"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 34 - 36
27. April bis 11. Mai 1933


34

Die eineinhalb Prozent - Das Ende der Großlogen - Keine Anpreisung von "Partnerinnen" mehr - Böß und Reinhard - Hanns Johsts "Schlageter" - Das Hohelied der Sprache.

An den Wassern von Babel - ich meine natürlich die Spree - wird Trauer geharft. Das neue Schulgesetz, das der Verordnung über den Numerus clausus bei den Anwälten gefolgt ist, hat tief getroffen. Aber "es ist nur alles halb so doll, als wenn es doppelt so doll wäre", sagen schon am 27. April diejenigen, die am 26. April erbleichten, denn für Sprößlinge aus Mischehen, die vor diesem Tage geschlossen sind, gilt der Paragraph nicht, der nur 1,5 Prozent Nichtarier zur höheren Schule zuläßt.

Die goldblond gefärbten Dunkelblonden, die in den letzten zwanzig Jahren so massenhaft ins nichtarische Geld hineingeheiratet haben, selbstverständlich unter dem Vorwande, daß es ihnen nur das Intellektuelle und Künstlerische angetan habe, haben etliche Wochen hindurch die Rassenschande empfunden, sind verstört der Straße und den sonst "frequentierten" Lokalen ferngeblieben, aber heute bummeln sie wieder dreisten Gesichts, mit nachgezogenen Augenbrauen, neben ihren fetten Kurfürstendammern einher.

Sie würden es schon wieder schaffen, meinen sie; das Fieber gehe vorüber. Man wird nicht mehr unter die 1,5 Prozent gerechnet, Halleluja; und die Hundertprozentigen aus WW sind vielfach außer Landes.

Überhaupt, was ist Berlin gegen Paris und Prag und Wien und London?

Berlin zerfällt in zwei Teile, in die alte City und den neuen Westen. Im Jargon: in Cispleitanien und Transpleitanien.

Ein Geschäft ist eigentlich nur noch in Fahnen zu machen. Bei Rudolf Hertzog gibt es keine mehr. Aber Transpleitanien handelt pfiffig mit Hakenkreuzen.

Gegen die Hauptstädte anderer Staaten hat Berlin sich übrigens wirklich stark abgesetzt, zum großen Teil sogar in aller Stille, ohne daß in den Zeitungen, nach italienisch-faschistischem Vorbild, auch nur ein Wort darüber erscheint. Wer in der breiten Masse weiß es, daß die Großlogen aufgelöst sind? Ludendorff und mein soeben verstorbener lieber Graefe und andere haben die Freimaurerei, obwohl sie in Deutschland - ich kenne sie nicht, weil ich für nichts Internationales zu sprechen war - fast nur eine kleinbürgerliche Gesellschaft zu gegenseitiger Unterstützung gewesen sein soll, ihr Lebtag scharf bekämpft. Jetzt ist sie auf einmal verschwunden. Oder wer in der breiten Masse weiß es, wie der Anzeigenteil unserer Presse im Handumdrehen gereinigt worden ist?

Vor dem Kriege und vor der Revolution brauchte man in Paris nur eine Nummer von "Le Sourir" oder in Brüssel nur eine Nummer von "Le Petit Bleu" zu kaufen, um reichliches Angebot der Venus vulgivaga zu finden, und das waren lange nicht die einzigen Blätter; fast alle übrigen brachten, auch wenn nicht so reichlich, ähnliche Anzeigen. In Berlin fand sich dieser Fleischmarkt lediglich in Ullsteins "Vossischer Zeitung", wo er nach 1918 vornehm einschrumpfte, dafür aber um so mehr in allen möglichen anderen Tage- und Wochenblättern wucherte. Auch das ist radikal aus.

!!Etwas Neues im Westen!!

Arrangements für Bridge, Geselligkeit, Reise, Week-
end trifft meine bekannte neuzeitliche Institution. Indi-
viduelle Beratung.                  (Adresse usw.)

Solche eindeutigen Anzeigen, auf die hin der oder jener "Herr Direktor" aus Berlin WW hinging und auf die Frage nach seinen individuellen Wünschen etwa erklärte: "Eine hübsche blonde Studentin, 20 Jahre, aus guter Familie!", darf heute, sonst wird sie verboten, keine Zeitung mehr bringen.

Dieses Geschäft hat wohl Goebbels - es kann aber auch ein anderer Führer der deutschen Umwälzung sein - der Presse und den sonstigen Beteiligten "vermasselt". Überhaupt manches Geschäft, das in Sumpfluft nur gedeihen konnte, ist zerplatzt. Herr Robitschek, der Besitzer und Leiter des Bierkabaretts der Komiker, in dem zu Zeiten nicht nur schlüpfrige, sondern richtig schleimige Sachen - häufig mit einem Stich gegen Deutschtum, Christentum, Königtum - vorgetragen wurden, ist auf und davon. Dieses Kabarett stellte sich im letzten Jahre mehr auf Variété um, brachte Tanz und Turnen zwischen den Pariser Sketches und den immer noch dreckigen Zwischenreden der Conferenciers, der Ansager. Und mit Siegermiene ("Uns kann keener") wurde verkündet, wenn wirklich einmal das Dritte Reich komme, dann stelle man eben eine blonde Schauspielerin auf die Bühne, und damit basta.

