"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 13 - 15
3. bis 17. Januar 1935


13

Beim Barbier - Neujahr in Person - Wer sitzt am Nebentisch ? - Auf dem Alaaf-Ball - Unsere Gemäldesalons - Nachts im Insel-Klub.

Die Tür wird aufgerissen, ein Mann tritt herein, stutzt.

"Was, wieder so besetzt? Nicht ein einziger Friseurgehilfe für mich frei, wo ich es doch sooo eilig habe? Richtig, da müssen sich ja einige Herren die Haare schneiden lassen! Ausgerechnet zu Silvester, wo sie die ganze Woche zu Zeit gehabt hätten. So 'ne Rücksichtslosigkeit! Wie? Jawohl, Rücksichtslosigkeit. Noch dazu am Abend. Dabei haben sie sicher schon um 3 Uhr Bureauschluß. Ich kann nicht früher kommen, ich muß den Tag rumlaufen, ich bin Vertreter für Gasröhren, verstehense. Soll ich mir jetzt noch hier die Beine in den Leib stehen? Warum haben Sie für Silvester nicht noch extra eine Aushilfe angenommen?"

"Lieber Herr, hab' ich doch, da hinten der alte Mann, das ist er. Aber jeder Herr hat Zeit genug, wenn er vor einer Frau oder einer Molle steht, bloß bei uns Friseuren nie. Da hat er es immer eilig, auch wenn er gar kein Geschäft hat. Nicht wahr, für jeden Kunden müßte extra eine eigene Bedienung da sein? Ein Kollege von mir hat es so gemacht, hatte den größte Friseurladen Berlins, 60 Gehilfen, vor jedem Platz ein Privattelephon. Und was hat er gemacht? Pleite hat er gemacht! Wissen Sie, die richtige Sozialität zeigt der, der Zeit für uns hat. Am liebsten eine Stunde für alles, da verdient man noch was bei."

Ihr könnt mich - in Ruhe lassen, lautet bekanntlich das berühmte Zitat aus Goethes Götz von Berlichingen. So vervollständige ich es jedenfalls für kleine Mädchen. Kurz vor Jahresschluß ist jedermann irgendwie erregt und möchte das Zitat hinausbrüllen.

Man ist nervös schon beim Barbier.

"Und dann, wo Deiwel kann man denn eine Tasse Kaffee trinken?" flucht am Nachmittag der Nichtberliner, der vor Kaffeehäusern und sonstigen Gaststätten auf geschlossene Gitter stößt. Kein Eintritt. Es wird alles für Silvester auf den Schwung gebracht, denn das ist der "verdienstvollste" Tag des Jahres, da sind alle Plätze vorausbestellt, da wird einmal "geschlemmt". Mehr oder weniger. In den großen Hotels - Adlon, Kaiserhof, Esplanade, Eden, Fürstenhof, Bristol usw. - kostet da das trockene Gedeck diesmal 12 bis 18 Mark einschließlich Wohlfahrtsabgabe. In kleinen Lokalen gibt es Festessen zu 2 Mark. Wird die Kehle genügend nachgespült, so ist der Wirt schon zufrieden.

Irgendwie will der Berliner beim neuen Jahre, das für ihn kein Zeitabschnitt, sondern eine etwas rätselhafte wirkliche Persönlichkeit ist, die einem fremd und feind sein kann, einen kreditwürdigen Eindruck machen.

Kredit ist alles.

Also wirft der Berliner - bis zum ärmsten Arbeitslosen - zu Silvester alles verfügbare Geld hinaus, und wenn es nur ein paar Groschen für Feuerwerksfrösche oder eine Lage Bier sind. Also stellt er sich naiv, gutmütig, biedermännisch, dumm, zutraulich, redselig und tut so, als halte er der ganzen Welt alles Seinige zur Verfügung. Das soll die Welt auch sehen, zu Hause merkt es ja keiner, also muß man das neue Jahr irgendwo in öffentlicher Masse erwarten.

Aber da sind manchmal alle guten Vorsätze plötzlich wieder vergessen. Man wird steif, man verkapselt sich. Wenn man früh genug kommt, revidiert man die Namenskarten aller umliegenden Tische, um festzustellen, wie mäßig diesmal die Gesellschaft sei. Da: Dr. Fürchtegott, 6 Plätze. Wird ein schöner Doktor sein, Doktor Philadelphiae vielleicht oder ehrenhalber. "Du, Fritz, schreib' Dir den Namen auf, sieh mal draußen in der Vorhalle im Telephonbuch nach, wo die Leute wohnen und was sie sind!" Und da: Meyer. Einfach Meyer. Das ist doch skandalös, da weiß man nun schon gar nicht, wer hinter einem sitzen wird, ob es (lebt er noch?) der berühmte Erstbesteiger des Kilimandscharo, der Konversationlexikon-Meyer, ist, oder Meyer Tuchwaren in Liquidation vom Hausvogteiplatz. Dann füllt sich's. Man mustert die Toiletten an den Nachbartischen. Man stellt kritisch erhobenen Hauptes fest: da, eine "einzelne" Dame! Und drüben der Herr mit dem Monokel, ob der wohl dinarisch oder nichtarisch ist? Aber man lächelt zum erstenmal still und innig, sowie man einen jungen Mann in Reichswehruniform erblickt. Es wird sicher nett werden. Nur mal tüchtig eins trinken.

