"Rumpelstilzchen"

"Sie wer'n lachen"
(Jahrgangsband 1933/34)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 28 - 30
22. März bis 5. April 1934


28

Was Spaß macht - Bloß nicht immer "Wein" und "Rhein" - Tante Voß - Aus der Ohrfeigenzeit - Geraldine Farrar - Im Haus der deutschen Presse - Fliegertag - Henckels und die Sandrock.

Also immer wieder kann man die Berliner Parole höre: "Spaß muß sind!" Auch bei ganz unpassenden Gelegenheiten, so wenn einer dich - hoppla - aus Versehen auf den Fuß tritt und du beim Zurücktaumeln einem anderen Menschen an die Flasche Milch prallst, die alsbald auf der Straße zerschellt. Das ist schon ein Mordsspaß. Aber ernst ist angeblich die Zeit, in der wir leben. "Heit vasteht keen Aas keenen Spaß!", klagt mancher zur Lustigkeit aufgelegte Berliner.

Zuweilen hat man den Spaß doch, bei irgendeiner Kleinigkeit. Am 21. März ist, wie einst Mussolinis gelungene battaglia del grano, die neue Arbeitsschlacht in Deutschland entbrannt. Fäuste ballen sich energisch, Herzen flammen heiß. Aber dazwischen haben Hunderttausende von Berlinern, an ihren Arbeitsstätten um die Lautsprecher geschart, vergnügt gekichert, weil in den Eröffnungsworten Wagner ihnen einen mächtigen Spaß gemacht hatte. Achtung, Achtung! Es erdröhnte nämlich:

"Hier ist ganz Deutschland - und Bayern!"

Dieser eine Satz hat den ganzen fahnenübersäten 21. März für die Berliner in gute Laune getaucht. In jeder Werkkantine hatte man nun seinen behaglichen Gesprächsstoff.

Unfreiwilliger Spaß ist der beste. Der gegen Bezahlung und auf Bestellung im Rundfunk verzapfte Spaß der Musiker, Kabarettansager, Humoristen ist den meisten Menschen schon über. Dieser Spaß macht keinen Spaß. Da im Deutschen zufällig "Wein" und "Rhein" sich reimen, soll es einem Spaß machen, wenn man zum tausendsten Male hört:

Von einem Glas kann man nicht lustig sein
Am Rhein, am Rhein, am Rhein;
Drum, Wirt, schenk er noch ein Gläschen ein
Vom Wein, vom Wein, vom Wein!

Nein, das wollen wir nicht mehr hören. Auch haben doch nicht Millionen Deutsche ihr Herz in Heidelberg verloren. Dann schon eher in Pankow. Die auf Flaschen gezogene oder auf Wachsplatten gekerbte Rheinpoesie erscheint uns verstaubt romantisch. Nun ist Meyer-Förster, der Verfasser des schier unsterblichen "Alt-Heidelberg", in seiner Villa im Grunewald gestorben. Als das Schauspiel zuerst aufkam und, weit über alle Erfolge Goethes und Shakespeares hinaus, um die ganze Erde in mehr als zwanzig Sprachen ging, waren wir glückselig. Heute verstehen wir unsere damalige Stimmung nicht. Denn - diese Romantik existiert nicht mehr. Die Studenten, die Fürstensöhne, die Kellnerinnen sind anders. Ja sogar Josef Viktor v.Scheffel geht uns nicht mehr so glatt herunter. Da ist uns Presber lieber.

Auch das Gepfefferte, wie es in seiner sündigsten Zeit uns der Simplizissimus vorsetzte, fände jetzt keine Freunde. Man sehnt sich nach richtiger deutscher Schalkhaftigkeit, wie sie uns im Theater früher Müller-Schlösser bot, heute Hinrichs bietet.

Und so leid es einem tut, daß manche uralte Zeitung eingeht, die ein Stück Geschichte für uns war, so leid es einem tut, daß so und so viel "Leute vom Federvolk", auch anständige Deutsche, brotlos werden, so viel geheime Genugtuung empfinden wir doch auch, wenn dies, im großen gesehen, Vergeltung ist. Dazu gehört, jetzt darf man es wohl verraten, das demnächstige Eingehen der Tante Voß, der ehemaligen "Königlich privilegierten Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen", die einst im Verlage der Lessingschen Erben erschien und schließlich eine Ullstein-Angelegenheit wurde, vor weit mehr denn hundert Jahren als gutes Nachrichtenorgan begann, dann aber als große Geiferspritze gegen alles Deutsche wirkte.