Es ist ein bißchen anders gekommen. Auch ernsthaftere Theaterbetriebe in Cis- und Transpleitanien stehen vor der Pleite und harren der Ablösung durch deutsche Leiter. Es fällt einem schwer, in diesem Zusammenhang auch Max Reinhard und sein "Großes Schauspielhaus" nennen zu müssen, denn so unangenehm - seiner Gattin Else Heims gegenüber einfach schmutzig - dieser Reinhard als Mensch war, so groß ist er als Regisseur, wovon noch heute sein Hofmannsthalsches "Welttheater" zeugt, dieser urdeutsch-mittelalterliche Totentanz, der jetzt für den neuen Leiter des Deutschen Theaters, Achaz, zum Kassenfüller geworden ist.

vBeiläufig bemerkt: der frühere, soeben endlich inhaftierte Oberbürgermeister Böß, der der hungernden Stadt Berlin jährlich rund 120 000 Mark gekostet hat, nämlich 36 000 Mark Gehalt, 24 000 Mark Dienstaufwandsgelder, den Rest für ständigen Ausbau seiner fürstlichen Wohnung und sozusagen erpreßte Privatrechnungen, dieser demokratische Oberbürgermeister Böß, der das Betreten von Hotels, die schwarzweißrot flaggten, der Beamtenschaft verbot und dem Besitzer des Hotels "Exzelsior" den Tunnel zum Anhalter Bahnhof erst genehmigte, als dieser einen Sommeraufenthalt für die Familie Böß bezahlte, hat auch Herrn Max Reinhard-Goldmann die schönste Bleibe in Berlin verschafft, das historische Landhaus im Bellevue-Park der Hohenzollern.

Wann wird dieser Vertrag annulliert?

Keuchend und ohne Atem haben wir, die wir seit 1918 in der vordersten Front nicht gegen diese Republik, aber diese Republikaner gestanden haben, unsere Handgranaten gegen Böß, Sklarek und Konsorten geschleudert.

Endlich 1933 hat das Volk begriffen, worum es ging, hat sich eine Regierung der Reinigung gewählt und sieht nun bei den Aufräumungsarbeiten den Schmutz. Die große Frage: was tritt an dessen Stelle? Achaz, der Sohn des Geheimrats Duisberg, bereitet im Deutschen Theater eine Aufführung des "Wilhelm Tell" vor, des lange verpönten, und im Staatlichen Schauspielhause erschüttert allabendlich Hanns Johsts "Schlageter" die Zuschauer.

Wir bekommen also auch in der Kunst die berühmte Gleichschaltung, die alles umreißt und mit fortreißt, was von den Ismen seit 1918 sich noch nicht freiwillig ums Leben gebracht hat oder sich nicht wenigstens totstellt, vom Sozialismus über den Pazifismus bis zum Futurismus und Bolschewismus. Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß es mit Hochstimmung allein nicht gemacht ist.Wir können nicht nur von der "Brennenden Grenze" und ähnlichem leben, woran im vorigen Jahre Langes Deutsches Nationaltheater zerbrach, nicht nur von patriotischen Dramen und Filmen. Die Griechen wußten wohl, was sie taten, wenn sie einer erschütternden Tragödie immer ein Satirspiel zum Lachen folgen ließen. Es ist auch leichte, fröhliche Ware nötig, wie etwa Schlössers "Schneider Wibbel", sonst geht schließlich kein Mensch mehr ins Theater.

Zu Johsts "Schlageter" ergießt sich einstweilen noch ein gewaltiger Strom von Besuchern. Nicht nur in Berlin, sondern - dank der "Gleichschaltung" der Nation - auch in den rund 200 Schauspielhäusern im Reiche.

Johst ist nicht irgendwer, sondern war schon früher, ehe er Nationalsozialist wurde, anerkanntes großes Talent. Ein Rektorsohn, ein Bauernenkel aus der Gegend von Riesa in Sachsen. Von ihm, dem heute Dreiundvierzigjährigen, sind, soviel ich weiß, schon 18 Dramen, Gedichtbände, Romane erschienen. Zunächst lohte in ihm, wie in dem seinem Herzog entlaufenen Friedrich Schiller der "Räuber", der nachher trotzdem als Weimarischer Geheimrat und Berliner Professor und geadelt endete, nur das Revolutionäre. Er schrieb, ähnlich wie Toller, Stücke über das Grauen des Weltkrieges, während dessen er, wenn das "Berliner Tageblatt" Recht hat, in München schwabingerte. Ein Drama von ihm wurde sogar von dem Kommunisten Piscator rot aufmontiert. Vor mir liegt ein anderes Drama von Johst, das im sechsten Tausend 1924 bei Langen in München erschienen und dem Juden Ernst Witkowski gewidmet ist. Der "Schlageter" von 1933 aber ist Adolf Hitler gewidmet. Im Grunde ist es jedoch bei dem urdeutschen Johst eine allmähliche und naturgegebene Entwicklung, ein Ausgären und Reifwerden des wilden Mostes, nicht ein so plötzliches Umschwenken wie etwa bei Arnolt Bronnen.

Über das Stück selbst will ich die vielen eingehenden Besprechungen nicht durch eine neue vermehren. Das Stärkste, was ich behaupten möchte: es kann für das 20. Jahrhundert uns die gleiche glühende Erregung bringen, wie "Die Räuber" und "Wilhelm Tell" es für das 19. Jahrhundert waren. Dabei ist es im wesentlichen ein gesprochenes, nicht ein gespieltes Drama.