In Berlin fängt mit dem Silvesterabend schon der Karneval an, aber nur auf den wenigen Kostümbällen. Auf den anderen bleibt der Berliner förmlich, selbst wenn das Drum und Dran Freude atmet.

Seit nunmehr 60 Jahren bemüht sich der Alaaf, der Klub der Rheinländer in Berlin, seinen Frohsinn an die Spree zu verpflanzen. Seine lustigen Sitzungen mit dem Elferrat in Talar und Narrenkappe, mit den witzsprühenden Ansprachen aus der Bütt, mit dem alljährlich neuen, beim Schunkeln gut zu singenden Karnevalslied machen auch dem Trockensten die Augen feucht. Aber auf dem großen Alaaf-Silvesterball in allen Räumen des Zoo sind die Rheinländer unter den vielen Tausenden eine solche Minderheit, daß sie doch nicht so durchdringen, wie sie möchten. Dazu kommt es nicht, daß sich alles duzt und daß kecke Schelmerei von Tisch zu Tisch hinüberknistert. Je nun, man wirft Papierschlangen und hält dies schon für sehr leutselig.

Es ist bei solchen Gelegenheiten in der Reichshauptstadt keine allgemeine Volksverbundenheit da wie in Köln oder Mainz oder München. Man amüsiert sich unter sich. Jeder Tisch ist ein Volksstamm, der die Sprache des nächsten nicht mehr kennt, und so gibt es im Zoo tausend und mehr Tische.

Der Ruf der rheinischen Lustigkeit hat diesmal aber auch tatsächlich alle Nationen mobilisiert. Daß Münchener Bier in München ganz anders schmeckt als Münchener Bier in Berlin, weiß man. Daß ein rheinischer Ball im Rheinland ausgelassener ist als ein rheinischer Ball in Berlin, ist ebenso klar. Trotzdem will jedermann doch einmal gesehen haben, wie die Riesenkerls in hergebrachter friderizianischer Grenadieruniform - die Funken - dastehen und wie sich der große närrische Umzug vollzieht. Also haben wir Tische voll von Italienern, diese mit den gefärbtesten Mädchen des Abends. Einige Polen stellen nach Mitternacht mit Behagen fest, daß das öffentliche Knutschen vom 1. Januar ab kein Ärgernis mehr ist. Zwei Ägypter, ein Mulatte, verschiedene Chinesen, ein Püppchen von Japanerin tauchen auf. Einmal gerate ich in eine große Gruppe von Indern, von denen ich Habibur Rahman gut kenne. Lustig wird es unter allen diesen Völkern nach dem ersten gemeinsamen Gesang der im Marmorsaal zusammengeströmten Deutschen. Man übersetzt sich das, man atmet vergnügt auf. Nichts vom Rhein, aber auch nichts vom Hakenkreuz, sondern:

"Es war einmal ein treuer Husar,
Der liebt sein Mädchen ein ganzes Jahr,
Ein ganzes Jahr und noch viel mehr,
Die Liebe nahm kein Ende mehr!"

Es gibt eben alte Schlager, die fast unzerstörbar sind. Manche der einst volkstümlichsten, so "We have no bananas to-day", hört man nirgends mehr. Aber Verfasser und Komponist sind zu Multimillionären geworden, und auch der Übersetzer ("Ausgerechnet Bananen") in Wien hat ein kleines Vermögen damit gemacht. Da hat Fortuna noch ein Füllhorn, während die übrige Kunst kümmerlich nach Brot geht.

Früher ging man zu Schulte Unter den Linden in die ständig wechselnde Gemäldeausstellung auf seine Jahreskarte hin jede Woche einmal, unterrichtete sich über zeitgenössische Kunst und - kaufte sogar, wenn es etwa ein Hochzeitsgeschenk für ein junges Paar galt oder eine Jubiläumsgabe für einen verdienten Kollegen.

Schulte ist nicht mehr.