In der Zeit der Ruhrbesetzung schmuste die Vossische Zeitung sich an die Franzosen heran. Mandelbaum, Bernhard, Tucholski, Schlesinger waren ihre Koryphäen. Der drahtliche Ullsteindienst versorgte Holland, Italien, Spanien, die Balkanstaaten, Amerika aus seinem Jauchekübel. Noch heute hat das Blatt mehrere zehntausend Abonnenten, zum größten Teil Kurfürstendammer. Aber die Bilanz ist nicht mehr aktiv, es sind große Zuschüsse nötig. Da muß die Voß eben das Schicksal des bereits vor ihr ins Nichts versunkenen Berliner Börsenkuriers teilen, der unter Davidsohn und Landau früher auch kulturell, was man damals so Kultur nannte, führend war.

Diese Blätter waren zuletzt "gleichgeschaltet", das ist richtig. Doch jede Schuld rächt sich auf Erden, auch in neuer Generation.

Wer sich heute in der Berliner Pressewelt umsieht, auch nur die Gesichter anschaut, der weiß, daß wir endlich wieder deutsche Zeitungen haben. Hier bildet sich ein ehrenfester Stand. Der - man verzeihe mir diesen Superlativ - geohrfeigteste Chefredakteur des Reiches, Bernhard, kommt nie wieder. Auch in anderen Redaktionen setzte es gelegentlich Hiebe. Eines dieser Blätter hatte einmal schmierige Andeutungen über den Kronprinzen und die junge Hofopernsängerin Geraldine Farrar gemacht, ein entzückendes Geschöpf aus gutem Hause. Da kam der Vater Farrar mit dem nächsten Schnelldampfer aus Amerika herüber und zog dem Schreiber einige kräftige Streiche mit der Reitpeitsche über, um dann befriedigt wieder heimzureisen. Geraldine Farrar gab nachher ein Konzert. Der Kronprinz und die Kronprinzessin saßen beide nebeneinander im Parkett und klatschten einmütig und ostentativ Beifall. Da verstummten die Lästermäuler. Der Kronprinz ist selber ein begabter Geiger, die Kronprinzessin liebt die Musik sehr, in ihrem Hause hatte Geraldine Farrar wiederholt gesungen, das war alles.

Heute wird nicht mehr so getratscht. Die Schriftleiter der neuen Zeit haben Aufgaben mit ganz anderer Verantwortung. Sie haben Standesehre. Und wenn sie sich erholen wollen, dann geschieht es in harmloser Fröhlichkeit im Hause der deutschen Presse.

Das ist eine frühere vornehme Privatvilla in der Tiergartenstraße 16 mit riesigen und doch behaglichen Räumen. Dahinter der Garten mit Tennisplätzen. Einst war der Verein Berliner Presse ein Tummelplatz der Davidsöhne. Daneben gab es einen kleinen deutschen Schriftstellerklub unter der Leitung des kürzlich verstorbenen Heinrich Rippler, des liebsten und besten Kollegen in der Reichshauptstadt, des Herausgebers der durch die Machenschaften Stresemanns und seines Freundes Abraham Veitel Litwin später ruinierten Täglichen Rundschau. Heute steht an der Spitze des Klubheims in der Tiergartenstraße der geistsprühende Staatskommissar C.M.Köhn, der die nationalsozialistische Brennessel redigiert, gelegentlich Glossen für den Scherlschen Tag schreibt und sein Hauptarbeitsgebiet in der Ufa hat. Führer des Reichsverbandes der deutschen Presse aber, der Gesamtorganisation, ist der im Kriege arg zusammengeschossene Fliegerhauptmann a.D. Weiß, Chefredakteur der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters, und macht auch die Honneurs in dem Tiergartenheim.

Jeden Dienstag: Abend mit Damen. Da wird fleißig getanzt. Am vorigen Dienstag wurde auch ein Sketch aufgeführt, Loders "Der Moralinist". Thema: Die deutsche Frau raucht nicht, und so. Die Darsteller, Paul Henckels und Fräulein Meißner, wurden umjubelt. Nein, Mucker sind wir wirklich nicht.

Mit dem Bayern Weiß bin ich im Kriege zufällig nie zusammengetroffen. Unser waren es ja zuletzt Tausende in den Lüften. Wir waren über alle Kriegsschauplätze zerstreut, von Ostende bis Bagdad, von Finnland bis Venetien. Und nirgends lange. Man betrieb sein Gewerbe im Umherziehen mehr als jede andere Truppe.

Das nunmehr zehnjährige Bestehen der Kameradschaftlichen Vereinigung ehemaliger Fliegerbataillone hat jetzt die Veranlassung zu einem großen Stelldichein gegeben.