Max Reinhard sieht alles in Bildern. Hanns Johst hört alles in Worten.

Und wie er hört! Er hat wirklich - wie Martin Luther - "dem Volke aufs Maul geguckt". Noch in Johsts Drama "Der König" sprechen selbst die Diener shakespearehaft, geistreich, Literatur. Im "Schlageter" dagegen: 1000 Worte Stacheldraht. Wenn Johst wirklich nicht im Kriege gewesen ist, so hat er jedenfalls unsere Sprache uns ganz fabelhaft abgelauscht. Jedes Wort ist echt, bis zu dem: "In rauhen Mengen!", was an der Front das friedensmäßige "massenhaft" abgelöst hatte. Schon das lange erste Gespräch zwischen Schlageter und Thiemann zwingt einen so in den Bann, daß meine Frau neben mir auf dem Parkettsitz sich nicht enthält, gar nicht einmal so leise zu sagen: "Ich könnte die beiden direkt umarmen!" Ich selber bin kurz vor Schlageters Gefangennahme 10 Tage mit falschem Paß im Ruhrgebiet gewesen, als - Techniker für Zentralheizungen im Hauptquartier der Franzosen ("Auf Erkundung im Ruhrgebiet", Brunnenverlag, Berlin 1923), und habe mit den Aktivisten zusammengehockt, die so sprachen und so taten, wie wir im Kriege gesprochen und getan haben, und ich kann nur sagen: erschütternd wahr gibt Johst das wieder. Und dann die Wirkung, die Wirkung! Die Wirkung ist so, wie Walter Flex' Verse:

"Wer auf die preußische Fahne schwört,
Hat nichts mehr, was ihm selber gehört!"

Das ist die Hauptsache. Von dem mit fast liebevollem Humor geschilderten sozialistischen Bonzen-Regierungspräsidenten, von dem alten Generalleutnant, von dem jungen Korpsstudenten, von dem einen (Schlageters) Mädel in dem Stück, von dem Burschen Peter, von allen diesen Menschen, die alle greifbar echt sind, will ich gar nicht erzählen. Sondern eben nur von der jungen Frontkämpfergeneration darin und von der ungeheuren vaterländischen Wirkung des ganzen Stückes. Streichen möchte ich nur an zwei Stellen ein paar Zeilen, erstens die, daß der Kaiser 1918 kein Blut mehr habe sehen können, weil dies historisch unwahr ist, und zweitens die letzten pathetischen Worte Schlageters mit "Deutschland, erwache!" und so, die in Wirklichkeit nie gefallen sind. Schlageter fiel als Soldat ohne Worte.

vAber da kommt Johst nicht ganz mit. Er sagt einmal - "etwas dunkel zwar, aber 's klingt recht wunderbar" - zu einem Ausfrager:

"Ich bin Deutscher! Somit weiß ich deutlich, daß sich das Leben nicht mit dem Gehirn vergewaltigen läßt. Wir Deutschen haben noch keine rein nationale Kunst. Nur die Liebe zur Sprache erschließt Heimat, Vaterland, Besinnung und Gesinnung. Ohne diese bewußte Liebe ist alles Menschentum Mangel an Körper und Kraft, denn die Sprache ist und bleibt die Verkörperung der Seele. Die Seele will aus der Erde geschöpft sein wie Gold und aller Wert. Meine Erde aber heißt Deutschland!"
27. April 1933 (Donnerstag)


35

Fregoli - Verwandlungskünstler von heute - Hitler zu Toni van Eyck - Der 1. Mai - Görings Residenz - Theaterpleite - Geselligkeit daheim - Auf Dr. Everlings Hochzeit - Was Hindenburg sagt.

Fregoli hieß der Mann, der für alle Variétés die größte Zugkraft bedeutete, als wir jung waren. Er hat viele Nachahmer gehabt, aber nur solche mit falschen Perücken und Bärten; keiner konnte so wie er das Gesicht selbst verändern. Er stand mit dem Rücken zum Publikum, hantierte etwas an sich, drehte sich um, und siehe da: Napoleon. Noch einmal: Jacques Offenbach. Noch einmal: Friedrich Nietzsche. Noch einmal: Bismarck. Und so fort eine ganze Reihe, immer charakteristisch vom Kinn über Mund und Nase bis zur Stirn.

Heute ist fast das ganze deutsche Volk zu Verwandlungskünstlern geworden. Gestern noch geballte Fäuste, heute Sieg-Heil und gereckte Hand.

Das geht bis zu den christlichen Gewerkschaften hinunter. Davor der große Haufe der Karrieremacher. An plötzlichsten hat der Preußische Richterverein ein anderes Gesicht bekommen, der noch vor wenigen Monaten "unwandelbar fest und treu" auf dem Boden der Tatsachen stand, die damals rot und schwarz waren. Heute schlägt er eilig das Hakenkreuz. Noch im vorigen Sommer glaubte, auf Antrag des Justizministers Schmidt, der jetzt selber die Armesünderbank zieren wird, die Staatsanwaltschaft und das Gericht, endlich - endlich - auch mich zur Strecke bringen zu können. Ich habe von dem Prozeß damals meinen Lesern nichts erzählt. Er gelang den Herrschaften vorbei. Die einst von der Linken gefesselte Justiz würde jetzt, wenn es verlangt würde, nach der anderen Seite beide Arme ausstrecken, um sich willig Handschellen anlegen zu lassen.