Es gibt noch kleine Gemäldesalons, in denen hie und da ein begabter Maler oder Bildhauer - so gegenwärtig Fräulein Anna-Gela Krug v.Nidda gute Porträts und anderes beim Kunsthändler Carl Christian Schmidt in der Meinekestraße in Charlottenburg - seine Werke gesammelt ausstellt. Und dann gibt es noch einen ganz großen Mann, in der Bellevuestraße in Berlin, den Kunsthändler Haberstock, der - in Deutschland und im Auslande - meist aber nur ganz außerordentlich wertvolle Kunstwerke, Museumsstücke, erwirbt und verkauft.

Wir haben einen Weg nötig, der Künstler und Publikum zusammenbringt. Den hat der wackere Weigelt in der Innsbrucker Straße 11 gefunden. Er hat da sein Insel-Kaffeehaus, das weitberühmte, in dem man aber tagsüber weder Kaffee noch sonst etwas bekommt, sondern nur rund 80 Gemälde (mit Preisangabe!) an den Wänden oder Blätter mit Zeichnungen auf den von innen her erleuchteten Tischen unter der Glasplatte sehen kann. Abends wird es voll. Da sind wohl auch manche Künstler zu treffen, deren Bilder - die Ausstellung wechselt alle paar Monate - aushängen, so daß sich mit ihnen noch darüber sprechen läßt, ob dieses Werk wirklich 400 Mark koste und jenes unter 350 nicht zu haben sei. Es wird in dem Kaffeehaus getanzt, mal nach einem elektrischen Grammophon, mal nach einem Universal-Jazzband-Instrument, mal nach dem Spiel von zwei Männern mit Schifferklavier. Man ißt und trinkt, wie man will, sehr billig oder auch etwas verschwenderisch. Aber immer sehen einen die Bilder an und sagen lautlos: Lieb' mich, kauf' mich, behalt' mich! Ich will offen gestehen, daß ich auf solches Locken nicht mehr reagiere, weil ich das habe, was ich an meinen Wänden brauche, und nicht daran zu denken ist, daß ich "mich vergrößere", wie der Berliner zu sagen pflegt. Eher ziehe ich mal in eine kleinere Wohnung. Aber es gibt doch Leute, die in Weigelts Insel-Kaffeehaus den Anstoß zu einem Kauf bekommen. So werden Tausende von Mark hier umgesetzt.

Das ganze Lokal erwacht erst gegen 10 Uhr abends zum Leben. Der Hauptbetrieb ist nachts nach der Polizeistunde um 3 Uhr für den geschlossenen Insel-Klub. Dazu haben Ringelnatz und Lambertz-Paulsen und Sarrasani und andere sehr bekannte Menschen gehört. Es sind noch heute über 3000 Inselbrüder. Man geht nach den Bällen da hin, wenn man Mitglied ist oder von einem Mitglied eingeladen ist. Dann wird in den gut ausgestatteten Kellerräumen, wenn oben alles überfüllt ist, eine entzückende zweite Bar improvisiert. Wer hat, hat. Und wer nicht hat, der nimmt eben nur eine billige Erbsensuppe. Eines ist mir einmal aufgefallen, nämlich daß so viele Künstlerjünglinge hier verkehren, während ihre Damen häufig ältere Semester zu sein scheinen.

Die unausgesprochene Parole des Hauses lautet jedenfalls:

"Laßt Blumen sprechen! Aber kauft Bilder!"
3. Jan. 1935 (Donnerstag)


14

Es wird gebuddelt - Fort mit den Linden Unter den Linden - Frontausstellung, Ehrenmal, Kriegsmuseum - Verfall in der Nationalgalerie - Bilderstürmer - Der stärkste Mann Berlins - Gefolgschaftstreffen der Ufa - Straffe Erziehung.

Man kommt von Dresden und will nach Swinemünde. Wie macht man das? Wo eine Stadt einen Zentralbahnhof hat, in dem alles mündet und von dem alles ausgeht, ist es sehr einfach. Aber Berlin hat nur eine durchgehende Ost-West-Verbindung, und außerhalb liegen nördlich und südlich einsam der Lehrter und der Stettiner, der Potsdamer, Anhalter und Görlitzer Kopfbahnhof. Ganz wie in London oder Paris. Da haben es die Leipziger und andere deutsche Großstädter viel besser. Also wie macht man es, wenn man irgendwo aus dem Süden nach Berlin kommt und an die Ostsee möchte? Man setzt sich in den Omnibus 10A und fährt vom Anhalter zum Stettiner Bahnhof. Hat man aber schweres Gepäck, so muß man sich schon eine Droschke leisten.

Das soll nun anders werden. Wir bekommen eine Untergrundbahn zwischen diesen beiden Stellen. Mit Zwischenanschluß an die Ost-West-Strecke am Bahnhof Friedrichstraße. Der Potsdamer verschwindet wohl überhaupt von der Oberfläche. In anderthalb Jahren hofft man das Riesenwerk zu schaffen. Im Olympiajahr wird es vielleicht fertig.

