich jeden Bildstreifen, und das haben wir schon wiederholt gesehen und als unzulänglich empfunden.

Und doch, und doch: ich höre etwas von einem Mehrschichtenfilm munkeln. Eine andere Gesellschaft habe den heraus. Einmalige Aufnahme: sämtliche Farben! Nun, warten wir einstweilen ab.

Es ist zur Zeit schon genug, daß das Fernsehen demnächst mit Anschluß für jedermann möglich sein wird. Und daß das Volksauto über Jahr und Tag greifbar sein wird. Und daß man alle übrigen Träume durch ein paar Krüge Löwen-Böhmisch in der Neuen Welt in der Berliner Hasenheide anregen kann.

Da ist täglich Hochsaison immer von Weihnachten bis zum 10.März, aber auch im Sommer ist allerhand los, wurden einmal - Kraft durch Freude - im vorigen Jahr in den Sälen und im Garten nicht weniger als 10 040 Personen zugleich beköstigt. Bitte sehr, eine ganze ansehnliche Kreisstadt! Aus einer einzigen mächtigen Küche! Nicht genau so viele Besucher, und doch war es dicht und fidel, traf ich am letzten Dienstag, wo die längsten und dabei leichtesten Damen und die kleinsten und dabei schwersten Herren prämiiert wurden. Paarweise. Es war grotesk. Ich habe nur zwei Zahlen behalten: die Größte maß 1,87 Meter, der Dickste wog 324 Pfund. Im übrigen sorgte eine echt bayrische Gaudi mit Watschentanz und allem übrigen, "Bubenstreiche auf der Alm", recte in einem Gebirgsdorf, für die gute Stimmung. Höhepunkt: der Schwanz einer Pappkuh wird als Pumpschwengel benutzt, und dann fließt Milch aus dem Euter in die daruntergehaltene Flasche. Inzwischen bruzeln vier Mastschweine, Arm in Arm, Kopf gegen das Publikum, hinter der Glaswand des Riesen-Lukullus-Bratofens, schon seit dem Vormittag; denn bis zum Garwerden brauchen sie 9 Stunden. Nun ein Trompetensignal, dann stürzt alles hin, die Bedienung säbelt die Fleischstücke ab, für eine Mark bekommt man eine märchenhaft große Portion und dazu Kartoffelsalat. Nun schmeckt das Bier noch einmal so gut.

Ein junges Pärchen macht hungrige Augen. Sie sind eigentlich nur zum Tanzen und zum Zusehen gekommen, das kleine Ladenfräulein und ihr arbeitsloser Bekannter. Nun bitte ich sie zu mir, einfach, weil es gräßlich ist, sich den Wanst vollzuschlagen, während andere auch möchten, aber nicht können.

Und wie wäre es mit einem Krug Bier?

"Nein, bitte lieber Bowle, die kostet nur 40 Pfennige!", flötet das Mädchen.

Wir sitzen nahe an der Bühne, wir können also auch das "Alpenglühen" gut beobachten, oder das, was als solches dem Berliner vorgesetzt wird: hinter schwarzen Bergkulissen wird am Kuppelhorizont der Himmel dunkelkirschrot und darüber hin ziehen blendend weiße Wölkchen. Musik und Tschingtara und Gsuffa und gemeinsames Singen:

"Ich weiß, mein Schatz,
Dein Herz hat Platz
Für drei, vier Männer noch.
Die schieß ich tot
Ums Morgenrot,
Denn ich bin Jäger doch."

"Ja die Jäger, die sind immer froh,
Und sie küssen, daß es knallt,
Ihren Schatz im grünen Wald,
Denn das woll'n die Mädchen so,
Halli Hallo."

Das kleine Fräulein findet alles wunderherrlich. Ob es so etwas wohl anderswo gebe? Ob ich schon mal im Ausland dergleichen gesehen hätte? Ob ich am Ende gar schon mal in Italien gewesen sei? Und ob Mussolini wirklich Hitler ähnele? Ja, nun muß ich etwas weiter ausholen, ich versuche, möglichst gemeinverständlich den Unterschied zwischen Faschismus und Nationalsozialismus darzulegen, ich erzähle beiläufig auch etwas von den Ideen Nietzsches, den Mussolini und Hitler, beide, schätzen.

Aber da werde ich total mißverstanden. Denn das Mädchen sagt plötzlich:

"Ach, erzählen Sie bloß keine unanständigen Geschichten! Ich kann mir schon denken, was eine blonde schweifende Bestie ist!"
28. Feb. 1935 (Donnerstag)



Glossen 16 - 18

Jahresinhalt

Glossen 22 - 24

© Karlheinz Everts