Aber natürlich darf man nicht verallgemeinern. Es hat immer Leute gegeben, die ihre Knie vor Baal nicht beugten und lieber Märtyrer wurden, so der Landgerichtsdirektor Hoffmann-Magdeburg, der dafür heute Präsident der vereinigten Landgerichte in Berlin geworden ist, so auch sein Kollege Bewersdorff, der 1924 es wagte, dem amtierenden Reichspräsidenten und früheren Munitionsstreikführer Friedrich Ebert im Strafkammerurteil "objektiven Landesverrat" zu bescheinigen; wo Bewersdorff steckt und ob er noch lebt, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß er auf die Ehrentafel der Aufrechten gehört.

Zur Verwandlung, die mimische Gewandtheit vorausgesetzt, gesellt sich heute die äußere Nachhilfe. Am 5. März war es noch ein Bergrutsch, der die Menschen im Purzelbaum herunterkollern ließ. Am 1. Mai ist dann, glänzend vorbereitet, die große Sprengung erfolgt. Ich habe, ich gestehe es offen, noch vierzehn Tage vorher den Sinn dieses "Festes der Arbeit" nicht begriffen; unsereins steckt noch zu sehr die Erinnerung an das alte "Nieder! Nieder! im Blut, die Erinnerung an die Hammelherden, die für ihre fetten Hirten demonstrierten. Diesmal aber ist eine ganze Felswand von Menschen und Vorurteilen zusammengekracht.

Es liegt viel Schutt neben großen Steinbrocken da, Schutt, mit dem man nicht bauen kann.

Hitler hat dieser Tage zu Toni van Eyck gesagt:

"Die Leute, die glauben, wenn sie jetzt überlaufen, könnten sie unter neuer Maske die alten Dinge weitertreiben, irren sich gewaltig. Sie werden von Grund auf umlernen müssen. Wer nicht umlernen will, der vernichtet sich selbst, ohne daß wir einen Finger dazu zu rühren brauchen. Ich lasse mich nicht bestechen. Was ich tun kann, Mittelmäßigkeit und Verlogenheit auszurotten, das geschieht."

Ganz ausgezeichnet. Man kann nur wünschen, daß ein Führer, der so denkt, jahrzehntelang die Zügel in der Hand behält. Er, nicht die Karrieremacher. So hat er auch bisher unbeirrt an den tüchtigsten Mitarbeitern aus anderen nationalen Frontabschnitten festgehalten, die immer schon in der vordersten Linie gegen das Novembersystem standen. Festgehalten trotz aller Meckerer. Diese bestehen vielfach darauf, daß wir alle zu Verwandlungskünstlern werden. Das wäre nicht gut. Es ist besser, daß die Gleichgesinnten, auch wenn sie verschiedenen Fähnlein angehören, gemeinsam den Krieg gegen die deutsche Not führen. Das ist doch jetzt unser eigentliches Schlachtfeld. Mit Festreden allein ist es nicht getan, der Spiele wird das Volk schnell überdrüssig, wenn das Brot fehlt. Damit es geschafft wird, dazu sind die Vertrauensgrundlagen da. Wer den 1. Mai auf dem Tempelhofer Felde unter den fast zwei Millionen Deutscher zugebracht hat, der weiß, wie die Herzen Adolf Hitler zugeflogen sind. Ich habe an anderer Stelle über den Tag berichtet und dabei auch die nette kleine Geschichte von dem mit frischem Sand bestreuten Mittelweg der Flughafenstraße erzählt. Ein paar Frauen laufen aus der Reihe auf diesen Weg. Und da ruft einer:

"Runter von den Kies! Det is Adolfen sein Kies!"

Mindestens die Hälfte aller Buben, die in diesem Monat von deutschen Müttern geboren werden, wird sicher den Namen Adolf erhalten. Ein alter deutscher Name, schon vom Westgotenkönig Athaulf her bekannt: der edle Wolf. So volkstümlich war selbst Bismarck in seinen größten Zeiten nicht, als schon ein ganz anderes Lebenswerk hinter ihm lag, während Hitler es doch erst beginnt; allerdings hatte Fürst Bismarck auch keinen Propagandachef von einer solchen Rührigkeit und einem solchen Reichtum an Einfällen, wie Goebbels es ist.

Jetzt hängt, obwohl der Festtag längst vorüber ist, in Berlin noch fast aus jeder dritten Wirtschaft die Hakenkreuzflagge heraus. Hitler selbst besitzt Geschmack genug, um es unangenehm zu empfinden, wenn ein ihm heiliges Symbol zum Kneipaushang wird. Aber das geschieht, um zu versuchen, das Geschäft zu beleben, denn die Lokale sind leerer denn je. Jedermann überzählt ängstlich seine Groschen und wartet darauf, daß, falls man ihm - was Hitler bisher vorbildlich getan hat - freie Hand läßt, Hugenberg die Wirtschaft wieder ankurbelt. Ein leiser Anfang ist schon da, wir haben diesmal rund 350 000 Arbeitslose weniger als um dieselbe Zeit im Vorjahr, die Bauern fangen an aufzuatmen, und wo gebaut werden kann, da wird gebaut, manchmal an einer ganz unerwarteten Stelle.