Aber wie sieht Berlin bis dahin aus!

Nicht schön.

Unter den Linden wird gebuddelt. Die Mittelpromenade, diese historische Allee, die Siegeseinzüge und Brauteinzüge sah, ist ein gähnendes Loch zwischen Bauzäunen. Ein großer Teil der Bäume ist schon gefällt. Später sollen neue angepflanzt werden.

Es ist also einstweilen nichts mehr mit unserer Prachtstraße. Ich gehe sie gerne schon deshalb entlang, weil sie für mich in gewissem Sinne eine Kriegserinnerung bedeutet: sie ist 41 Meter breit, und das ist genau die Flügelspannung unserer R-Flugzeuge von 1917, die aber zu unbeholfen waren, um viel ausrichten zu können. Der englische Handley-Page, der russische Sikorskij waren ähnliche Ungetüme, während heute nicht einmal unser größtes Landflugzeug für 32 Passagiere, das der Kapitän Brauer führt, diese Maße erreicht. In einem R-Flugzeug bin ich einmal beinahe verbrannt.

Unter den Linden befindet sich die Ausstellung "Die Front" mit ihren Erinnerungen an den Weltkrieg, darunter - neben vielem Originalen - einer Nachbildung der Dicken Berta. Unter den Linden, ebenfalls an der Nordseite, stehen vor der ehemaligen Neuen Wache, die jetzt das Ehrenmal für unsere Gefallenen birgt, täglich zwei Soldaten vom Wachregiment wie aus Erz gemeißelt Posten. Unter den Linden sehen wir als letztes Gebäude vor der Spree das Zeughaus, das bisher ein Museum alter Waffen vom 12. bis zum 19. Jahrhundert war, aber jetzt unter Admiral Loreys Leitung auch den letzten Weltkrieg einbegreifen will.

Im Lichthof, wo von den Postamenten die 1870/71 eroberten französischen Geschütze uns entführt worden sind, wie überhaupt alle Trophäen aus fast einem Jahrtausend französisch-deutscher Kämpfe, stehen ein paar deutsche, unbrauchbar gemacht Kanonen moderner Art und Bemalung, aber nicht der ganz großen Kaliber. In dem Vorraum hängen die Flugzeuge Bölckes und Richthofens, des 40maligen und des 81maligen Luftsiegers. Links davon im Erdgeschoß präsentieren sich die ersten Anfänge der Loreyschen Arbeit, im Gipsmodell eine deutsche, von Granattrichtern übersäte Stellung im Argonner Wald und eine Anzahl von Porträts und Kriegsbildern aus dem Osten. Das ist noch ein bißchen karg. Wer das ungeheuer eindrucksvolle War-Museum in London kennt, das bis zur Spionage einschließlich den Besuchern alles Wissenswerte zeigt und voll höhnischer Überlegenheit auch die Not des blockierten Deutschlands, dazu tausend in unseren Schützengräben aufgelesene Kleinigkeiten bis zur Manoli-Zigarettenschachtel neben der schwersten nach dem Waffenstillstand ausgelieferten Artillerie, der weiß, wieviel wir noch zu sammeln haben.

Seit Jahren bin ich für dieses Weltkriegsgedenken eingetreten. Die Novemberregierung hatte dafür kein Verständnis, sie wollte nichts von Heldenverehrung wissen. Wir aber wollen die Leistung des Volkes und seiner Führer in 4½ Jahren des Widerstandes gegen die ganze Welt verewigt sehen. Auch was unsere Frauen getan und gelitten haben, bedarf der Ausstellung. In privatem Besitze gibt es noch wahre Schätze, die hierher gehören, der ganzen Nation und ins Angesicht der Völker. Ein Berliner hat noch den Säbel des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, den dieser zurückließ, als er in Zivil aus Ostpreußen floh.

Geht man über die Linden hinaus, in den Lustgarten und Umgegend, auf die Museumsinsel, so umfängt einen Vorkriegsdeutschland, dazu das Altertum aller Länder bis in die Jahrtausende vor Christo.

Dazu die Nationalgalerie: deutsche Kunst im 19. Jahrhundert.

Die Säle mit den Werken Moritz v.Schwinds, Anselm Feuerbachs, Schnorr v.Carolfelds, Arnold Böcklins habe ich oft durchwandelt, bevor ich hinüber zum Pergamonaltar, zur Tempelstraße Babylons, zum Markttor von Milet ging, aber längere Zeit habe ich stets dort verbracht, wo Adolph v.Menzels Bilder hängen.

