"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 43 - 45
29. Juni bis 13. Juli 1933


43

Wir haben uns nicht umgeschaltet - Der Schuß aus der roten Hundertschaft - Großer Rausschmiß bei Ullsteins - Der Anzeigen-Automat - Am meisten gefragt sind Ehevermittlerinnen - Wie es früher war - Grenzland-Kundgebung der Berliner V.D.St. - O alte Burschenherrlichkeit.

Wir haben uns 1918 nicht umgeschaltet.

An meiner Wohnung wehte am 27.Januar 1919 fünf Meter lang die schwarzweißrote Fahne.

Es war die einzige in Innen-Berlin, während in den westlichen Vororten manche hingen.

Unten auf der Straße zogen rote Hundertschaften mit umgekehrtem Karabiner her, ballten die Fäuste und schimpften. Meine Frau steckte den Kopf zum Balkon hinaus. Peng! Dicht neben ihr saß das Schußloch in der Mauer. Die Polizei, das damals 35. Revierbureau, rief telephonisch bei mir an, ich solle die Fahne herunternehmen. Ich denke nicht daran! Den 18. und 27. Januar, den 31. Mai und etliche andere Gedenktage begehe ich, wie ich will, auch wenn eine rote Regierung giftig dreinsieht und mich an Leib und Leben bedroht. Auf alle Fälle hatte ich damals meine Feldzugspistole bei mir. Ehe ich fiele, müßten fünf oder sechs andere daran glauben, wenn sie als Hausfriedensbrecher kämen. Aber es kam keiner. Sie hatten Angst, die Hundertschaften.

Ihr lieben jungen Leute von heute, die Ihr glaubt, allein das Dritte Reich aufgebaut zu haben, versteht Ihr, daß ich solch eine Berliner Erinnerung, an die ich mit einem leisen Menschenverächter-Lächeln zurückdenke, mir nicht nehmen lasse?

Jetzt, 1933, verstärkt sich noch die Verachtung gegenüber den Novemberlingen. Wie schnell sie sich, zum drittenmal seit 1914, umschalten! Dies und das davon erfährt das große Publikum, am wenigsten aber wohl von der Umschaltung in meiner eigenen "Branche", der des Zeitungsschreibers. O Ullstein, o Ullstein! Nicht weniger als 32 Redakteure hat die Firma im eilfertigen Bemühen, dem Wesen der Stunde gerecht zu werden und nach wie vor im Geschäft zu bleiben, auf die Straße geworfen. Von Bekennermut keine Spur.

Der Chefredakteur der Tante Voß, Georg Bernhard (unter ein ungemein echtes Bildchen von ihm schrieb Graf Eulenburg: "Das Gesicht der Republik!"), ist ja schon seit längerer Zeit weg, ist aus dem Reichsverband der Deutschen Presse cum infamia ausgeschlossen und hat kürzlich in Zürich die zweite öffentliche Ohrfeige seines Lebens in einem Hotel bekommen, das ihn alsbald abschob. Der Chefredakteur Mendel von der Morgenpost, blondes Halbblut, persönlich ein netter Kerl, der einzige Sozialdemokrat, mit dem ich in meinem Leben den kollegialen Gruß gewechselt habe, ist erst vor wenigen Wochen in das Ausland geflüchtet. Der Chefredakteur Kroner von der Berliner Illustrierten, dessen Großvater koscherer Metzger war, steht auf der Abwickelungsliste. Chefredakteur Herz von Ullsteins Buchverlag ist auch noch da, aber wer weiß, wie lange; jedenfalls wird er keinen Remark mehr lanzieren können. Geflogen ist der Leitartikler Elbau, der eigentlich Mandelbaum hieß, aber seinen Namen um das "Mand" und das "m" beschnitt, geflogen sind Reiner, Lachmann, Lewinsohn, Elsesser, Lustig und andere. Man stellt sich wieder einmal auf den Boden der Tatsachen. Gesamtleiter des Betriebes Ullstein ist Richard Müller geworden, ein ganz nationaler Deutscher, der ursprünglich Wurstfabrikant war und die entsprechende Faust besitzt. Im Verlagswesen ist er schon seit Jahren tätig, und zwar nicht etwa als - Wurstblattfabrikant, sondern als Begründer der lukrativen Grünen Post.

Vor dem Kriege fand ich es entsetzlich, wenn etwa ein Offizier oder ein Regierungsrat, um Bildungsbedürfnis und geistige Freiheit zu markieren, sich das Berliner Tageblatt kaufte. Ich tue es auch heute noch nicht. Aber es ist keine Schande mehr, denn alle Zeitungen ähneln einander über dem Strich wie auswechselbare Zwillinge, bringen im wesentlichen nur Tatsachen, nur Berichte über Verordnungen, Reden, Kundgebungen.

Den Zeitungsverkäufern auf der Straße macht das freilich Kummer. Kein Mensch kauft mehr gleichzeitig etwa die Berliner Nachtausgabe und das 8-Uhr-Abendblatt. Ein einziges Blatt genügt vollkommen.

Wir werden überhaupt allmählich weniger Zeitungen als bisher haben, mit dieser Prophezeiung hat ein nationalsozialistischer Führer dieser Tage durchaus recht. Wir hatten eine Inflation in bedrucktem Papier. Wenn in einer kleinen Kreisstadt zwei deutschnationale und ein nationalsozialistisches Blatt existieren, so ist das doch Unsinn; sie bringen sich gegenseitig um. Die am 27. Juni beschlossene Selbstauflösung der Deutschnationalen Front und ihr von Hitler unterzeichnetes Freundschaftsbündnis mit den Nationalsozialisten wird manche Zusammenlegung in der Presse erleichtern. Obern bleiben wird nicht der, der am lautesten schreit, sondern der, der seinen Lesern die größte Leistung, auch unter dem Strich, bietet.