Da habe ich dieser Tage auf meinen Erkundungsgängen durch Berlin unvermutet im tollsten Großstadtlärm ein Idyll entdeckt. Wenn man an dem ehemaligen Herrenhaus in der Leipziger Straße und an dem Laden der staatlichen Porzellanmanufaktur vorübergeht und dann links auf dem Leipziger Platz die erste Tür durchschreitet, befindet man sich in einem großen Bureaugebäude. Nun durch einen Gang, eine Durchfahrt, und man sieht sich plötzlich einem Märchen gegenüber: in einem herrlichen, fast parkartigen Garten (nur sind in der vorigen Woche viele alte Bäume gefällt und neue kleine angepflanzt) blühen Magnolien und andere Sträucher, jubilieren die Vögel, ist der Großstadtlärm wie ausgelöscht, und mitten darin steht eine Villa, nein, ein Schlößchen, wie man es allenfalls am Wannsee oder am Griebnitzsee erwartete: das ehemalige Heim des preußischen Handelsministeriums, in dessen 22 großen und mehreren kleinen Räumen einst der Sozialdemokrat Siering hauste, der vorher eine Zweizimmerwohnung am Wedding gehabt hatte.

Zuletzt stand das Haus, das auch eine prachtvolle Terrasse zum Garten zu hat, leer, obwohl es eine von Professor Bruno Paul geschaffene wunderschöne Inneneinrichtung hat. Jetzt wird dieses Schlößchen Residenz Görings, der als preußischer Ministerpräsident mehr Machtvollkommenheit hat als seinerzeit der König, und er läßt es für seine Zwecke renovieren, was 98 000 Mark unter die Bauleute und Handwerker bringt. Ich strolchte da nach Feierabend herum, als kein Innenarchitekt und kein Arbeiter mehr da war, konnte nur von außen durch die Fensterscheiben sehen, wieviel da verändert wird, und mich dann an dem tiefen Frieden des Gartens erfreuen. Sicherlich wird das zur repräsentativsten Ministerwohnung Berlins, und wenn einmal Görings neue italienische Freunde oder andere Ausländer hier ein Gartenfest mitmachen, werden sie erstaunt sein, wie herrlich schön es mitten in der Berliner City sein kann.

Das ist ungefähr die Stelle, an der sich einst Wilhelm v.Humboldts Stadtwohnung befand, die seiner Frau - sonst lebte man ganz auf dem Lande, in Tegel - schon "zu weit heraus" war, damals, als die Menschen von Distinktion in der Behrenstraße, Unter den Linden, in der Dorotheenstraße zu hausen pflegten, und vor dem Leipziger Tor, wo heute die Potsdamer Straße entlangführt, die Äcker begannen. Aber daß es noch heute hier so etwas gibt, das kommt uns schier als ein unglaubhaftes Wunder vor.

Besonders, wo doch sonst die letzten Berliner Villen veröden, selbst Frau v.Dirksen sich des größten Teils ihrer Kunstschätze hat entledigen müssen. Die alte Wohlhabenheit, die vor dem Kriege dem Fremden so auffiel, ist dahin. Hie und da haben Raffkes sich ein Privatvermögen erworben, es aber nicht in künstlerischen Wohnräumen angelegt, sondern lieber bar oder in Papieren liegen gelassen.

Von dem früheren Reichstagspräsidenten Löbe wird jetzt erzählt, daß man sein Bankkonto beschlagnahmt habe. Es wird viel beschlagnahmt und daraufhin untersucht, ob es auf rechtmäßigem Wege erworben wurde. Darob hat die große Angst alle Novembergewinnler gepackt: sie gönnen sich kaum mehr ein Theaterbillett. Das Schillertheater hat seine Pforten geschlossen. Und im Staatlichen Schauspielhaus muß man zu Johsts "Schlageter" die Reihen schon mit Freibillettlern füllen. Es fehlt an Zugstücken für die breite Masse, und "die Masse muß es bringen". Also, ob wir wollen oder nicht, wir können den Spielplan nicht bloß mit Gesinnung belegen, sondern müssen auch für jene leichte Unterhaltung sorgen, die die Müdesten der Müden, das Ladenfräulein und der Kleinkaufmann suchen, um sich nach des Tages Last und Arbeit zu entspannen.

Selbst zu Goethes und Schillers Zeiten wurden die beiden selten gegeben; Iffland und Kotzebue, die nicht "Unsterbliches" schufen, beherrschten die Bühne.

Je mehr Theater und sonstige Vergnügungsstätten leer werden, desto mehr kommt wieder heimische Geselligkeit in Kurs. Noch im vorigen Jahre "trafen" sich die Damen nachmittags in einer Konditorei. Heute backen sie wieder reihum selber Napf- und Biskuitkuchen und laden dazu ein. Auch die Berliner Feinkostgeschäfte bestätigen das Ansteigen der Geselligkeit, wenn sie sich auch schlicht vollzieht.

Dazu auch wieder mal ein Tänzchen daheim statt in der Hoteldiele oder dem Kabarett.

Gibt der Rundfunk keine Musik dazu her, so hat doch irgend jemand ein Grammophon. Es ist nur nicht immer leicht, Herren zu finden, die willig jede Dame betanzen. Meist ist man mit der eigenen Frau am besten eingetanzt. Am letzten Dienstag bei der Hochzeitsfeier des Abgeordneten Dr. Everling den schlanken, eleganten Pressechef der Deutschnationalen, Hauptmann a.D. Brosius, so mit seiner Frau tanzen zu sehen, war eine wahre Augenweide. Übrigens eine Hochzeit ganz alten vornehmen Stils, von der Trauung im Dom an, wo Döhring die geistvolle und herzenswarme Traurede hielt und Blauhemden Spalier standen. Everling, der die "Wiederentdeckte Monarchie" geschrieben hat, - wie könnt' ich dein' vergessen . . .