Nun wieder einmal. Und da ist die große Angst über mich gekommen. Eines der bekanntesten und herrlichsten Gemälde, "Flötenkonzert in Sanssouci", steht in Gefahr. Es stammt aus dem Jahre 1852, wo Menzel noch arm war und sich wohl nur billige Asphaltfarben leisten konnte. Das Bild ist, als wäre es schon Jahrhunderte alt, von einem Netzwerk von Rissen und Rillen überzogen. Auch die leuchtenden Farben fangen an zu dunkeln.

Es ist sehr schade, daß der Wille des Führers, wir sollten unsere Vergangenheit ehren, weil nur in der Ehrfurcht vor den vergangenen eigenen Geschlechtern ein Volk Größe bekommt, noch nicht überall im Lande verstanden wird.

Eine Art Bilderstürmerei ist im Gange.

Daß die Nationalgalerie immer noch das Reiterporträt Wilhelms II., das früher in der Vorhalle hing, in den Keller verbannt und unsichtbar macht, meine ich nicht einmal. Sondern daß in dem Versammlungsraum mancher Gemeinschaften, der durch die Bilder Hitlers und Hindenburgs geschmückt war, unter der Parole "Was gewesen, ist gewesen!" vielfach jetzt das des Generalfeldmarschalls verschwindet, das ist sicher nicht im Sinne des Führers.

Wir bauen uns mit Eifer rückwärts auf bis in vorgeschichtliche Jahrtausende. Da dürfen wir doch erst recht nicht die unmittelbare ruhmvolle Vergangenheit überspringen.

Der Berliner lebt fast nur in den gegenwärtigen Alltag hinein. Er denkt nicht einmal so sehr, wie es nach den Zeitungen den Anschein hat, an das große Ereignis der Saarabstimmung. An seinen Stammtischen spricht er viel mehr von der neuen Steuerordnung, die in diesem Januar in Kraft tritt. Es ist ja sehr angenehm, daß von unseren, ich glaube 47, Steuern verschiedene ausgemerzt und vereinheitlicht werden. Aber es bleiben noch mehr als genug, heißt es, und die Finanzämter würden schon herausquetschen, was sie könnten. Ich habe immer gefunden, daß in diesen Ämtern sehr umgängliche Leute sitzen, die natürlich hereinnehmen müssen, was zur Erhaltung des Staates und zur Arbeitsbeschaffung für das Volk nötig ist, aber niemand schikanieren, der guten Willens ist und doch nicht so kann, wie er will. Da schmunzelt der Stammtisch und sagt, neulich sei Max Schmeling an dem Tische gewesen, habe in seiner Faust eine Zitrone ausgedrückt und demjenigen eine Flasche Schum ausgelobt, der noch einen Tropfen herauskriege. Da sei ein schmächtiger Mann aufgetreten, habe "Ich!" gerufen, habe tatsächlich noch drei trübe Tropfen aus der Zitrone produziert und sich nachher, als alle perplex waren, lächelnd als - Obersteuersekretär vom Finanzamt Tiergarten vorgestellt.

Der stärkste Mann Berlins. Wer hätte das gedacht.

Übrigens müssen diese Leute ja strahlen, denn es gehen mehr Steuern ein, als nach dem Voranschlag anzunehmen war. Die Einnahmen heben sich, wenn auch langsam. Der Durchschnittsdeutsche verdient heute schon wieder 74 Prozent dessen, was er 1913 einnahm.

Daher läßt er auch was draufgehen. Den Theatern und den Gaststätten geht es noch nicht glänzend, aber besser als vor zwei Jahren. Auf Festlichkeiten sieht man frohe Gesichter. Am vorigen Sonnabend fand in sämtliche Räumen des Zoo das "Gefolgschaftstreffen" der Ufa statt. Rund 7000 Menschen waren glücklich. Alles verlief so harmonisch und nett wie wohl selten ein Betriebsvergnügen. Neben den Direktoren und Regisseuren die Pagen und die Zettelmädchen, neben den Darstellern - u.a. Willi Fritsch, Gustav Fröhlich, Trude Marlen, Lien Deyers, Paul Hörbiger, Fritz Kampers - auch die Angehörigen der Gefolgschaft, also Onkel Justav und Tante Lieschen und Vater und Mutter und so. Wer noch Geld hatte und durch Ausgaben die Winterhilfe unterstützen konnte, nun gut, der nahm Tombolalose und vielleicht Lachs und Sekt. Die anderen zogen ebenso vergnügt ihre mitgebrachten Stullen hervor und tranken dazu ein kleines Helles.

Bier gab es wie immer im Gartensaal, unten in der Schwemme. Da sitzt gegen 5 Uhr früh Walter Steinbeck, der in den "Ferien vom Ich" einen Generaldirektor spielt, der eine Ölfusion mit einem Großindustriellen machen will. Jetzt möchte er ein Bier. Aber er ist eingekeilt, er muß am laufenden Bande Autogramme geben.