Zeitungen leben nicht von den Abonnenten, aber deren Zahl und Kaufkraft bedingt die Anzeigen, die das eigentliche Geschäft sind. Wer heute, wo die Kauflust auf ein Minimum sinkt, seine Sachen nicht anzeigt, keine Reklame dafür macht, der ist verloren. Die Kundmachung in der Zeitung hat immer noch den größten Erfolg, mehr als die auf Anschlagsäulen und jede andere. Aber das Reklamegewerbe sinnt auf immer neue Formen. Eine Berliner Aktiengesellschaft, die sich damit befaßt, stellt eine Art Automaten auf, die dem Suchenden auf 180 Fragen Antwort geben. Einer steht am Kurfürstendamm, Ecke Fasanenstraße, und ist immer umlagert. Man braucht keinen Groschen hineinzuwerfen, sondern ein Boy steht daneben und drückt auf jeden gewünschten Knopf, worauf ein Päckchen Anzeigen herausfällt. Nächtliche Bummler (ihre Zahl verringert sich ständig) möchten meist wissen: "Wo amüsiere ich mich nach 3 Uhr morgens?" Aber dafür gibt es kein Fach.

Dagegen kann man das nächstliegende Leihhaus erfahren oder soundsoviel Herrenschneider, Friseure, Antiquitätenhändler, Astrologen, Abzahlungsgeschäfte, Modesalons, Zeitungsausschnittbureaus, vegetarische Speisehäuser, Handlinienleser, Korsettläden, Konditoreien, Geschenkartikel, was weiß ich.

Am meisten gefragt ist: Ehevermittlung. Da zeigen im ganzen 11 dieser wohltätigen Institute ihre Dienste an. Gerade verlangt wieder eine junge Dame Nr. 86. Der Boy sagt: "Ja, Frollein, Ehevermittlung is wieder ausjejangen, fast tausend Stück heute valangt, aber et kommt jleich neue Füllung!" Und als das Mädel nochmals fragt: "Wirklich keine 86 mehr da?", sagt der bedienende Junge tröstend: "Wartense bloß een bißken, Frollein, Se wer'n schon noch heiraten!" Die Ehevermittlerinnen sind heute überlaufen, aber die meisten Besucher kehren schon um, wenn sie erfahren, was sie da zu zahlen haben. Dann gehen sie doch lieber mit einer Anzeige zur Zeitung. Vor einigen Wochen hat ein Fräulein von 71 (einundsiebzig) Jahren in Berlin N, die bisher einem alten Brüderpaar als Wirtschafterin diente und nach deren Tode die Wohnungseinrichtung und ein paar hundert Mark geerbt hat, eine Heiratsanzeige erlassen, in der sie sich allerdings als "Sechzigerin" (so sieht sie auch aus) bezeichnete. Sie hat 49 Angebote bekommen! Das erste war, daß sie sich eine imponierende neue Damenhandtasche kaufte, und nun geht sie jeden Tag dreimal zu irgendeinem Stelldichein.

Gewerbsmäßige Heiratsvermittlerinnen hat es schon 3000 Jahre vor Christi Geburt gegeben.

Aber es hat auch immer Zeiten gegeben, wo ihre Inanspruchnahme nicht als das ganz richtige galt. Vor dem Kriege war den Offizieren durch Allerhöchste Kabinettsordre das Tangotanzen verboten, damals, als man den ganz neu aufgetauchten Tango allerdings mit ziemlichen Verrenkungen tanzte, was weder zu der Uniform noch zu den langen Damenkleidern paßte, ferner war jede Börsenspekulation mit Wertpapieren verboten und schließlich auch die Eheschließung durch gewerbsmäßige Vermittelung. Trotzdem ist natürlich mancher junge Leutnant, dessen Vater angesichts von noch 5 oder 6 anderen Kindern ihm die Schulden nicht bezahlen konnte, zu einer solchen professionellen Glücksstifterin gelaufen, um nicht als Tellerwäscher nach Amerika verduften zu müssen. Das waren nicht immer in rassischem Sinne passende Ehen, und zum Glück schraken die freundlich Beratenen auch häufig zurück; so gelang es der Tochter des Warenhauskönigs Wertheim nicht, ihren heißersehnten adeligen Oberleutnant der Garde zu kriegen, obwohl er schon im Hause ihrer Eltern verkehrte und auch materiell unterstützt wurde. Heute sind es meist sogenannte kleine Leute, die die Vermittlerin aufsuchen. Reiche Erbinnen gibt es ja kaum mehr, und auf den Rittergütern reichen die Hypotheken bis übers Dach. Aus den sogenannten gebildeten Ständen melden sich in Berlin, wie ich bei den zuständigen würdigen Damen höre, meist "fertig studierte", aber nicht angestellte junge Mädchen im Alter von 25 bis 30 Jahren, aber nach ihnen ist die geringste Nachfrage. "Erstens überhaupt Studentin in Berlin, na, man weiß ja Bescheid!" Und zweitens werden verheiratete Frauen, die gemeinsam mit ihrem Manne den Beruf ausüben, etwa Doktorinnen der Medizin, die Kinderfürsorge betreiben, jetzt überall abgebaut. Also auch das lohnt für den Mann nicht. Im übrigen haben die Vermittlerinnen sehr viel Lebenserfahrung und sehr viel Gewandtheit, laden gewöhnlich das "nach Papierform" abgepaßte Paar zu einer Tasse Tee zu sich oder in die Konditorei ein, helfen über die ersten Verlegenheiten weg, lassen keine Gesprächspause eintreten, und wenn dann die jungen Leutchen, nachdem sie etwas warm geworden sind, sich zu einem gemeinsamen Spaziergang verabschieden, ist die Sache in 4 von 5 Fällen gemacht.

Manchmal steht aber auch Er oder Sie allein auf und erklärt, man habe noch eine dringende Verabredung oder müsse nun ins Bureau oder nach Hause. Dann ist es so gut wie sicher, daß das Geschäft für die Vermittlerin nicht zustande kommt.

Das alles hatten wir einst viel bequemer, als es noch so viel Verkehr "von Haus zu Haus" gab und der junge Offizier oder Kaufmann oder Handwerker oder Student im heimischen Umkreise, nicht auf der Tanzdiele, Lieschen oder Lottchen kennenlernte und vor allem sah, wie sie zu den kleinen Alltagspflichten stand und wie sie sich Vater und Mutter gegenüber benahm. Heute kann er das korsettlose junge Mädchen körperlich besser abtaxieren, auch im anschmiegenden Badetrikot, aber er kommt nur schwer dahinter, ob sie sich zur Mutter seiner künftigen Kinder und als Hausfrau eignet.

In den alten Zeiten habe ich auch studierenshalber ein paar Semester Universitäten besucht. Man ging damals nicht ins Tanzkabarett, man war in den Familien willkommen, man sprach nicht über Politik, aber man wurde auf Herkunft und Gesinnung geprüft. Ich war zunächst drei Tage lang Gast bei "schlagenden" Farbenstudenten. Da trat ein Herr Joelsohn ein, dessen reicher Vater allerlei stiften wollte. Herr Joelsohn war mir nicht sympathisch - und ich blieb weg. Nun hatte ich als Sekundaner vor Jahren schöne Ferien bei dem Superintendenten Eichler in Pasewalk verbracht, dessen Sohn - der spätere Leitartikler der Deutschen Zeitung - mich alsdann für den Verein Deutscher Studenten keilte, der dem Wahlspruch "Deutschtum, Christentum, Monarchie" folgte und als einziger studentischer Verband grundsätzlich nur Arier aufnahm.

Dieser Urgeschichte habe ich es zu verdanken, daß ich am vorigen Sonnabend an einer Grenzlandkundgebung der Alteherrenschaft des Kyffhäuserverbandes der Berliner Vereine Deutscher Studenten in Frankfurt a.d.Oder teilnehmen konnte. Als "Führer" des Verbandes ist kürzlich der märkische Oberpräsident Kube gewählt worden, der Alter Herr von Berlin und Breslau ist. Jeder von uns Gesetzten möge, so hieß es in der Einladung, mindestens für je einen Aktiven (die sind ja heute alle so bitter arm) etwas zum Futtern mitbringen. Also hatte ich zwei Koteletts und eine Anzahl belegter Brote mitgenommen und traf auf dem Schlesischen Bahnhof auch gleich zwei passende Empfänger, Studenten, die mit unserem Jüngsten zusammen einst das Gymnasium in Berlin-Zehlendorf besucht haben. Schon schön. Dann die kurze Bahnfahrt, der Marsch in die Stadt Frankfurt a.d.Oder zum Marktplatz vor das Rathaus in seiner wundervollen Backsteingotik, und nach der Aufstellung die erhebende Feier. "Nach Oostland wollen wir reiten!" Kube mit seiner hallenden Stimme, nach dem zu reden stets ein Risiko ist, hielt die zündende Hauptansprache, in der er von den Verdiensten des Berliners A.H. Pfarrer Koch, von der polnischen Gefahr, in der Hauptsache aber von der marxistischen Pest sprach, die gänzlich in unserem Volke ausgerottet werde. Das ist der Mann, den Löbe einst verspottet hat. Heute sitzt Löbe im Gefängnis.

Dazu noch soundsoviele Mitbonzen. Einen von ihnen habe ich einmal in einem Berliner Lokal gesehen, in dem er "in angenehmer Gesellschaft" schlemmte. Auf Kosten von uns Steuerzahlern. Auf Kosten der Arbeitslosen, deren Rente gekürzt werden mußte. Und dieser Bonze tätschelte seine Begleiterin und sagte: "Arbeit macht das Leben süß, aber der Arzt hat mir alle Süßigkeiten verboten." Ex est. Der ehemalige Oberpräsident von Schlesien, Genosse Lüdemann, muß heute im Konzentrationslager Erde karren.
29. Juni 1933 (Donnerstag)


44

In einer kleinen Konditorei - Frau Dr. ing.  - Wir Valutariesen - Mehr Vertrauen in die Zukunft! - Nationaler Renntag - "Der Stern von Valencia" - Keine Bouillonkeller mehr - Rummelplatz-Razzia - Vor dem Flohzirkus.

Da ist sicher was los. Zu dritt, zu zweit, zu viert streben mehr oder weniger junge Damen - wes Standes, ist bei der heute allgemein damenhaften Aufmachung nicht zu erkennen - auf die Tür eines kleinen Cafés in der Wilhelmstraße zu. Also ich halte mich heran.

Zu meinem Erstaunen bin ich in dem einzigen Raum, der vielleicht 5 zu 10 Meter mißt, der einzige Gast und bestelle eine Tasse Kaffee bei dem Buffetfräulein. Die weibliche Schar aber sitzt und steht herum und macht nur gespannte Gesichter, hoffende Gesichter, zuckende Gesichter. Da ist die Padrona, die Inhaberin. Die sucht nämlich eine neue Serviererin (früher sagten wir Kellnerin), und dazu melden sich pünktlich zur angegebenen Stunde die Erschienenen. Alle gut angezogen, gut frisiert, schick, alle etwa zwischen 20 und 24 Jahren, alle zur Zeit arbeitslos. Nicht alle just für diesen Beruf vorgebildet; eine ist Sekretärin gewesen, eine hat die Lehrerinnenprüfung gemacht. Gleich die erste, mit der die Wirtin verhandelt, wird genommen, eine ausnahmsweise nicht Erblondete. Der Grund: erstens wohnt sie bei den Eltern, zweitens wohnt sie ganz in der Nähe, hat also nachts nur einen kurzen Weg ins schützende Heim.

Sonst legen Wirtinnen mehr Wert auf die Anziehungskraft der Serviererin als auf ihre Ungefährdetheit. Ich komme, nachdem die Mädchenschar enttäuscht abgezogen ist, mit der Inhaberin des Lokals ins Gespräch. Bitte sehr: Frau Dr. ing. Soundso. Der Mann, vor fünf Jahren tödlich verunglückt, besaß einst ein Vermögen, besaß eine Villa in einem berühmten Luxusbadeort. Nichts mehr da. Nur ein Sohn ist noch da. "Ein hübscher Junge, sieht aus wie ein junger Gott. Er geht in einem Vorort ins Gymnasium, wohnt bei meiner verheirateten Schwester. Ich verdiene hier das bißchen Geld für ihn, aber nie, nie soll er hier ins Lokal kommen."

Tausendfaches Berliner Schicksal. Ich habe mich davon überzeugt, daß alles wahr ist. Es ist nicht wie sonst, wo eine etwa erzählt: "Mein Vater ist als Oberst im Kriege gefallen." Und in Wirklichkeit war er Flickschuster in der Ackerstraße.

Aber solche tapferen Frauen wie die Dr. ing. in der kleinen Konditorei haben es immer schwerer, ganz gleich, ob sie ein Wirtshaus oder eine Plättanstalt oder einen Autobetrieb eröffnen. Die Leute gehen zu wenig aus und geben zu wenig aus. "Wir kaufen nur noch Lebensmittel; man weiß nicht, was morgen ist", schreiben mir Bekannte aus einer großen Provinzstadt. Hier liegt der tote Punkt, der überwunden werden muß. Das Geld muß ins Rollen kommen, ins Flattern kommen, nicht hinten rechts im Buffet hinter dem Tellerstapel liegen. Ein bißchen mehr Vertrauen in die Zukunft! Dazu haben wir alle Veranlassung. Wir sind im Auslande ungelittener denn je, aber "trotz allem" hat man doch Vertrauen zu uns, wie es die Festigkeit der Reichsmark beweist. Der Deutsche, der heute nach England oder Finnland oder in ein Dutzend anderer europäischer Länder (nur wenige haben eine Ausnahmestellung) hinkommt, ist dort der Valutariese, der für ein paar Groschen sehr viel haben kann. Nur im Inlande haben wir selbst noch zu wenig Vertrauen auf uns. Wir könnten mehr verleben, mehr Arbeit schaffen, mehr Reklame machen. Wir tun ja nachgerade so, als wenn Krieg wäre. Dabei ist alles zu haben. Auch für die Schaulust.

Aber wenn jetzt - am vorigen Sonntag - im Grunewald ein "Nationaler Renntag" veranstaltet wird, dann muß der Klub schon für ganz besondere Attraktionen sorgen, um auch nur die Hälfte der früheren Besucherzahl zusammenzubekommen.

O, man hat sich ja schon so angepaßt! Am Totalisator fing es vor dem Kriege mit 10 Mark an. Jetzt kann man schon für 2½ Mark ein Ticket bekommen. Außerdem kann man sich für einen kleinen Zuschuß gegen das Stürzen eines Pferdes versichern; dann bekommt man den Einsatz zurückgezahlt. Entsprechend diesen Bescheidenheiten sind die Toiletten. Das Rennen ist keine große Modenschau mehr, sondern die Damen erscheinen schlicht. Ein wenig Blinken bringen die Reichswehroffiziere hinein, die zahlreicher als sonst in Uniform gekommen sind. Es wäre ganz gut, wenn in Berlin das dauernde Ziviltragen außer Dienst wieder eingeschränkt würde wie früher, wo es offiziell nur für Reise, Krankheit, Sport "zuständig" war. Auch der Fremde Unter den Linden und an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche soll wieder wissen, daß wir nicht ganz ohne Heer sind und daß der verbrecherische Antimilitarismus niedergeschlagen ist. Daß in den Jahren seit 1918 der Offizier, ja auch der Soldat, nur ungern in Uniform herumging, und dann immer mit der Pistole in der Hosentasche, ist begreiflich. Einem Kameraden von mir wurden bei der Heimkehr aus dem Kriege, nachdem er sich von seinen unbesiegten Männern verabschiedet hatte, von dem Mob auf der Straße die Achselstücke abgerissen; diese Schmach mochte er nicht überleben und erschoß sich in derselben Minute. Das ist nun Gott sei Dank ganz anders geworden. Im Grunewald werden mehrere Rennen nur von Reichswehroffizieren bestritten. Und eines ist den "Alten Herren" über 50 vorbehalten, die es in den bunten Friedensuniformen reiten. Das ist eine der großen Attraktionen. Gemeldet hatte u.a. auch der General der Kavallerie a.D. von Kayser, den ich noch als jungen Rittmeister mit seinem damals unverwüstlichen, ehrwürdigen Schimmel erlebt habe, der häufig genug auf deutschen Rennplätzen seine Nase durch den Siegespfosten streckte.

Kayser war blauer Husar. Diesmal machte ein schwarzer Totenkopfhusar das Rennen. Hinter ihm zwei andere Husaren, zwei Ulanen, ein Artillerist, ein Dragoner. Tadelloser Start, tadelloses Dahinfegen über die 2000 Meter, scharfer Endkampf. Und selige Augen rundum.

Die zweite große Attraktion der Patrouillenritt. Fünfzehnmal je drei Reiter unter einem Führer, Reichswehr und Polizei, jedesmal so gut wie geschlossen über acht turniermäßige und Geländehindernisse - darunter Tiefsprung, Wall, Wassergraben - auf einer Strecke von 1800 Metern. Den wohlverdienten Ehrenpreis holte sich das Reiterregiment 9 mit seiner Fürstenwalder Patrouille. So etwas sollte man häufiger wiederholen, auch das Rennen der Alten Herren, weil dadurch jedesmal eine besondere Besucherschicht herangelockt wird, nicht nur die Totalisator-Verzückten. Gerade das Patrouillenreiten der Mannschaften, der Kavalleristen, der Artilleristen, der berittenen Schutzleute ist etwas ungemein Volkstümliches.

Auf das Volkstümliche kommt es überall an, auch in der Kunst, auch auf der Flimmerleinwand. Der Satz des Reichspropagandaministers Dr. Goebbels: "Die deutsche Kunst der nächsten Jahrzehnte wird heroisch, wird stählern romantisch, wird sentimentalitätslos, sachlich, wird national mit großem Pathos, sie wird gemeinsam verpflichtend und bindend sein oder sie wird nicht sein" ist durchaus richtig; insofern haben "Schlageter" auf der Bühne und "S.A.-Mann Brand" auf der Leinewand zwar Epoche gemacht, aber dazwischen - dazwischen - muß auch, wie Dr. Goebbels selbst anerkennt und wie Mussolini es eben erst Sarah Bernhards Enkel Verneuil gesagt hat, etwas für die leichte Unterhaltung geschehen, damit das von dem Ernst des Lebens hart mitgenommene Publikum die Schauspiel- und Lichtspielhäuser nicht leerstehen läßt. Nach diesem Rezept hat die Ufa, deren Generaldirektor Klitzsch heute der Spitzenführer im deutschen Filmwesen ist, jetzt ihren "Stern von Valencia" herausgebracht, der im Grunde doch nur ein spannender Kriminalreißer ist. Matrosenkneipe, Tanzkabarett, Sekt, Mord, Mädchenhandel, Verfolgung auf See, alles da, nur alles ohne irgend etwas Untugendhaftes in der Tendenz, o, im Gegenteil. Und doch so prickelnd, wie die breite Masse es liebt, einschließlich des Schlagers, den Liane Haid singt und tanzt:

"Frauen wie ich kennen die Welt,
Wissen, was den Männern gefällt."

Und sie gefällt in ihrem Minimum an Bekleidung und in ihrem Maximum an Tugend tatsächlich nicht nur den Männern, sondern auch den jungen Mädchen sehr, die sie nach der Première in der Vorhalle des Ufapalastes so umdrängen, daß sie kaum Luft kriegt.

Die konzessionierte Untugend der letzten Jahrzehnte, die die Grzesinski und Weiß und Friedensburg nicht stören wollten, existiert in Berlin an öffentlich zugänglichen Orten nicht mehr. Der neue Polizeipräsident, Admiral von Levetzow, packt mit seinen Razzien so fest zu, wie sein älterer Kamerad, Admiral von Schröder einst in Flandern den Feind in die Zange zu nehmen wußte. Man denke: die "Bouillonkeller" in Berlin haben aufgehört, ein gutes halbes Dutzend mit Nachtkonzession, wo von 3 Uhr morgens ab die Verbrecherwelt sich ein Stelldichein gab. Über den in der Bülowstraße (oder war es "Kü-Ka" in der Budapester Straße?) habe ich einmal geschrieben. Ein Seitenstück dazu im Norden war der in der Borsigstraße, dem "Hunde-Gustav" gehörig, der seine eigentliche Mittlertätigkeit dadurch zu tarnen suchte, daß er die Dressur und den Verkauf von Hunden betrieb. Er wog übrigens 2½ Zentner und war ein bei nicht fügsamen Gästen gefürchteter Schläger; wo seine Faust hinhieb, da wuchs kein Gras mehr.

Die letzte Razzia dieser Woche, von 224 Beamten blitzschnell eingeleitet und durchgeführt, galt dem Rummelplatz in der Köpenicker Straße. Zum zweitenmal seit ihrem Bestehen - das erstemal hatte es sich um die Durchsuchung des Barmat-Geländes auf Schwanenwerder gehandelt - war diesmal auch die Wasserpolizei beteiligt. Sie sperrte auf die Minute genau die Spree, an die der Rummelplatz grenzt, gegen solche Besucher ab, die hinein und hinüber wollten. Ein Fang von 611 Leuten, darunter 25 steckbrieflich gesuchte Verbrecher, wurde abtransportiert. Die "Unterwelt" hat nichts mehr zu lachen, es wird aufgeräumt, wir wollen keine Chicagoer Zustände in Berlin. Kein Ringverein veranstaltet mehr öffentliche Bälle mit leutseligen Ehrengästen von Polizei und Presse, kein Ringverein veranstaltet mehr pompöse Begräbnisse von gefallenen Verbrecherkameraden. Das wird alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Es ist ein Vernichtungsfeldzug. Kein Schlupfwinkel, wobei das Laubengelände rund um Berlin (Schrebergärten) zuletzt besonders bevorzugt war, bleibt unbehelligt. Die Rummelplätze mit ihren Karussells und Schaubuden aber waren seit altersher sozusagen die Börse der Verbrecher, wo Angebot und Nachfrage sich regelten und beschlossen wurde, "ein Ding zu drehen" oder einen "fertig zu machen".

Fertigmachen heißt totschlagen. Mancher Nationale und mancher Schutzmann hat es erfahren. Die Adressen waren da. Heute aber ist das Gelichter in Angst. Leib und Leben in Berlin sind sicherer als früher.

Außer den alten Verbrechern drängt sich die jüngste Jugend zu den Leinwandzelten. Den Rummelplatz in der Belle-Alliance-Straße habe ich zu Studienzwecken wiederholt aufgesucht. Da gibt es zehnjährige Knaben und Mädchen mit wissenden, frechen Augen. Es dauert nicht lange, da sind sie Handlanger der Ganoven. Und werden später selbst zu alten Verbrechern.

Wenn ich auf einen Rummelplatz gehe, leere ich vorher zu Hause meine Taschen. Nichts an Papieren oder sonst wichtigen Dingen bleibt darin. Nur das nötigste Kleingeld kommt in die innere Westentasche. Dann Kragen hoch, Beule in den Hut und los. Mir hat noch keiner was geklaut. Aber einmal habe ich eine Familie warnen können, deren Dienstmädchen am Karussell ein "Ding" mit ihrem Freunde verabredete. Jetzt sind diese Freunde gehetzte Menschen. Die Polizei betreibt ihr Abfangen geradezu sportmäßig.

Der Inhalt der Schaubuden - es gibt sehr reelle, brave Staatsbürger unter den Besitzern, die schwer zu ringen haben und das Gesindel verabscheuen - wird immer dürftiger. Am Aussterben ist der früher so beliebte Flohzirkus, weil - im Gegensatz zu dem unbrauchbaren Hundefloh - der gelehrige Menschenfloh, pulex irritans, immer seltener wird. An einem solchen Zirkus, insgesamt keine 10 Quadratmeter groß, klebt vorn ein Anschlag:

"Menschenflöhe gesucht. Zahle 60 Pfennige pro Stück. Für weibliche mehr."

Es ist immerhin doch ein Trost, daß es noch eine Stelle gibt, wo das weibliche Geschlecht dem männlichen nicht nur gleichwertig gilt, sondern höher taxiert wird.
6. Juli 1933 (Donnerstag)


45

Schüsse im Grunewald - Vom Fimmel der Frauen - Die Amtsrichterin - Thea v. Harbou geschieden - Italienische Nacht - Die Geschminkten - Philipp Scheidemann tarnt sich - Der Sieg des Nationalismus.

Im Grunewald, im Jagen 43, abseits von den begangenen Wegen, knallen drei Schüsse. Ein Vater hat seine zwei Kinder und dann sich selbst ums Leben gebracht. So etwas kommt gelegentlich vor; nach acht Tagen spricht in der Großstadt kein Mensch mehr davon.

Aber es ist doch ein besonderer Fall, der zur Kulturgeschichte unserer Tage gehört. Wie sie hoffentlich bald - war, nicht mehr sein wird. Die Zeitungen berichten kurz (wozu soll man dem Lokalreporter mehr Zeilen gönnen?), daß wohl "Ehezerwürfnisse" an dem Drama mitschuldig seien. Der Mann, Studienrat, Professor, Doktor, stand im Alter von 58 Jahren und auf der Höhe seines Schaffens in gesicherter Stellung, weit über diesen Posten hinaus aber in Deutschland bekannt als Vorkämpfer gegen den Alkohol. Seine Frau, Mitte 40, mit ihm darin ein Herz und eine Seele, betätigte sich auch in der Bewegung, hielt Vorträge wie er in vielen Städten.

Sie hatte zuerst Nahrungsmittelchemie studiert und ihr Staatsexamen zur Approbation als Apothekerin bestanden, hatte also hohe Eigenbildung, hatte Mann und Kinder. hatte einen doppelten Wirkungskreis und war im übrigen ein nettes, frisches Kerlchen.

Da aber packte sie - das ist die Angabe des Mannes - der Doktorfimmel.

Was, bloß der Herr Ehegemahl Doktor und sie nicht? Das wäre gelacht! Also man muß doch der Menschheit zeigen, daß die Frau genau dasselbe leistet wie der Mann . . .

Ich will, ehe ich diese von der Familie des Mannes gegebene Darstellung zu Ende erzähle, gleich einfügen, daß die Frau und ihre Angehörigen ganz anders darüber denken. Die Frau habe unter der Quälsucht des Mannes in den letzten Jahren schwer gelitten und sich deshalb von ihm getrennt, habe schon immer die auch vom Vormundschaftsgericht geteilten Befürchtungen wegen der Kinder gehabt und für den Fall eines tragischen Ausganges des Lebens ihres Mannes, der schon einmal schuldhaft geschieden sei, sich in den Stand setzen wollen, selber ihre Kinder zu ernähren.

Sie habe zuletzt in Todesangst gelebt. Daß der Mann trotz seiner großen geistigen Begabungen und trotz seiner unleugbaren Verdienste, ein nicht normaler Schisophrem, also ein Irrsinniger war, habe das Gericht im Scheidungsprozeß anerkannt, nur nicht sein gemeingefährliches Irresein. Daher auch die Erlaubnis zum Verkehr mit seinen ihm bereits aberkannten zwei Kindern.

Es wäre unritterlich, dies zu verschweigen und einseitig die Frau zu verdammen. Und doch wünschte ich, die Frau hätte daheim aushalten könne.

Das Gymnasium, an dem der Studienrat wirkt, liegt nicht in einer Universitätsstadt. Die Frau, die 3000 Mark in einer Lotterie gewonnen hat, packt ihre beiden Kinder auf und bringt sie bei dem Bruder in Berlin unter, sie selbst aber bezieht für ein Jahr die Universität Rostock. Um als Doktor zu promovieren. Die schriftliche Arbeit hat sie kürzlich schon eingereicht, es fehlt nur noch das Mündliche, dann will sie ihren eigenen Weg machen.

Der einsame Mann ist in diesem einen Jahr, obwohl er seine Pflicht tut, seine Schulstunden und seine Vorträge wie immer abhält, vollends verstört geworden. In einem seiner Briefe, der mir vorliegt, kommen schon Schnitzer in der Rechtschreibung vor. Jetzt, in den Schulferien, fährt er zur Familie seines Schwagers nach Berlin herüber, um die beiden Kinder wiederzusehen.

Und dann knallen die drei Schüsse im Jagen 43 im Grunewald.

Ich habe eine Frau, die, da sie als junges Mädchen ihr Lehrerinnenexamen gemacht hatte, dazu Fremdsprachen im Auslande erlernte, unsere Kinder - und das ist ein ganzer Haufen - bis zur Aufnahme in die Quinta des Gymnasiums selbst zu Hause unterrichtet hat. Dabei alle Anzüge für die Bande selbst genäht, Berge von Strümpfen gestopft, den ganzen Haushalt besorgt, mir jedes nötige Zitat aus meinem Bücherschragen beschafft.

Nie hat sie den Ehrgeiz gehabt, auch noch in meinem Berufe es mir gleichtun zu wollen, Schriftsteller oder gar Soldat zu werden. Sie ist zuerst sogar schwer zu bewegen gewesen, an die Wahlurne zu gehen, weil sie das Wahlrecht für ein Korrelat der Wehrpflicht hält.

Ich gebe nur Beispiele, ich ziehe keine Schlüsse. Die überlasse ich der heranwachsenden Frauenwelt des Dritten Reiches und seiner gesetzgebenden Regierung. Da kennen wir ein Ärzteehepaar in Berlin. Die Frau, die neben dem Manne, nicht einmal mit ihm, denn sie haben verschiedene Fächer, ihre Praxis ausübt, kriegt ein Kind und nochmal ein Kind. Dafür hat sie keine Zeit, die Patienten gehen vor. Also wird eine Säuglingspflegerin und später eine Gouvernante engagiert. Eigentlich wachsen die Kinder elternlos auf, und das, was die Mutter verdient, das geht so gut wie bis zum letzten Pfennig erstens für das vermehrte Dienstpersonal und zweitens für die wissenschaftlichen Fortbildungsmittel weg. Da kennen wir eine zweite, jetzt geschiedene Ehe in Berlin. Der Mann ist hiesiger Vertreter einer großen auswärtigen Zeitung, die Frau Amtsrichterin gewesen. Wenn sie spät nachmittags todmüde nach Hause kam, noch mit Akten bepackt, die sie abends zu studieren gedachte, fragte sie: "Was gibt's zu essen?" Allzu lange konnte sie diese Begrüßungsworte an ihren Mann nicht richten, denn eines Tages war er nicht mehr da, sondern zog den Stammtisch in einem Weinhaus diesem - Familienleben vor.

Solche Beispiele lassen sich in allen Ständen abwandeln, bis zum sogenannten ungelernten Arbeiter hinab, dessen Frau, weil der Mann zu wenig für das bißchen Lust am Wochenende verdient, in der Fabrik sich abschuftet und verdrossen heimkehrt. Nicht als Quell neuer Schaffensfreude für den Mann, nicht als fröhliche Mutter ihrer Kinder. Die haben sich inzwischen, falls überhaupt welche da sind, in der Gosse herumgetrieben und mit frühreifen Augen ringsum Sünde und Verbrechen beobachtet.

Das Dritte Reich hat den Mut, so "reaktionär" zu sein, statt dessen die Ehe alter Art wiederherstellen zu wollen.

Eine Ausnahme werden trotzdem natürlich die Künstler- und Schauspielerehen wohl bleiben. Es gibt zur Kinderlosigkeit vorherbestimmte Paare von sonst großer sozialer Leistungskraft, wie ja auch Friedrich der Große als einsames Genie prädestinierter Hagestolz war. Vor einigen Wochen haben Thea v.Harbou und Fritz Lang sich scheiden lassen, wovon noch heute ganz Berlin spricht. Es scheint, daß sie, die wieder Schlankgewordene, jetzt in ihren reifen Jahren und bei der allgemeinen Umwälzung Sehnsucht nach einem (so nannte man es früher) "indoeuropäischen" Gefährten bekommen hat. Fritz Langs Mutter hieß nämlich Schlesinger, was er vergeblich durch ein ostentativ feudales Monokel zu verbergen suchte.

Die Umwälzung . . .

Ich habe anderswo, schon im Februar, erklärt, daß wir selbstverständlich unaufhaltsam in den Faschismus hineinrutschen. Damit sei eine starke individuelle Unfreiheit verbunden, aber das wiege nichts, wenn dadurch die Freiheit von Volk und Vaterland errungen werde.

Es ist eine Bewegung, die bald über ganz Europa dahinrauschen wird.

Die Italiener, die als erste - als nicht versklavtes Volk hatten sie es leichter - das alte System über den Haufen rannten, sehen wohlwollend zu. Sie werden deshalb nicht zu unseren schwärmerischen Bundesbrüdern. Auf dem Schachbrett der Politik bleiben wir, die noch Waffenlosen, für sie der Bauer, die "lateinische Schwesternation" Frankreich aber die Königin. So haben sie auch auf der Genfer Abrüstungskonferenz mit den Franzosen gegen uns gestimmt. Aber man rückt volklich einander näher. Die hiesige italienische Kolonie, die nicht etwa bloß aus Südfruchthändlern und Restaurateuren besteht, hat jetzt, am vorigen ganz hochsommerlichen Sonnabend, eine "italienische Nacht" für die Berliner veranstaltet, am Hundekehlensee im Grunewald, die einen gewaltigen Zulauf hatte. Der Fascio di Berlino hatte dazu eingeladen. Die im allgemeinen schlicht und doch bestgekleidete Damengesellschaft, die ich in diesem Jahre gesehen habe, war da zu Tausenden versammelt, dazu in einer Minderheit Herren in Zivil, in Braunhemd, in Schwarzhemd; Tanz auf vier großen Flächen, Gesang, Tombola, Lampions in Grünweißrot und Schwarzweißrot, Lampions mit italienischen Wappen und deutschem Hakenkreuz.

Die Italienerinnen sahen diesmal wirklich italienisch aus mit ihrem bräunlichen oder alt-elfenbeinernen Teint und ihrem schwarzen Haar. In Italien selbst ist - wie in unserem Märchen - die Pechmarie zur Goldmarie geworden. Hellblond gefärbt sein und weiße Haut haben ist dort zur Zeit große Mode. Genau so wie zum erstenmal vor 2000 Jahren, als römische Offiziere und Soldaten aus Germanien heimkehrten und erzählten, da oben sähen die Mädchen wie Milch und Blut aus und hätten Haare wie gesponnene Sonnenstrahlen.

Heute, aber es läßt zum Glück schon nach, haben wir selber einen riesigen Farbenkonsum. Die Tüncherei und Schminkerei, die früher nur die Halbwelt übte, um unter der Gaslaterne jugendlich-gesund auszusehen, ist hierzulande weitverbreitet, und der Lippenstift, der üble Bazillenträger, verunstaltet noch immer sonst saubere Gesichter.

In dieser heißen Nacht am See sah ich stolze Römerinnen mit natürlichem Lippenrot neben zurechtgemachten Berlinerinnen mit Farbtopfherzchen an Stelle der Oberlippe. Das verträgt sich nicht gut mit dem Einschlürfen von Spaghetti, sachgemäß um die Gabel gewickelt. Aber schließlich, in der Nacht sind alle Katzen grau, und es ist eine zauberhafte Nacht. Es gibt sogar eine richtige Serenata wie in Venedig. Eines der auf dem See dahingleitenden lampiongeschmückten Boote ist mit italienischen Sängern, Sängerinnen, Gitarrespielern besetzt; es ist in der Tat märchenhaft schön.

Auf das Gekeife unserer Emigranten im Ausland gegen die deutsche Erhebung geben die Italiener nichts, denn sie wissen aus eigener Erfahrung, daß auch alle italienischen Hetzartikel in Paris Mussolini nichts angetan haben. So etwa stirbt langsam aus. Unser alter Volkstribun und zuletzt Bonzenclown im Berliner Klub "Bühne und Film", Philipp Scheidemann, nennt in einem Newyorker Blatt die heute in Deutschland Regierenden eine Bande von Verbrechern und fordert unverblümt zum Kriege gegen uns auf.

"Jochimke, Jochimke, hüte di,
Fange wi di, so hange wi di!"

möchte man ihm mit dem altmärkischen Verschen zurufen. Aber einstweilen - er sitzt in Karlsbad und schreibt für den dortigen "Vorwärts" - heißt er gar nicht mehr Scheidemann, sondern Volkmann. Und er, der nicht genug zu schmälen wußte, daß 1918 Ludendorff sich "mit einer blauen Brille" von der sozialdemokratischen Regierung nach Schweden abschieben ließ, hat sich jetzt aus Angst seinen Knebelbart abnehmen lassen und vom Schnurrbart nur ein Bürstchen unter den Nasenlöchern "ganz à la Hitler stehen lassen.

Da lacht einem doch das Herz im Leibe. Wenn ich heute den letzten Berliner Plauderbrief in dieser Saison schreibe und in Urlaub gehe, so leuchten mir die Augen nicht nur aus Ferienfreude. Was für Monate liegen hinter uns! Wofür ich seit fast fünfzehn Jahren, auch in Feuilleton, da zur Erfassung der Familien, gerungen habe, das erfüllt sich. Und wenn erst die kleinen Kinder von heute groß sind, dann kann Alldeutschland, zur Einheit erzogen, das Berliner Sprüchlein zitieren. "Mang uns mang is keener mang, der nich mang uns mang jehört!" Es ist schön, gegen Ende eins arbeitsreichen, kampferfüllten Lebens Optimist sein zu können.

Häufig genug habe ich in den Elendsjahren meine letzte Plauderei im Juli ungefähr mit den Worten geschlossen: Paßt auf, es kommt noch ganz anders, Berlin wird einmal wieder ganz national!

Und diesmal, an dem großen Wendepunkt unserer Geschichte, möchte ich wiederholen, was ich von Weimar aus am 22. August 1919 geschrieben habe:

"Wüstheit ist nicht nötig, aber der Wille zum Siege, mit allen erforderlichen Mitteln: man muß den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen, statt für ihn an seinem Werke positiv mitzuarbeiten. Sonst bildet sich über kurz oder lang eine neue radikale Partei der Rechten, eine Partei der "Unbedingten", und die Arbeit der bisherigen monarchischen Parteien ist verloren. Es ist Sorge um sie und nicht Kritiksucht, die mich das am Ausgang von Weimar feststellen läßt. Wir haben immer noch nicht genug von dem Gegner gelernt. Wir ziehen uns die weiße Weste prall und sind zufrieden. Dann kann man aber nicht, was wir in Weimar allmählich begriffen haben sollten, Kanalräumer werden. Und so verkommen wir denn unter dem gehäuften Unrat der Revolution, bis vielleicht einst ein Herkules an den Augiasstall herangeht, nachdem wir selber längst darin verdorben und gestorben sind. Ich wünschte, ich erlebte ihn noch."

Der Herkules der Sage war ein Halbgott. Das ist Hitler nicht, sondern ein Mann aus dem Volke. Aber ich sehe, daß er es schafft. Und wenn ich, mit einem glücklichen Blick auf die Jugend, elegisch werden wollte, mein Handwerk abschließen wollte, könnte ich es nur mit den Worten tun:

"Herr, nun lässest Du Deinen Diener in frieden hinfahren!"

Wir von der wirklichen Opposition, wir alle, denen glühender Nationalismus durch die Adern rann, haben auf unsere Weise dem Herrn gedient und in seinem Auftrage - Deutschland. Deshalb habe ich in "Friedrich dem Vorläufigen", im "Schmied Roms", in anderen Büchern immer wieder Brandpfeile in faule Dickwänste gejagt.

Bis ich dann am 21. März 1933 in und vor der Garnisonkirche zu Potsdam mit der erwachten Nation den Tag unserer Volkwerdung feiern konnte.

Zum erstenmal seit dem 14. Dezember 1918, dem Heimkehrtag aus dem Felde, wieder in der Uniform des alten Heeres, die erneut als Ehrenkleid gilt. Ganze Ströme von jungen Menschen aber, unsere Kämpfer von übermorgen, fluten in früher nicht bekannten Uniformen vorüber. Nicht die Farbe, nicht die verschiedenen Abzeichen der Tracht machen es, sondern das darunter pochende Herz: "Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, wir alle stehen für dich ein!"
13. Juli 1933 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

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© Karlheinz Everts