Da entdeckte man auf einmal lauter Bekannte. Ich kann mich gleich mit dem letzten Inspekteur der Flieger, Oberstleutnant a.D. Haehnelt, begrüßen. Und da und da und da: sogar eine ganze Anzahl Vorkriegsflieger sind da. Darunter der wackere Wentscher, einer unserer Allerersten. Ohne es zu ahnen, sonst hätte ich protestiert, werde ich an den Honoratiorentisch gelotst. Neben meiner Frau sitzt Exzellenz Grimme, der von Göring mit der drängenden und ungeheuren Aufgabe des deutschen Luftschutzes betraut ist. Neben Grimme der deutsche Kronprinz, in einfacher Feldbluse. Immer wieder fällt einem nicht nur sein Fridericusprofil auf, sondern jetzt auch das Strahlen aus seinen Augen. Mich hat er - so nennt man es wohl, wenn es auch nicht stimmt - vernichtend angeblitzt. Ich bin einmal ihm gegenüber - ich habe auch vor Hohenzollern nie ein Blatt vor den Mund genommen - sehr offenherzig gewesen, und ich kann nach so etwas eine gelegentliche Ungnade sehr gut und lachend vertragen; wir alle, ob hoch oder gering, sind doch nur Diener des einen Vaterlandes, und da würde die gelassene Entgegennahme selbst eines Anpfiffs zu den selbstverständlichen Dienstobliegenheiten gehören.

Es ist nicht nur ein Stelldichein der überlebenden Flieger, sondern auch ein Gedenktag für die 6840 Gefallenen und 1372 Vermißten der Lüfte.

Wir toten Flieger
Blieben Sieger
Durch uns allein.
Volk, fliege wieder
Und du wirst Sieger
Durch dich allein!

Wer es miterlebt, wie unser Jungvolk sich jetzt, da wir keine Heeresfliegerei haben, wenigstens zur Sportfliegerei drängt, der weiß, daß wir unseren Platz am Himmel wiederbekommen werden. Natürlich ist das eine Sache der heute Achtzehnjährigen, Zwanzigjährigen, auch wenn ein Mann wie Hermann Göring noch selbst ein großes Flugzeug nach Rom steuert oder ein Mann wie Rudolf Heß im Luftrennen zur Zugspitze Sieger wird. Prinz Heinrich von Preußen hatte mit 48 Jahren sein Pilotenexamen in Darmstadt gemacht, in einer Zeit, wo noch jeder kleine Übungsaufstieg zum Todesflug werden konnte. "Und ich habe Frau und Kinder!", sagte er lächelnd und insgeheim ein bißchen stolz. Vier Jahre später hatten wir den Krieg, der Prinz durfte nicht in ein Flugzeug, ja sogar seine inständige Bitte, unter Dienstjüngeren ein Schiff führen zu dürfen, wurde ihm abgeschlagen. Wer es zum Großadmiral gebracht hat, der mag die Sicherung der gesamten Ostsee als Oberführer übernehmen, für anderes ist er zu alt, punctum, hieß es.

Auch auf der Bühne muß man den Weg vom jugendlichen Helden zum alten Bonvivant finden oder von der Naiven zu den komischen Müttern.

Sitzen da neulich Adele Sandrock und Paul Henckels in Neubabelsberg beisammen. "Weißt du", sagt sie träumerisch, "in Graz, es ist allerdings schon etliche Jahre her, da habe ich einen Leutnant kennen und lieben gelernt, der war so fesch, so scharmant, das kannst du dir garnicht vorstellen!"

"Was ist denn aus deinem Leutnant geworden?"

"Im Kriege war er halt General", erwidert unschuldig die sinnende Adele.
22. März 1934 (Donnerstag)


29

Ferien für die Mütter - Kraft durch Freude, Freude durch Jagd - Der Verkehr verkapselt sich - Im Krögel - Die Abgelegten im Amtsgericht - Aufräumen in der City - Wo künftige Bühnenstars lernen.

Die Anzeigen der Reisebureaus, der Bäder, der Pensionen, der Dampfergesellschaften fliegen ins Haus. Zu Ostern wird der Schlachtplan für den Sommerurlaub entworfen. "Wegen der Kinder an die See!", heißt es in Tausenden von Familien des Berliner Mittelstandes. "Oder mehr in die Nähe an einen See!" In neun von zehn Fällen aber begibt man sich nicht in bezahlte Verpflegung, sondern mietet nur ein Quartier; Mutter muß nach wie vor kochen, flicken, waschen und die Angehörigen versorgen, wenn sie von draußen ins Quartier heimkehren.

Von diesem stillen Duldertum, das er, der Herrlichste von Allen, mit leichtem Ansatz zum Spitzbauch, als naturgegeben hinnimmt, habe ich schon vor Jahren einmal ausführlich gesprochen, um dem "Vater von's Janze" das Gewissen wachzurütteln.