"Wären Sie oben in Ihrer Loge geblieben, hätten Sie nicht zu schreiben brauchen! Na, wie ist es, Ölfusion oder lieber Biertransfusion?"

Da strahlt Steinbeck, sagt: "Dann schon lieber Biertransfusion!", schüttelt endlich die ihn Umdrängenden ab, und zwei Männer gehen einen zischen. Der eine - eben Steinbeck. Und der andere? Studierter Mann, tadellos, Smoking an. Steinbeck ahnt nicht, daß der sonst ein rotes Röckchen trägt und Platzanweiser in einem Kino ist.

Die gesamte Belegschaft aus Neubabelsberg und Tempelhof und der Krausenstraße und den Theatern ist da. Man tanzt, es gibt Aufführungen. Am meisten beklatscht werden Genia Nikolajewna und Theo Lingen in ihrer meisterhaften Tanzparodie. Von den vier Kapellen wird eine durch dem Musikinspizienten Riecke dirigiert, der schon seit 25 Jahren Filmmusiker ist. Unter den jüngeren Festteilnehmern sieht man viele in SA.- und SS.-Uniformen. Auch die Tracht der Hitlerjugend beider Geschlechter ist vertreten.

Selbst bei solchen Gelegenheiten merkt man es, wie die neue Generation sich strafft. Die vormilitärische Erziehung wird allgemein. Früher war sie nur - bis zu lustiger Übertreibung - in manchen Offiziersfamilien üblich. Da ist ein famoser, lieber Mensch bei der Marine, der "Alte Fritz" genannt, der ein bißchen den Infanterieknall hat. Wenn eines seiner Kinder in sein Zimmer will, muß es anklopfen, eintreten, strammstehen und sagen:

"Bitte Herrn Kapitänleutnant sprechen zu dürfen!"
10. Jan. 1935 (Donnerstag)


15

Ekstasen - Der nüchterne Berliner - Nach dem Jubel am Saartag - Ein neuer Straßenname - Frau Stresemann taucht auf - Männerstaat - Knappe Devisen - Am winterlichen Wannsee - "Oberwachtmeister Schwenke" - Von Marlene Dietrich.

Wer die ursprüngliche Wirkung eines Rauschmittels auch nur beibehalten will, der ist gezwungen, es immer häufiger und in immer stärkeren Dosen zu gebrauchen. Dann wiederholen sich die Verzückungen der Phantasie, während der Körper freilich zusehends verfällt und der Geist schließlich verblödet.

Schlecht unterrichtete Ausländer halten den deutschen Nationalsozialismus für solch einen Reizzustand. Die unter ständiger Steigerung der Mittel erreichten Ekstasen müßten zu einem schlimmen Ende führen.

Bitte: der Berliner ist wirklich nüchtern.

Ihm "kann keener", ihm "imponiert nischt", er geht mit Zweifel an jedes Ding heran. Er läßt sich, bildlich gesprochen, in keine Opiumhöhle verschleppen. Er traut nicht einmal den eigenen Zeitungen. Er muß unbedingt noch die Basler Nachrichten oder, wenn er fremde Sprachen beherrscht, englische, französische, holländische, schwedische Blätter durchstöbern, ob er nicht dort eine Warnung vor dem "janzen Schwindel" fände. Er läßt sich nicht so leicht "besoffen machen". Det wäre jelacht! Aber dieser gepanzerte, betonierte, stacheldrahtumwehrte Berliner gibt, wenn der sichernde Verstand ihm alles klar erscheinen läßt, sein ganzes Herz her. Und dann ist seine Verzückung echt, nicht künstlich erregt.

Aufmärsche, Kundgebungen, Fackelzüge, Flaggenhissen kennt er zur Genüge. Und doch trieb es ihn an dem Tage, an dem die Abstimmungsziffern aus dem Saargebiet bekannt wurden, 90,7 Prozent für "Hitler-Deutschland", in helle Begeisterung hinein. War der Mann, war die erwerbstätige Frau oder das erwachsene Kind schon draußen an der Arbeit oder auf dem Wege dahin: irgend jemand mußte zu Hause bleiben, um nach 8 Uhr früh am Rundfunk die beglückende Meldung zu hören. Dann öffnete sich hier ein Fenster, dort ein Fenster, und nicht "binnen einer halben Stunde", wozu Goebbels nachsichtig alle Volksgenossen aufgefordert hatte, sondern in wenigen Minuten war auch Berlin das vielzitierte Fahnenmeer.

Am Abend aber war "tuh Berläng" auf den Beinen.