Sehr eingeschränkt - früher gab es da doch noch immer Bälle für den Landadel und die junge Reichswehr - sind die Festlichkeiten bei Hindenburg. Die notwendigsten Empfänge und Diplomatendiners nehmen schon zu viel Zeit weg. Ein alter Gast, Freund des Hauses, ist neulich bei Hindenburg und fragt ihn gerade heraus:

"Man liest so allerhand - mir können Sie es ja ruhig sagen -, also wer hat denn eigentlich die Schlacht bei Tannenberg gewonnen, Sie oder Ludendorff oder General Hoffmann?"

Und Hindenburg antwortet:

"Das weiß ich selber nicht, nur das weiß ich bestimmt, daß, wenn wir die Schlacht bei Tannenberg verloren hätten, ich die Schlacht verloren hätte!"
4. Mai 1933 (Donnerstag)


36

Wieder einmal Originales - Krebse und Musik - Professor Marteau - Eindeutschung - Geöffnete Arme für Volksgenossen - Magnus Hirschfeld auf dem Scheiterhaufen - Die akademische Jugend erlöst sich - Autorenabend beim Brunnenverlag - "Der Weg durch die Hölle" - Aus Rolf Brandts Leben.

Brahms, Chopin, Strauß . . .

Seit langen Jahren habe ich - und so geht es wohl den meisten von uns - keine gute Hausmusik mehr gehört. Wo man hinkommt, da wird irgendein "faabelhafter" Rundfunkapparat angestöpselt, der das Gegröhl der ganzen Erde enthält, sobald die Abfütterung vorbei ist und die Leute etwas konversationsmüde sind. Das Filet mit fünferlei Gemüsen oder der Rehrücken und alles übrige ist von einer Stadtküche fertig geliefert, die ganze Geselligkeit charakterlos geworden wie die Möbel, die nicht um uns und aus uns herausgewachsen sind, sondern Fabrikware.

Und nun erleben wir in dieser Woche einen Abend, der endlich einmal wieder ganz, ganz anders ist.

Der Mann, in dessen Hause wir als Gäste erscheinen, will nicht Herr Direktor sich anreden lassen, sondern schlicht mit seinem Namen. Er will nur solche Leute bei sich haben, die - abgesehen natürlich von deren Frauen - an der Front gewesen sind, "das Weiße im Auge des Feindes gesehen haben". Aber die sprechen, wie alle alten wirklichen Soldaten, kaum je vom Kriege.

Da hat es auch kein Diner aus der Stadtküche, sondern "nur" Krebse gegeben. Aber so viel, bis einem die Zunge wund und die Schulter lahm war. Auch keine in Berlin gekauften Krebse, sondern sozusagen Krebse eigener Produktion.

Und dann, und dann: die Hausfrau greift zur Geige, zur Bratsche, die Freundin setzt sich an den Flügel - Brahms, Chopin, Strauß . . . Da kann man die ganze Umwelt vergessen.

Die Hausfrau ist eine der begabtesten Schülerinnen des Professors Marteau gewesen.

Marteau, Marteau?

Richtig, das war damals, als Deutschland glücklich und reich und mächtig dastand und der Kaiser auch die erlesensten künstlerischen Kräfte des Auslandes anzog. Marteau, französischer Oberleutnant der Reserve, vielleicht sogar ein bißchen Chauvinist, wurde als großer europäischer Geiger von überragendem pädagogischem Talent im Jahre 1908 an die Berliner Hochschule für Musik berufen. Ich muß gestehen, mir war es damals greulich. Ein Franzose! Wenn er auch hinreißender geigte als alle von Josef Joachim über Vörös Miska bis zu Bronislaw Hubermann. Allmählich jedoch gewannen wir Deutschen ihn lieb und er uns lieb. Im Jahre 1915 ging er als Kapellmeister nach Gothenburg (Göteborg) und wurde schwedischer Staatsangehöriger, um nicht gegen uns kämpfen zu müssen. Ist nicht auch der Brite Houston Stewart Chamberlain in Bayreuth der deutscheste Deutsche geworden? Heute ist Marteau, der noch immer Konzertreisen macht, in Lindenberg in Bayern ansässig, ist nebenbei Meisterlehrer am Konservatorium zu Dresden, der Hochschule für Musik und Theater, hat erwachsene Kinder und einen nachgeborenen Jungen.

"Kannst du eigentlich französisch sprechen?"

"Nein, bloß deutsch und bayerisch!"

Da haben wir bei diesem Jungen einen richtigen Fall von Eindeutschung. Wenn das möglich ist, dann können wir wirklich auch hoffen, daß unsere eigenen irregeführten Roten, auch wenn sie jetzt unter frischer nationaler Abstempelung noch stark - durchschimmern, bald ganz deutsch sein und es nicht mehr begreifen werden, daß ihr Papua-Häuptling gesagt hat, er kenne kein Vaterland, das Deutschland heiße. Man spricht - ich habe es auch getan - so viel von der Lawine, die heute alles mit sich reiße. Aber vielleicht paßt besser noch ein anderes Bild: es breiten sich so viele liebend geöffnete Arme aus, daß der Arbeiter nicht anders kann, als sich in sie hineinzustürzen.

Hitler hat sozusagen die längsten Arme, da passen ganze Armeen hinein. Aber weil ich unter der Verantwortung lebe, in allen diesen Jahren hiebfeste, wahre Kulturgeschichte zu schreiben, muß ich hier feststellen, daß die gesamte nationale Regierung, vom ersten bis zum letzten Minister, genau so brüderlich denkt. Es ist klar, daß ich mich da eines fälschlich Verketzerten besonders annehme. In einer deutschnationalen Fraktionssitzung habe ich einmal ein Wort gehört, das die Öffentlichkeit noch nicht kennt, ein Wort von äußerster Schärfe und Bestimmtheit gegen alle Antisozialen, und es kam aus Hugenbergs Munde:

"An dem bloßen Nutznießertum des Bürgers, das ich um des Volkes und des Staates willen bekämpfe, würde Deutschland zugrunde gehen!"

Geöffnete Arme auf der einen Seite, die prasselnde Steinlawine auf der andern, da gibt es kein Zaudern mehr. Vorneweg stürmt, wenn auch von "Alten Herren" wie Goebbels beeinflußt, die akademische Jugend.

Sie hat in Berlin schon einmal, und da waren ehemalige Frontkämpfer die Regisseure, vor dem Denkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden die aus dem Zeughaus geholten Fahnen verbrannt, die wir den Franzosen ausliefern sollten. Jetzt hat wieder - auf dem gepflasterten Opernplatz - ein Scheiterhaufen geloht, aber nicht für eroberte Fahnen, die Diebesgut werden sollten, sondern für schlechte Literatur. Das ist in revolutionärer Zeit das erste reformatorische Symbol. Es bedeutet weit mehr als der berühmte Scheiterhaufen der deutschen Burschenschaft im vorigen Jahrhundert. Weit mehr. Man denkt an Luthers Verbrennung der Bannbulle . . .

Das war die Erlösung von fremden Bann. Da wurde deutsche Freiheit gezeugt.

In den nun hinter uns liegenden Jahren ist es weit schlimmer gewesen als um 1500, wo Rom die absolute Herrschaft über alle Könige und Untertanen der Welt verlangte. Wir standen unter dem teuflischen Banne einer bewußten moralischen Verwüstung, die von den Siegmund Freud, Bettauer, Großmann, Remark, Ludwig-Cohn, Hirschfeld und Genossen ausging, in die Bibliotheken, Schulen, Universitäten sich einfraß und nur zweierlei Weltbewegendes kannte: Geld und Geschlecht. Es fehlte nicht viel, und wir wären, nach Verächtlichmachung und Ausmerzung alles Idealen, wieder auf den semitischen Astarte-Kultus hinausgekommen. Es gehörte einfach zur Bildung, notabene auch des jungen Volkes der Hochschulen, daß man van de Velde gelesen haben und über die Technik des fleischlichen Trieblebens alles wissen mußte.

Daheim die alten "verkalkten" Eltern ahnungslos. Das Kind aber weiß Bescheid, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Erschütternd, wenn ein Fünfunddreißiger dann sagt:

"Ein anständiger Mensch heiratet doch eine Berliner Studentin nicht!"

Zum Glück sind nicht alle dem Banne erlegen, zum Glück ist vielen als Erbgut die Sehnsucht nach der Reinheit geblieben, und das ist jetzt elementar zum Durchbruch gekommen. Der ganze Sexualschmutz, soweit man seiner habhaft werden konnte, auch alles das, was uns das Vaterland verekeln wollte, ist in einer Auswahl symbolisch dem Feuertode überantwortet worden. Unter tosendem Jubel der akademischen Jugend, die sich selber von der Ära der "Komplexe" befreien will. Seit Heinrich Heine die Emanzipation des Fleisches gepredigt hat, ist es das erstemal, daß wieder die Läuterung unserer Seelen gefordert wird; und so kann diese Mitternachtsstunde des 10. Mai Epoche machen.

Es ist nicht schwer, einen Index der schlechten Bücher aufzustellen. Es ist schon schwerer, ein Verzeichnis der guten Bücher anzufertigen. Es gibt nicht nur Schmutz, sondern auch Schund und Kitsch.

Nun stellen sich heute Verleger, die noch vor kurzem Sumpfpfade wandelten, schnell "auf den Boden der Tatsachen" um. Eine Hochflut fast hysterischer Bücher bricht über uns herein, die nicht nur byzantinern, sondern mit allem Neugewordenen geschäftigen Götzendienst treiben. Wie kann man da noch an die narbenbedeckten Veteranen im Kampfe gegen die Novemberei denken? Neben Lehmann-München und einigen anderen ist Bischoff-Berlin (Brunnen-Verlag) einer von den Triariern gewesen, hat durch wahrhaft nationale Bücher, die in den schlimmsten Zeiten wie die Bibel in den Katakomben von Hand zu Hand gingen, den Boden für das Dritte Reich mitgeschaffen. Und, siehe da, in dem ersten offiziösen Berliner Verzeichnis guter Literatur, wonach Schulen und Bibliotheken sich zu richten hätten, ist kein einziges Werk seines Verlages erwähnt!

Er hat am vorigen Freitag erst einen Autoren-Abend - mit Vorlesungen und kaltem Büfett - veranstalten müssen, in dem alten Fürstenberg-Palais Wilhelmstraße 23, in dem der inzwischen großgewordene Verlag jetzt haust, um darauf hinzuweisen, was er von 1919 bis 1933 geleistet hat.

Unter anderem las Rolf Brandt aus seinem am selben Tage herausgekommenen neuen Buche "Der Weg durch die Hölle" vor und machte den tiefsten Eindruck auf die Hörer. Das ist die Geschichte unseres Weges vom Walde von Compiègne an bis heute, ein Quellenbuch dieser Geschichte, auf das spätere Historiker zurückgreifen werden, ein Buch, schauerlich und erhebend, toller als Dantes Inferno, der in seiner glühendsten Phantasie ein so zerquältes, so mißleitetes, so taumelndes Volk wie das deutsche in diesen Jahren sich gar nicht hätte ausdenken können, ein Buch, packend wie ein Kriminalroman, das uns Seite für Seite Überraschendes, Unerwartetes, selbst uns Zeitgenossen Unbekanntes bringt und dabei, trotz allen Eisens im Urteil, fast durchweg im modernsten Plauderstil und oft in poetischer Verträumtheit geschrieben ist.

Wer die 5 Mark für das gebundene Exemplar ausgibt, der verschafft sich also das, was ihm sonst nur ganze Bibliotheken bieten, und wer sich nur eines anschafft, der hat alsbald den schönsten Krach in der Familie, denn um diese Offenbarung, um dieses Dokument, um dieses Bilderbuch deutscher Geschichte, um diese feine Erzählung eines Immerdabeigewesenen werden Alt und Jung sich reißen.

Jawohl, Rolf Brandt war immer dabei.

Der Weltreporter, der in Versailles und bei allen internationalen Konferenzen ist, im Flugzeug in wenigen Tagen Europa als Interviewer verschiedener Premierminister abrast, an den Abhängen des Kilimandscharo die ersten Kapitel seines wundervollen "Erlebtes Afrika" schreibt, im Zeppelin über die Ozeane braust. Und dabei ist er nicht einmal - Engländer.

Nein, ein hundertprozentiger Berliner, der nicht, wie die meisten Berliner, aus Breslau stammt, sondern ein Fabrikantensohn, dessen Familie einen Bürgerbrief aus der Zeit Friedrichs des Großen besitzt. Während seiner Studentenzeit Berliner Vandale. Im Kriege "nur" Berichterstatter im Auftrage des Generalstabes, aber nicht etwa in der Etappe: vor Grodno werden ihm seine Zähne ausgeschossen, er könnte also mit Fug und Recht das Verwundetenabzeichen tragen wie wir aus dem Schützengraben. Er hat den damals noch "ziemlich unbekannten" Hindenburg vor Tannenberg kennengelernt, hat neben ihm gesessen, als Hindenburg die Siegesdepesche schrieb und von Osterode aus den Kaiser bat, daß die Schlacht nach dem Orte Tannenberg genannt werde.

Am 30. Dezember 1932 erinnert sich Hindenburg, der Rolf Brandt inzwischen in Hannover und anderswo wiederholt empfangen hat, noch genau der Umstände:

"Ja, damals waren Sie so 'n Dürrer, Langer!"

Auch den Russisch-Polnischen Krieg 1920 hat Brandt in der Sowjetarmee mitgemacht. Auf einmal, nach der Schlacht bei Mlawa, ist die Sowjetarmee auf und davon; Brandt steht allein auf weiter Flur, die Polen kriegen ihn und wollen ihn zum Tode verurteilen. Mir hat er mal diese Sache ganz ausführlich erzählt, sie ist beinahe Karl May und noch ungedruckt, aber ich will sie ihm für seine Autobiographie belassen. In Lebensgefahr ist dieser Schreibtischmensch, wenn man von einem so sagen darf, der heute auf dem Rücken eines Kamels und morgen in einer Flugzeugkabine schreibt, oft genug gewesen. Während des Krieges zerfetzte sein Jüngster daheim seelenruhig einen Band Gottfried Keller, Erstausgabe.

"Aber was wird Pappi sagen?"

"Pappi sagt gar nichts mehr, der ist auf Oesel ersoffen!"

Das ist freilich nur ein Gerücht, das sich nachher nicht bewahrheitet. Aber einmal im Zeppelin im Orkan über Neufundland, wo man in jedem Augenblick an einem eisbedeckten Felsen zerschellen könnte, kommt doch der Gedanke an das Testamentmachen.

Ach was. Rolf Brandt wird noch lange leben. Nur schade, daß er kein besseres Buch als den "Weg durch die Hölle" mehr schreiben kann. "Man" kann nichts Besseres schreiben. Das ist der Gipfelpunkt von Brandts Dasein.

Nachdem er in Berlin, Freiburg, Marburg studiert hatte, packte ihn ursprünglich die dramatische Muse beim Schopf. Ein Stück von ihm wurde in Königsberg und anderswo aufgeführt, in Newyork spielte der "schöne Rudolf", Mady Christians' Vater, darin die Hauptrolle. Natürlich kennt Brandt unsere Theatergrößen noch heute so wie alle Staatsmänner, die je in Genf oder Spaa oder Locarno waren. Aber es ist doch gut, daß das Theater ihn nicht geschluckt hat. Sonst hätten wir nicht dieses Buch. Es steht wie ein einsamer Gigant unter Zwergengelichter.
11. Mai 1933 (Donnerstag)



Glossen 31 - 33

Jahresinhalt

Glossen 37 - 39

© Karlheinz Everts