Er ist vielfach unverbesserlich. Aber da springt das Dritte Reich vorbildlich ein. An der "Kraft durch Freude" sollen auch die Mütter teilhaben! Diese geplagte Portiersfrauen, die das Leben hinnehmen wie der Hund die Schläge. Diese nächtlich nähenden Heimarbeiterinnen, die, während Vater schnarcht, noch das Schulgeld für den Jungen hinzuverdienen. Diese auf müden Füßen stehenden Handwerkerfrauen, die vorn den Kunden bedienen und davor zittern, daß derweil vielleicht im Hinterstübchen die Suppe überkocht. Denen muß endlich geholfen werden. Und das tut der Staat. Wenn auch nicht alle, aber viele Mütter bekommen heute "richtige" Ferien in einem schönen Landheim. Eine dieser Glückseligen aus Berlin habe ich gesprochen, deren Jahr sonst aus 365 vollen Arbeitstagen besteht. Es gibt also ein wirkliches Ausruhen. "Wie een jeölter Blitz huppt det Essen von alleene uff'n Tisch, arbeeten is deäkt vaboten, man bloß een bisken Stricken erlaum' se eenen, damit daß man Unterhaltung bei'n Schwatzen hat!" O Wunder über Wunder. Selbst Vater staunt. Und schämt sich vielleicht ein wenig.

Das ist erst der Anfang. Im Winter sind Zehntausende unbemittelter Volksgenossen aus den Großstädten für je acht Tage ins Gebirge geschickt worden. Für den Sommer werden drei mächtige Dampfer für ständige Freifahrten auf Nord- und Ostsee gechartert. Das hat man alles schon in den Zeitungen gelesen, aber noch nicht, daß die Parole "Kraft durch Freude" nun auch noch durch die Parole "Freude durch Jagd" ergänzt werden soll. Wir Deutschen sind Ackerbauer und Jäger gewesen. Das war einst jeder freie Mann, nicht nur der Häuptling oder Edeling. Das könnte wiederkommen. Im Reiche langt der Wildbestand nicht, daß jedermann einmal seinen Rehbock schießt. Aber die Welt ist ja groß.

Kurz und gut, es geht in die Karpathen, nach Lappland, in die Transsylvanischen Alpen und noch weiter hinaus. Wer in dieser Volkslotterie das Große Los zieht, kann an einer Expedition auch auf Großwild teilnehmen, etwa in Ostafrika auf einen Elefanten zu Schuß kommen. Da wohnt am Kilimandscharo eine jungverheiratete Tochter von mir. Es wäre ein berauschender Gedanke für mich, nun die Feder endlich niederzulegen und mich in den Dienst der neuen Organisation zu stellen. Ich könnte mir Moschi oder Nairobi als Sitz meiner Agentur ganz gut vorstellen. Die ganze Nacht habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen.

April, April!

Ich habe mir den Kopf garnicht zerbrochen.

Das hätte auch keinen Zweck, denn noch werden nicht alle Märchen Wahrheit, wenn auch viel schier Märchenhaftes erreicht ist. Der schönste Unterricht in Geographie ist freilich der Anschauungsunterricht, ich würde jedem braven Kerl den Anblick der Pyramiden oder des Himalaja gönnen, aber der Weltverkehr kapselt sich trotz aller Geschwindigkeitsrekorde immer mehr ab. Jeder einzelne Staat mißt seinen Reiselustigen nur eine kleine Summe Geldes zum Mitnehmen zu. Eine schwerreiche Familie aus Brasilien, die alljährlich 5 Monate in Berlin zu verleben pflegte, hat deshalb jetzt ihren Palazzo im Grunewald schließen und ihre Hausangestellten entlassen müssen. Genau so sehen wir natürlich darauf, daß unser Geld allenfalls nur auf deutschen Schiffen verzehrt wird. Wer etwa einen Monat lang auf Mallorca die Sonne genießen möchte, der darf nur 200 Mark mitnehmen, und wenn er gar nach Österreich will, muß er 1000 Mark zuzahlen, und dieses von Rechts wegen und wegen des Benehmens der Dollfüßler uns gegenüber.

Da ist also gar kein Kopfzerbrechen nötig. Es ist nichts mit der Großwildjagd. Ich behalte die Feder in der Hand und bleibe in Berlin.

Hier ist für jeden von uns noch viel unentdecktes Land. Just bin ich wieder im Krögel gewesen, den einzigen noch so richtig alten Winkel Berlins, der aber natürlich im Vergleich zum Frankfurter Römer oder den Inn-Städtchen elend verblaßt. Es ist eine einzige enge Straße, eine nüchterne Häuserzeile und ein langer dunkler "Lichthof", der nur zwei Armlängen breit ist, so daß die einander Gegenüberwohnenden sich in die Fenster spucken können. Doch halt: das da habe ich noch nie gesehen! Hoch oben, mitten an einer Hauswand, weit weg von allen Luken und anscheinend unerreichbar, ist im Halbrund ein starker eiserner Reifen, nach oben mit spitzen Stacheln versehen, angemauert.

"Früher wurden da Verbrecher draufgesetzt!", erklärt eine Lehrerin, die mit ihrer Klasse kleiner Mädchen den Krögel durchwandert.

"Autsch, das tut ja weh!", sagt beim Hinaufschauen eine der Kleinen und faßt sich in schmerzlicher Vorahnung mit der Hand nach hinten.

In ein paar Büchern in meinem Besitz über Alt-Berlin habe ich nichts über diesen angeblichen Stachelpranger gefunden, ich weiß also nicht, ob die Lehrerin Recht hat, nur das weiß ich, daß ich nichts darüber weiß.

Ein paar Schritte weiter bin ich jedenfalls, in einer auch alten Straße, der Stralauer, ins ganz Moderne geraten. Nämlich in die Abteilung eines Amtsgerichts, in der im wesentlichen nur Zeugenvernehmungen auf auswärtige Anforderung hin erfolgen. Das ist eine Sache für Referendare. Aber ich bin erstaunt, nicht ihre Namenskärtchen an den Türen zu finden. Sondern da steht beispielsweise an einer: Senatspräsident Rosenwasser. Und an einer anderen: Landgerichtsdirektor Feilchenfeld. Das sind die Leute, die bei dem Umschwung nicht in Pension gegangen sind, sondern es zufrieden waren, daß man ihnen bei Weiterzahlung des Gehalts die geringste Arbeit zuschusterte. Manch einer lächelt, wenn er diese Kärtchen liest. Manch einer versinkt auch in tiefes Sinnen.

Das große Aufräumen in ganz Berlin-Mitte, soweit es sich nicht um historisch Erhaltenswertes handelt, ist übrigens so, wie es für Rom Mussolini durchgedrückt hat, bei uns schon längst im Gange. Für den Erweiterungsbau der Reichsbank sind mehrere vermuffte Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht worden. Und nach Jahren kann die jetzt sich immer mehr entvölkernde Mitte Berlins wieder zur gesunden Wohngegend werden.

Es wird überall zugepackt, Krankes ausgemerzt, Kräftiges gefestigt.

Das Schillertheater, das schwer bedroht war, ist als Preußisches Theater der Jugend gesichert. Die Städtische Oper in Charlottenburg, deren Personal schon gekündigt war, wird vom Reich übernommen; und das verdient sie.

Ein paar Häuser weiter am Kaiserdamm befindet sich ein Studio für künftige Bühnengrößen, das ich mir schon längst gern angesehen hätte. Da hat seit Jahren Ilka Grüning ihren Schülerkreis, die Grüning, die am Deutschen und am Lessingtheater großgeworden ist, eine der besten Lehrerinnen für jugendliche Theaterschwärmer. Sie ist Ausländerin, wohl aus Ungarn gebürtig, und genießt schon seit ihrer Kinderzeit unser Gastrecht. Hierin hat sich auch seit dem Umschwung nichts geändert, obwohl draußen behauptet wird, wir gingen mit Feuer und Schwert gegen fremde Talente vor. Einmal hat Lucie Höflich, die große Darstellerin, mich besucht und mir erzählt, wie ihre Tochter Ursula von Frau Grüning ausgebildet sei. Jetzt bin ich selber zweimal dagewesen und habe das Zurechthobeln des Mimennachwuchses beobachten können. Es ist heute nicht mehr so, daß irgendeine Naturbegabung wie ein Meteor aufleuchtet und von alleine seine Bahn zieht. Es ist auch nicht mehr so, daß ein Filmmagnat irgendein hübsches Lärvchen protegiert und unterbringt. Vorbedingung ist gute Schulung und nachher das Zeugnis der Bühnenreife, das eine Prüfungskommission der Genossenschaft erteilt.

Da sitze ich nun zwischen den annähernd zwei Dutzend Menschlein, die Stars werden möchten. Die Jüngste ist 16, der Älteste 20 Jahre alt. Unter den Mädchen ein paar niedliche und sprühende Dinger. Nur eine ist schwer und massig, beinahe Boxertyp. Was, - die will zum Theater? Aber Frau Grüning klärt mich auf. Das sei eine Spezialbegabung, die werde in grotesken und komischen Rollen ihren Weg schon machen. Alle untereinander nennen sich Du, auch die Lehrerin duzt alle. Und mit welchem Eifer sind sie dabei!

Ein Jahr und neun Monate dauert der Kursus. Jeden Tag ist Unterricht von 9 bis 14 Uhr.

Den Küken wird zunächst beigebracht, wie sie atmen müssen. Dann kommt die A-Übung ("Barbara saß ganz nah am Abhang"), die Ü-Übung ("Wüste Lücken, trübe Gründe, düstere Schlünde"), die Übungen das ganze Alphabet hindurch. Dann das Sprechen überhaupt, die Betonung, die Haltung. Und die Vorgeschritteneren führen kleine Szenen aus Theaterstücken auf, deren Text sie auswendig lernen müssen.

Immer wieder klingt Frau Grünings sonore, metallische Stimme dazwischen. Manches Sätzlein muß sechs-, acht-, zehnmal wiederholt werden. Es ist typisch, daß jeder Anfänger seine Rolle zunächst herunterrast. Es geschieht wohl aus Angst vor der Pause, aus Angst vor der Gedächtnislücke. Da werden also Komma, Punkt, Gedankenstrich rücksichtslos niedergeritten. So im "Tell". Da deklamiert ein frischer, lebendiger Jüngling: "Was wollen wir ein Volk der Hirten gegen Albrechts Heere?" statt: "Was wollen wir  -  ein Volk der Hirten  -  gegen Albrechts Heere?" Oder in Mosers "Krieg im Frieden" soll ein Backfisch (die kleine Renate sieht, trotz des Haarknotens, auch in Wirklichkeit fast noch so aus), der etwas erzählen will, sagen: "Aber  -  Verschwiegenheit!" Selbstverständlich muß eine Pause zwischen den beiden Worten sein, selbstverständlich wird der Gedankenstrich durch erhobenen Finger markiert. Bewahre! Das toll, das rast, das sprudelt über alle Worte und Sätze nur so hinweg.

"Nicht verwischen, Renate, nicht verwischen!", mahnt Frau Grüning. Oder sie korrigiert, gütig und geduldig, einen Jüngling, der immer "P'son" statt "Person" sagt. Oder sie macht mit einem andern, durch regelmäßigen Druck auf den Magen, während er sprechen muß, eine Art künstlicher Atmung. "Nicht so zappelig, tief atmen, Seele, Seele!" Oder sie rügt Anneliese, weil sie beim Auftreten in Hauptmanns "Michael Kramer" ihr Handtäschchen so steif wie eine Aktenmappe trägt. "Du wirst zu starr, Du bist doch ein junges Mädel, bitte etwas lockerer, nicht so verklammt!"

Wenn eine Korrektur kommt, bricht manchmal alles in schallende Heiterkeit aus. Man könnte sich in der Tertia eines Lyzeums wähnen; jedenfalls ist alles ganz bei der Sache.

Und was gütig gerügt wird, das wird geduldig hingenommen.

In Dresden Elfe Degün, in Nürnberg Rudolf Bachmann, in Chemnitz Wiebke Siemen, in Görlitz Herbert Stockder, in Rostock Thilo v.Berlepsch, in Wiesbaden (demnächst in München) Gefion Helmcke, in Bremen HellmutWinzer: überall trifft man an den Theater bis zu den größten hinauf Schüler und Schülerinnen der Grüning.

Aber nichts fällt einem heute mehr in den Schoß. Auch die Vorbereitung auf den lockenden Bühnenberuf ist harte Arbeit.
29. März 1934 (Donnerstag)


30

Osterspaziergang - Auto hinter Auto - Die Dame mit den Messinglocken - Konfirmationsfeiern - Die unter uns - Was für eine Maschine - Kindergesellschaft - Beim Hellseher.

Wie es über die Feiertage in der Reichshauptstadt war, das liest man am besten in Goethes Faust in der Szene vom Osterspaziergang nach. Die Welt bleibt doch dieselbe. Nur andere Namen muß man an Stelle der Ausflugsziele "Jägerhaus", "Mühle", "Wasserhof", "Burgdorf", wie Goethe sie nennt, einsetzen.

Auch kann man die Sache ein bißchen modernisieren. Ein Schüler sagt da im Faust: "Die Hand, die Samstags ihren Besen führt, wird Sonntags dich am besten karessieren." Diese Hand führt heute einen Staubsauger. Oder sie tippt auf der Schreibmaschine. Oder sie mischt Chemikalien im Laboratorium. Oder sie bügelt steife Kragen in der Plättanstalt. Oder sie vermittelt Stellen im Arbeitsamt. Oder sie massiert orthopädisch.

Es bleibt trotzdem immer dieselbe liebe Hand. Und der Himmel wölbt sich über uns genau so blau wie über dem jungen Wolfgang Goethe. Einen noch etwas rauhen Ostwind wird er dabei auch gehabt haben. Die ersten Sträucher grünten. Vielleicht sproßten auch schon damals Knospen an Magnolienbäumen. Oder gab es die in Deutschland noch nicht?

Eine gab es gewiß nicht: Autos.

Der ungeheure Aufschwung, den die Erzeugung von Kraftfahrzeugen bei uns im ersten Jahr des neuen Reiches genommen hat, ist am Ostersonntag sinnfällig in Erscheinung getreten. Diese Kolonne zu einem, manchmal auch Zweierkolonne, dicht aufgeschlossen, reißt schier nicht ab. Die Gattin, ach, die teure, ist's, die in einem günstigen Augenblick ein freundlicher Schutzmann hinüber auf die andere Seite der Straße gelotst hat. Der Gatte steht noch hüben. Dazwischen fahren Autos, Autos, Motorräder, Autos, Autos. Gatte und Gattin können sich nur noch durch Winkspruch verständigen.

Erst zwölf Kilometer außerhalb der Stadt folgen die Wagen einander in größeren Abständen, dafür aber im Achtzig- bis Hundert-Kilometer-Tempo.

Glücklich der Fußgänger, der da schon einen stillen Wald- oder Uferweg erwischt hat. Und dann sitzt es sich herrlich in der riesigen Glasveranda des Schwedenpavillons am Wannsee.

Mich stört nur eine junge Dame am Nebentisch, die ihre Haare messingfarben gemacht hat. Wenn sie plötzlich ihren Kopf dreht, denke ich: jetzt werden die starren Locken klingeln. Außerdem hat sie ihre Augenbrauen ins Hochparterre verlegt. Sie sitzen als unwahrscheinlicher Strichbogen oben an der Stirn und verschandeln geishamäßig das europäische Gesicht. So etwas stammt noch aus der Zeit, wo der aus holländisch-österreichisch-jüdisch-japanischem Blute stammende Graf Coudenhove-Calergi sagen konnte: "Der Mensch der Zukunft wird der Mischmensch sein!" Das ist heute nicht mehr Parole. Von Ostern 1933 auf Ostern 1934 hat sich manches gewandelt. Die frischgewaschenen Gesichter sind im Vergleich zu den geschminkten in gewaltiger Überzahl, das natürliche und rasseneigene wird wieder gewertet.

Am Palmsonntag zuvor - und auch das ist wohl in ganz Deutschland dasselbe und war sicher auch in Goethes Zeiten dasselbe - beherrschen die Konfirmanden das Straßenbild Berlins.

Aus allen Kirchen strömt es. Vater hat seinen alten Kriegervereins-Zylinder zu Ehren seiner Jüngsten auf dem Haupte. Und diese trägt die Zöpfchen zum ersten Male aufgesteckt, zu einem Knoten verschlungen. Mutter hat - "wer friert, ist dumm", sagte einmal ein alter Regimentskommandeur von mir und stopfte sich Papier in die zu weiten Reitstiefel - noch ihren Wintermantel an. Die Tochter, die Konfirmandin, kommt aber im bloßen Kleide, Sträußchen am Halsausschnitt, aus der Kirche. Das ganze Stadtviertel soll doch das neue Kleid sehen.

Konfirmationsfeier zu Hause . . .

Über die Entartung dieses Familienfestes in Berlin in den schlimmen Jahren seit 1918 habe ich wiederholt mit authentischen Belegen berichtet. Es war zu einer Hochzeit im kleinen geworden, mit Aufbau einer ganzen Aussteuer an damenhafter Wäsche, mit Gesang und Tanz und Trank die Nacht hindurch, zum Teil wüst wie eine Mannbarkeitsfeier bei den Negern. Das Mädel hatte selbstverständlich seinen Freund, der Junge selbstverständlich seine Freundin eingeladen. Dazu andere Pärchen, die zu Hauf beieinander hockten, während die Alten, durch Alkohol hemmungslos geworden, die eindeutigsten Witze machten.

Diesmal ist es fast überall sehr gesittet zugegangen. Auch die sozialdemokratischen Jugendweihen sind verschwunden. Kein Sprechchor des Hasses ist mehr erklungen.

"Die unter uns", eine Treppe tiefer, haben auch Konfirmation gehabt. Einen halben Tag lag klingt Stimmengeschwirr durch die Dielen zu uns empor. Dazwischen wird gesungen und "egal" Klavier gespielt. O Wunder über Wunder: kein einziger Schlager, sondern vaterländische Lieder, auch Choräle. Der Klavierdeckel da unten wird auch an Wochentagen anscheinend nie zugeklappt, es sei denn, daß der Radio-Lautsprecher, schon morgens von 7 Uhr an, losgeht. Wir haben uns nie "bei denen unter uns" beschwert, sondern nachbarliche Geduld geübt. Dagegen sie bei uns. Nämlich morgens, ehe ich zur Auffrischung von Arm- und Bauchmuskulatur in den Zimmer-Ruderapparat steige, pflege ich 150 Spreizsprünge zu machen. Es mag sein, daß die Diele dabei zittert, wenn auch der Teppichbelag - außerdem tue ich es mit bloßen Füßen - Lautlosigkeit gewährleistet. Da kommt aber eines Tages die Dame von unten herauf und sagt:

"Was haben Sie da für eine Maschine, die morgens, wenn wir frühstücken, immer so stuckert?"

Eine Maschine?

Es hat lange gedauert, bis wir uns verständigten. Aber wir haben uns verständigt. Einer trage des andern Last, steht schon in der Bibel. Auch wir haben also unser Schuldkonto bei denen da unten. Diesmal auch zu Ostern.

Wir hatten außen an unsere Wohnungstür ein großes, auf Bestellung eigens bei Hempel Co. gedrucktes Plakat gepappt:

Heute ist hier Kindergesellschaft!
Da müssen die Großen artig sein!

Schön, da juchzten die Kleinen also schon im Hausflur und knufften vergnügt ihre Eltern. Dann ging es drinnen mit Hojotoho los. Eierrollen, Marzipankartoffelnangeln, Tauklettern! Stundenlang mit Begeisterung. Die Großen, wir waren insgesamt 26 Personen, tranken derweil ihren Kaffee, während ich, wie der Berliner sagt, als "Onkel Pelle", die durchschnittlich achtjährigen Kinder auf den Schwung brachte. Da haben die unten wohl gedacht, bei uns sei eine ganze Maschinenfabrik im Gange. Ja, man muß schon Geduld üben, wenn man in einem Großstadthause "auf der Etage" wohnt.

Dazwischen liegt der Karfreitag, der "gute Freitag", wie die Engländer ihn nennen. An dem Tage sind auch in Berlin die Kirchen voll, obwohl ihr Besuch in den letzten Monaten stark nachgelassen hat, weil der Streit zwischen oberer Geistlichkeit und geistlicher Obrigkeit die Gemeinden vergrämt. Dann hat man seinen friedlichen Ruhetag zu Hause. Aber gegen Abend kommt gerade am Karfreitag die Unrast über den Berliner, er kann die plötzliche Stille nicht fassen, er findet die halbleeren musiklosen Kaffeehäuser gespensterhaft. Er sucht die Anzeigen danach ab, wo am Ende doch noch etwas los sei. Uns und vielen Hunderten anderer Berliner ist die Einladung ins Haus geflogen, an "Streng wissenschaftlichen Darbietungen auf dem Gebiete der Telepathie, des Hellsehens, der Graphologie und der Suggestion", Unkostenbeitrag 2½ Mark, in einem Saal in Berlin O teilzunehmen. Besonders erwünscht der Besuch von Ärzten, denn der Generaloberstabsarzt Dr.med. Wasmuth habe dem Experimentator bescheinigt, daß bei seinen Darbietungen "ein höheres Interesse der Kunst und Wissenschaft obwalte".

Pünktlich sind wir da, mit mir zwei junge Oberleutnants, in Zivil natürlich, und zwei Damen. Wir nehmen einen Tisch zu fünft und bestellen ein paar Helle und warten eine halbe Stunde. An anderen Tischen sitzen Leute, die mit dem Vortragenden offenbar verwandt oder bekannt sind. Zwei wie wir zahlende Gäste nehmen irgendwo im Hintergrunde Platz und spitzen auch die Ohren.

Der Vortrag ist mäßig. Wir erfahren, Daß Telepathie und Hellsehen nicht "idijentisch" miteinander seien, und allerlei sonst noch Belangloses. Die Experimente sind zum Teil der übliche Mumpitz. Auch das engagierte "Medium", das von irgendeinem Rummelplatz entlehnt zu sein scheint, ist nicht überzeugend, sondern abstoßend. Nur hinter einen Trick sind wir nicht gekommen. Jeder Anwesende durfte auf einen Zettel etwas schreiben, ihn zusammenfalten und knüllen, alle Zettel wurden auf eine Haufen geworfen, dann fischte der Herr Hellseher die einzelnen heraus, warf jedem Anwesenden den richtigen zu und verkündete, ohne einen zu öffnen, richtig den Inhalt. Von den beiden Oberleutnants hatte der eine "Flugzeug", der andere "Ich bin müde" ungesehen auf seinen Zettel geschrieben. Beides wurde ihnen auf den Kopf zugesagt.

Sie waren baff, bäffer, am bäffsten. Sie bestellten nachdenklich ein weiteres Helles.

Nur eines erschütterte ihre Erschütterung, als wir nachher den Fall besprachen. Der Mann war doch Hellseher, nicht wahr? Wenn er das war, mußte er aber doch, ehe er Saal und Medium mietete, hellgesehen haben, daß nur 7 zahlende Besucher erscheinen würden.

In Kottbus, sagte er verlegen, habe er einen ganz vollen Saal gehabt.

Berlin ist skeptisch.
5.April 1934 (Donnerstag)



Glossen 25 - 27

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Glossen 31 - 33

© Karlheinz Everts