Rund um den Königsplatz, der wieder so heißt und nicht mehr Platz der Republik, stauten sich Hunderttausende. Der Reichstag leuchtete auf. Der Himmel färbte sich purpurn im Widerschein von annähernd 30 000 Fackeln. Unendlicher Jubel begleitete vor allem den Marsch der abgeordneten Kompanien der Wehrmacht. Der Berliner empfindet weniger den Rausch, als "das Reelle" der Stunde: die deutsche Souveränität ersteht wieder, unsere Waffenfreiheit kommt.

Nun ist die laute Freude verklungen, der Alltag hat uns wieder. Aber ein dauerndes Andenken ist der Reichshauptstadt verblieben. Die so oft schon umbenannte Straße zwischen dem Halleschen Tor und dem Potsdamer Bahnhof heißt von nun ab Saarlandstraße.

In alter Zeit, als hier noch der Bäckergraben floß, hieß der Weg die "Anhalter Kommunikation", die den Blick auf damals offene Felder freigab. Die wurde nach 1866 zur Königgrätzer Straße und blieb es über ein Menschenalter lang und hieß so bis zum Brandenburger Tor. Dann wurde, als Kaiser Franz Joseph von Österreich uns Berlinern seinen ersten Besuch machte, aus übertriebenem Zartgefühl für den nördlichen Teil, vom Anhalter Bahnhof an, auf dem der Monarch eintraf, das neue Schild "Budapester Straße" angeschlagen. Nach der Novemberrevolte: Friedrich-Ebert-Straße. Nach der nationalen Revolution: Hermann-Göring-Straße. Die immer noch Königgrätzer Hälfte aber war inzwischen zur Stresemannstraße geworden, als man uns fälschlich "die ersten Silberstreifen am Horizont" aufgeredet hatte.

Jetzt ist der Name dieses Feuilletonpolitikers, der sich von Briand in Dawesplan und Youngpakt einwickeln ließ, endgültig verschwunden.

Sein Arbeitszimmer mit den vielen Napoleonbüsten und Napoleonbildern existiert noch irgendwo. Seine Söhne sind, weil von der Mutter her rassisch nicht ganz einwandfrei, nichts geworden. Sie selbst, Frau Käte Stresemann, taucht noch gelegentlich in der Gesellschaft auf. Dieser Tage hat der Professor Nikola Michailow in Anwesenheit des bulgarischen Gesandten und anderer Diplomaten einen musikalischen Abend veranstaltet, da war sie mit eingeladen. Aber man spricht von ihr nicht mehr. Ebensowenig wie von Luise Ebert oder Kathinka v.Oheimb-Kardorff, den einst "ersten Damen der Republik". Wir sind überhaupt ein Männerstaat geworden. Es gibt keine Salons mehr, in denen Personalpolitik mit Frauenlächeln gemacht wird.

Und ein tüchtiger Beitrag für die Winterhilfe ist wichtiger als ein exquisites Diner. Man mag ruhig behaupten, daß die Kultur der Geselligkeit bei uns nachläßt, aber das ist eben harter Zwang. Auch die Pilger zum winterlichen Hochgebirge sollten sich über knappe Zuteilung von Devisen nicht beklagen.

Jammern etwa unsere Seeoffiziere?

Zwei Auslandskreuzer sind augenblicklich unterwegs und machen mit ihrer Besatzung wieder überall einen glänzenden Eindruck zu Deutschlands Ehre. Vor den Leuten der "Emden" hat in Kapstadt der Kriegsminister der Südafrikanischen Union in seiner Festrede erklärt: wann und wo und wie, das wisse er nicht, aber daß Deutschland überhaupt wieder Kolonien bekommen werde, das stehe für jeden denkenden Menschen fest. Dabei kommen unsere Seeoffiziere und Matrosen als wirklich arme Teufel in die fremden Häfen; ein Oberleutnant kriegt monatlich nicht mehr als rund 18 Mark in fremder Währung ausbezahlt, kann sich also mit Not und Mühe hie und da eine Autodroschkenfahrt leisten, aber kaum ein Andenken für die daheim erstehen.

Auch die Umgegend Berlins ist von der Knappheit bei den bisher wohlhabenden Schichten des Volkes nicht unberührt geblieben. Wir haben in ganz Deutschland nur noch 2465 Millionäre statt der 15 232 vor zwanzig Jahren, und auch die mittleren Vermögen und Einkünfte sind entsprechend zurückgegangen. Das macht sich überall bemerkbar.

Am Saar-Jubeltag habe ich meinem glücklichen, übervollen Herzen einen Vormittagsausflug in die stille Gottesnatur rund um den Wannsee gegönnt. Es ist da wirklich still geworden. Die Freude leuchtet überall rot aus weißem Schnee, selbst das kleinste Wochenendhaus, ja das Hüttchen zeigt Flaggenschmuck, aber es fehlen die sonstigen Wintersportler im Grunewald. Die Eisbahn am Freibad ist diesmal überhaupt nicht eröffnet worden. Kaiserpavillon und Schwedenpavillon haben zum erstenmal den Winter über ihre Pforten geschlossen, weil der Besuch nicht einmal die Heizungs- und Beleuchtungskosten deckt, und die ehedem vornehmste Gaststätte, das Haus am See, wird zu einem Erholungsheim für kaufmännische Angestellte um- und ausgebaut. Eine ganze Anzahl von Beschäftigten in diesen Betrieben hat die Arbeitsstelle verloren, das ist die Kehrseite jener Medaille, die man "Vereinfachung des Lebens" nennt.

In Berlin selbst, das muß man freilich immer wieder feststellen, sind die Vergnügungsstätten in diesem Winter nicht schlecht besucht. Natürlich bei überall stark verringerten Preisen. Dem schlichten Mann aus dem Volke stehen täglich rund 4000 gute Theaterplätze zum Preise von 50 Pfennigen zur Verfügung, wofür er in bester Besetzung Schauspiel und Oper genießen kann. In Potsdam hat man den Versuch gemacht, die Eintrittspreise zu staffeln. Auf denselben Theaterplätzen zahlt der eine, der mehr Einkommen hat, das Doppelte dessen, was der Nachbar zu entrichten hat . . .

Es geschieht viel. Es müßte noch mehr geschehen können, damit alle zufrieden sind. Viele sind bekümmert. Was sagen Sie? Wer Sorgen hat, der hat Likör? Ja, das war einmal! Heute ist das nicht der Tröster. Heute geht der Beladene auf zwei Stunden Vergessen ins Kino.

"Hast Du kein Geld, dann weine nicht,
Denn glücklich machen Scheine nicht",

heißt der neueste Berliner Schlager, der allerdings nicht aus einem Film, sondern aus Walter Kollos Operette "Heirat nicht ausgeschlossen" stammt. Was den Durchschnitts-Großstädter glücklich macht, wenn auch nur eben auf zwei Stunden, das ist das Wiedersehen mit seinen Lieblingen von der Flimmerleinwand. Jahrelang waren dies Willi Fritsch und Lilian Harvey. Sie hat inzwischen für Hollywood optiert, und er ist, je nun, älter und gesetzter geworden. Das Jungenhafte im Mann vertritt jetzt Gustav Fröhlich, einer der meistbeschäftigten Darsteller, den der Berliner aus nun schon 51 Filmen kennt. Als "Oberwachtmeister Schwenke" kommt uns der auf der Leinewand große, gute, frohe Junge nun wieder in einer Verpuppung, in der er vor Jahren in dem Film "Asphalt" bei der Ufa seinen steilen Aufstieg begann. Auch dort spielte er einen Schutzmann, und zwar einen, der einer Delila, einer gewandten und verführerischen Ladendiebin, ins Garn geht. Als "Oberwachtmeister Schwenke" steht Fröhlich, das ist ein bißchen reichlich, zwischen drei Bräuten, aber diese Rolle ist ihm - auf den Leib geschrieben. Im übrigen ist das Stück ein Hohelied auf unsere Polizei, sehr geschickt, sehr wirkungsvoll; und Gustav Fröhlich ist darin ehrenfest und hilfsbereit.

"Direkt küssen könnte man ihn!", sagt eine Dame nachher im Gedränge beim Hinausgehen.

"Na, na, er ist doch mit Gitta Alpar verheiratet!", rufe ich hinüber.

"Was heißt verheiratet, sie kommt doch aus Wien nicht mehr zurück, und er lebt in Zehlendorf!", wird mir geantwortet.

"Scheidung im Gange!", sagt ein Vorübergehender.

Stimmt. Etwas stimmt da nicht. Gustav Fröhlich ist auf die nichts weniger als deutsche Sängerin hereingefallen. Sie wollte sich den blonden Jungen kaufen. Dafür ließ sie sich von ihrem Manne, einem Hotelbesitzer, scheiden. Nach dem Umschwung 1933 verduftete sie. Nun ist Berlin weit weg. Und der Gustav.

Das Künstlerblut wallt leicht auf und über Rasseschranken hinweg. Marlene Dietrich aus der Kaiserallee in Berlin ist die Tochter des im Kriege gefallenen Rittmeisters v.Losch. Aber sie ließ sich von Herrn Kahane vom Deutschen Theater entdecken, wurde von ihrem späteren Gatten Sieber als Komparsin in einer Kokottenrolle herausgestellt, war mit Tauber und vielen anderen befreundet und wurde schließlich das Geschöpf Josef Sterns.

Er nennt sich Josef von Sternberg. Aber das "von" hat er auf der Überfahrt nach Amerika im Zwischendeck gefunden. In einem Gotha steht es nicht.
17. Jan. 1935 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts