"Rumpelstilzchen"

"Mang uns mang . . ."
(Jahrgangsband 1932/33)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1933

Glossen 25 - 27
23. Februar bis 9. März 1933


25

Kampfzeit - Draußen im Schnee - Zinn-Lieschen - Vom Theater und den Rotters - Winifred Wagner als Mädchen in Berlin - Die "Amerikanerin" Lilian Harvey - Chinesenball.

Man könnte begeistert wie Ulrich v.Hutten das Jahrhundert loben, in dem wir leben, obwohl es uns so unendlich viel Bitterkeit gebracht hat, denn der Kampf gegen die schon von Hutten gehaßten Finsterlinge ist in vollem Gange.

Erst ganz kürzlich erzählte ich von der greulichen Wirtschaft in der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln, einer Aufbauschule, in der übrigens, um das Maß voll zu machen, eine von der Leitung genehmigte Schülerzeitung schon vor Monaten zu dem "gewaltsamen Umsturz" im Staate aufforderte. Jetzt ist der Direktor der Anstalt hinausgepfeffert. In einer solchen Kampfzeit ist es, genau wie während des Ringens um das Ruhrgebiet anno Schlageter, verständlich, daß der neue Polizeipräsident von Berlin, Admiral a.D. v.Levetzow, es abgelehnt hat, für die Faschingstage die sonst übliche Verlängerung der Polizeistunde eintreten zu lassen. Wir brauchen heute unsere klaren Köpfe, und da wir wieder Schneeluft haben, können sie am Wochenende in der freien Natur klarer werden, als wenn man bis 7 Uhr morgens Karneval mitmacht und dann den Tag verschläft.

In der großen Stadt leuchten natürlich nur die Dächer weiß, sind die vielbefahrenen Straßen immer alsbald graubraun.

Aber draußen!

Man kann nicht zahlenmäßig genau feststellen, wieviel Berliner draußen waren, etwa an der Sprungschanze bei Onkel Toms Hütte oder sonstwo, aber man kann sagen, daß Sonntags, wo der Arbeitsverkehr doch ruht, ein sehr großer Teil der Fahrten nach außerhalb geht. Und nun haben am Sonntag in Berlin Stadtbahn, Straßenbahn, Untergrundbahn, Omnibus zusammen 1 834 500 Fahrkarten verkauft. Die Leute fahren nicht nur hin, sondern auch zurück, also muß man die Zahl halbieren. Von diesen über 900 000 Menschen aber sind sicher mehrere hunderttausend draußen gewesen, und dazu kommen noch die Nur-Fußgänger und die mit Autodroschken oder Privatvehikeln Hinausbeförderten. Das ist schon Völkerwanderung. Die Stämme, die um das Jahr 375 nach Christi Geburt sich in Bewegung setzten und Europa umformten, sind vielfach nur ein Bruchteil dieser Zahl gewesen.

Seit fast acht Wochen ständiger, auch am Sonntag ununterbrochener Schreibarbeit wieder einmal einen halben Nachmittag draußen, den Schlachtensee entlang, dann bis zum Wannsee: herrlich, herrlich. Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust. Die Lungen pumpen sich voll Sauerstoff. Und man erkennt auch die Schönheit des winterlichen "Draußen vor Berlin".

Überall Rodelschlitten, überall Skifahrer. Und wer vier oder drei oder zwei Räder an irgendeinem Fahrzeug besitzt, der setzt es auch in Bewegung. Da sehe ich so manche Tin-Lizzy, wie der Engländer sagt. Also Zinn-Lieschen. Wir sagen Blechschachtel zu solch einem Auto in Kleinstformat. Aber der Mensch muß sich zu helfen wissen. Man kann im Handumdrehen aus diesem Zinn-Lieschen, das als Zweisitzer gebaut ist, einen Viersitzer machen, indem man - zwei Rodelschlitten anhängt. Da hocken die beiden halbwüchsigen Kinder, während die Eltern den Wagen steuern. Vorsicht, Vorsicht! Das Zinn-Lieschen muß langsam fahren, um die Kinder ungefährdet zu den Hügeln des Grunewalds zu bringen. Und hoffentlich hält kein Schutzmann die Fuhre an.

Wie gesagt, wir brauchen zum 5.März, wo das Gott sei Dank endlich einige nationale Deutschland zum Entscheidungskampf gegen die Finsterlinge der schwarzrotenReaktion antritt, einen klaren Kopf. Auch das, was man an Theater, Film, Bällen berufsmäßig sehen muß, beschränke ich auf das äußerste. Das Goethejahr - "unser" Piscator ist jetzt als Leiter des jüdischen Staatstheaters in Moskau gelandet, wozu wir ihm das Beste wünschen - war verkorkst. Es gab trotz des Reichskunstwarts des bisherigen Systems und trotz seiner vielen Intendanten und Direktoren in Berlin keinen einzigen Menschen, der uns gleich zu Beginn 1932 etwa einen anständigen "Faust" hätte hinsetzen können, zu dem das Publikum in Scharen geströmt wäre, Unsere Theater sind verrottet und verrottert. Die Brüder Rotter, von denen einer unter dem Namen Perückengrete in Weiberkleidern mehr in orientalisch-perversen Rollen in der südlichen Friedrichstraße sich betätigte als in seinen Theatern, haben rund 4 Millionen Mark Schulden in Berlin hinterlassen, wovon ein sehr großer Teil sich jetzt wohl bar im Ausland befindet und nicht mehr gefaßt werden kann. Auf allen Gebieten vom Reich über den Staat (die 2 Millionen "Verbrecherfond" Severings!) bis zum Privattheater dieselbe Geschichte. Das neue Deutschland tritt auf Trümmer und Schmutz.

Nach dem Goethejahr jetzt das Wagnerjahr. Fünfzigjahrfeier. Wir haben nicht recht die Stimmung dazu, und die Staatsoper, noch ganz die alte, hat uns zudem durch die ersten Gedächtnis-Aufführungen den Geschmack an der Sache verdorben.

Was ist aus unserer Kunst geworden!

Eine Ehrung Richard Wagners allerdings, im Berliner Tiergarten, ist in Stein schon lange erstanden. Ohne es zu wissen, haben die Damen Deutschlands - und sogar Frankreichs, bis wohin Leichners Puder Verbreitung fand - dazu beigetragen, denn der Dresdener Maecen Leichner ist es, der die 500 000 Mark für das Marmorwerk hergab. Wenn sonst Berlin, nicht lange mehr, versagt, so haben wir, Gott sei Dank, noch andere deutsche Opernstädte, und vor allem haben und behalten wir das Haus Wahnfried in Bayreuth.

Da sitzt eine glühend nationale Familie beisammen. Aus einzelnen Briefen, die ich von dort bekommen habe, könnte ich es belegen. Und da wurde alles, was hinkam, eingedeutscht. Houston Stewart Chamberlain - er hat einmal ein Vorwort zu einem Büchlein von mir geschrieben, das in italienischer Übersetzung erschien - war der deutscheste Deutsche und daher Wilhelms II. Lieblingsschriftsteller. Jetzt ist er tot, Cosima ist tot, Siegfried Wagner ist tot. Aber dessen Witwe, geborene Winifred Williams aus England, adoptierte Klindworth, ist völlig wahnfried-deutsch und erhält das Werk. In Berlin hat sie nur einmal, während des Krieges, eine kurze Gastrolle gegeben. Die Konservatorium-Klindworths schickten sie - was macht man mit einem siebzehnjährigen Ding? - ohne irgendwelche Examensabsicht auf ein Jahr in die Frauenschule des Königlichen Augusta-Gymnasiums in Berlin, dort hinter dem Kleistpark am Kammergericht, wo sie wie ein köstliches Bild von Gainsborough auftauchte.

Wie man in der früheren sorgenloseren Zeit eben seine Mädels "zum Abschluß" in irgendeine Pension zu stecken pflegte, so wurde sie hierher gesteckt. Aus der Zeit habe ich noch ein paar Erinnerungen. Ganz flüchtig. Denn ich war draußen an der Front und erfuhr von Deutschland nur etwas, wenn ich mal für kurze Zeit auf Urlaub kam.

Also Winifred Williams (der Vorname ist echt englisch) sprach und fühlte schon damals gut deutsch und hatte ein Temperament für sechse. Sie imponierte den Mitschülerinnen, weil sie unbekümmert Allotria trieb und oft die Lehrer ärgerte. Einmal zog sie sich mitten in der Stunde - damals trug man ja noch keine Halbschuhe - die hohen Schnürstiefel aus und konnte, als sie aufgerufen wurde, nicht an die Tafel gehen, denn sie saß ja in Strümpfen da und ließ die Beine baumeln. Schon damals erzählte sie schwärmerisch von Siegfried Wagner, den sie über Scharwenka-Klindworth kennengelernt hatte - und eines Tages holte sich Siegfried Wagner das hochmusikalische, liebe, wilde, junge Ding; jetzt hat sie eine Anzahl Kinder von ihm und betreut sein Erbe.

Vom Theater - dem Opernhaus - zum Film.

Achtung, Achtung! Der letzte in Deutschland mit Lilian Harvey gedrehte Film wird gegeben.

Ein Film vom Hofe Napoleons III. und seiner schönen Gemahlin Gräfin Montijo. Selbstverständlich sagen alle: Lilian ist wieder entzückend. Ich selbst habe über dieses immer liebe, rasend fleißige Persönchen jahrelang viel Gutes geschrieben. Aber fehlt es ihr an nationalem Takt, an deutscher Würde? Lilian hat den Amerikanern bei ihrer Begrüßung in Newyork angeblich gesagt:

"Ich bin in England geboren und habe in Deutschland zahlreiche Filmaufnahmen gemacht. Zuweilen weiß ich selbst nicht, welcher Nation ich angehöre. Ich habe nur einen großen, großen Wunsch: Ich möchte Amerikanerin werden!"

Das letzte ist Reporter-Schwindel. Lilian Harvey, die in Wirklichkeit Pape heißt und deren Vater in Berlin-Tempelhof recht kümmerlich lebt, sucht ihr buen retiro nicht in Amerika, sondern an der französischen Riviera, wo sie mit ihren - nicht sehr leicht - erarbeiteten Millionen den Rest ihres Lebens verbringen will. Sie hat bei dem wahnsinnigen Schuften - meist drei Versionen, deutsch, englisch, französisch, an einem Tage - ihre Gesundheit verloren, die sie einst als junge unbekannte Tänzerin vor der Filmzeit doch hatte, und hofft auf das milde Klima.

Und nun zum Ball. Ich habe mich wirklich noch zu einem pressen lassen, aber zu einem ganz besonderen, zum Ball der chinesischen Studenten, oder offiziell: zum 6. deutsch-chinesischen Freundschaftsabend. Ich bin weit nach Asien hineingekommen, lang, lang ist's her, kann aber noch jetzt von den Japanern die Chinesen nur dadurch unterscheiden, daß diese viel zartere, feingliedrigere Hände haben. Hier aber, auf dem Freundschaftsabend, war ich sicher, neben den vielen Deutschen vom Chinaklub der Industrie nur Chinesen zu treffen.

Auf einen Moment huscht die Frau des chinesischen Botschafters an unseren Tisch.

Ein Püppchen.

Am nächsten Tage lese ich auch in einer Berliner Zeitung von der "blutjungen" Frau Botschafterin. Der Berichterstatter hat keine Ahnung. Die Frau hat schon sieben Kinder und kriegt jedes Jahr ein neues.

Mit einer chinesischen Musikstudentin plaudere ich eine Weile. Sie trippelt daher wie in der Operette, sieht nur viel hübscher - und echter natürlich - aus als unsere muskelbepackten Chinesinnen. Es ist alles so märchenhaft, so püppchenhaft. Viele der Studenten (man heiratet drüben sehr früh) haben auch ihre junge Frau mit nach Berlin genommen; die anderen behelfen sich mit einer filia hospitalis. Ich spreche auch mit manchen gewiegten Deutschen, die drüben zu tun haben. Merkwürdig: nicht einer von ihnen glaubt an Japan. Militärisch sei es natürlich stärker, es könne also erobern, aber kulturell stünden die Chinesen höher und seien überdies um 50 Prozent bedürfnisloser. Die Mandschurei werde nicht japanisiert, sondern chinesiert werden. Ich höre und staune.

Eine der deutschen Damen an meinem Tisch trägt eine prachtvolle spanische Mantilla. "Made in Spain" ist auf dem reichgestickten Tuch sogar eingewebt. Gemacht ist es aber - in Kanton. Der größte Teil der spanischen und von Spanien nach Deutschland, nach Venedig, überallhin ausgeführten Mantillas kommt aus China.

Das Restaurant "Tientsin" in der Kantstraße in Charlottenburg ist das erste und älteste in Berlin bestehende der jetzt fünf chinesisch-ostasiatischen. Es hat bei Beginn der japanisch-chinesischen Auseinandersetzungen die Japaner nicht hinausgesetzt, weil der Wirt nach wie vor an beiden verdienen wollte. Daraufhin - in China ist vom Großhändler bis zum letzten Kuli alles gildenmäßig zu passivem Widerstand organisiert - blieben die Chinesen wortlos vom ersten bis zum letzten weg. Ob der Mann von den paar Japanern und Deutschen weiterleben kann? Die Chinesen sagen: in drei Monaten ist er ruiniert, wenn er nicht nachgibt.
23. Februar 1933 (Donnerstag)


26

Fastnachtsdienstag - Der aufgeflogene Dach-Kahn-Ball - Kriminalkommissar Dr. Lüdke - Das Nachtgespenst - Wie wird man Kriminalist ? - Der Brand des Reichstages - Familientanztee.

Endlich wieder einmal liegen Muzemandeln, richtige rheinische Muzemandeln, am Fastnachtsdienstag auf unserem Kaffeetisch. Wir "machen nichts mit", wir bleiben zu Hause, es wird wie immer bis in die Nacht hinein gearbeitet, aber die Muzemandeln bringen Erinnerungen und Lächeln.

Ich weiß noch, wie ich glaubte, die Welt stürze ein, als ich, ein junger Dachs, in einer rheinischen Garnison am Fastnachtsmorgen eine richtige Bataillonskapelle in richtiger Uniform, aber mit klingelnden Narrenkappen auf dem Kopfe aufspielen sah. Ein paar Jahre später schmiß ich selber, in Uniform wie die Kameraden, von den Fenstern eines rheinischen Kasinos aus Apfelsinen und Bonbons unter die mit dem Rosenmontagszug vorüberflutende Menge, in der sozusagen alle Bande frommer Scheu gerissen waren.

"Giv mer a Bützche!" (Gib mir ein Küßchen!) sagt jeder zu jeder und nimmt sich sein Fastenrecht.

Da hatte ich es auch schon begriffen, daß das Treiben ein Notventil sei. Das ganze Jahr über hält der katholische Priester seine Schäflein in Zucht und droht mit dem Fegefeuer, Hölle, Pech und Schwefel. Nun läßt er einmal im Jahre die Zügel lang. Mögen sie sich austoben, die Leutchen; um so zerknirschter werden sie am Aschermittwoch und später zur Beichte kommen und wieder kuschen.

Solange es bei dem Bützchen bleibt, das jedes nicht von armstarken Eltern oder Freunden behütete junge Ding auf Wangen, Mund, Hals, Nacken bekommt, geht es ja noch. Tobt, Kinder, tobt! Seid närrisch, seid jeck! Lebt einmal nur der Lust und dem Humor! Aber den Unbehüteten geht es nach der zweiten Flasche Wein oft noch ganz anders. Wir haben ein Seitenstück dazu in Berlin. Was etwa in Köln - die anderen Rheinstädte haben sich diesmal stark zurückgehalten - der Fastnachtsdienstag ist, das ist in Berlin der erste Blütensonntag in Werder. Neun Monate später haben die Standesämter viel einzutragen. Im übrigen kennt die Reichshauptstadt den Straßenrummel nur am Silvesterabend und feiert dafür in Vereinslokalen und großen Festsälen ein ganzes Vierteljahr lang Fastnacht.

Manchmal wird das sehr toll. Seit zehn Jahren, seit der Inflationszeit, haben wir alljährlich, obwohl schon Reimannball, Akademieball, Bimini, Bunte Laterne usw. genügen sollten, als wildestes ein-, zweimal den Dach-Kahn-Ball.

In der Prinz-Albrecht-Straße, wo sich die staatlichen Kunstgewerbestätten befinden, steht ein Riesenhaus: Finanzamt Friedrichstadt.

Etliche Etagen sind vom Staate vermietet. Den Dachstock mit seinen zwei Dutzend Ateliers und sonstigen Räumen wollten die Berliner Künstler haben. Aber der Staat Braun-Severings vermietete die Etage an Herrn Kahn aus Krotoschin, der seinerseits mit Aufschlag weitervermietete. Die Haupteinnahme (jetzt ist Kahn im Konkurs) waren immer die sogenannten Dach-Kahn-Bälle, die nach außen ein künstlerisches Schild trugen und als "geschlossene Gesellschaft" firmierten, obwohl jedermann für 8 Mark (Künstler und Studierende billiger, ganz billig, zum Teil umsonst) hinkonnte. Bei dem Publikum vom Kurfürstendamm, um einen Generalausdruck zu gebrauchen, war das der Höhepunkt der Saison. Die frischesten in Berlin studierenden jungen Mädchen, deren Eltern "in der Provinz" das nicht ahnten, konnte man da finden und überhaupt alles, was das Herz begehrte. Dazu alle die verdunkelten Ateliers, in denen es keine Tische und Stühle, sondern nur Matratzen und Kissen in Fülle gab. Die Türen dieser Ateliers öffneten sich den davor sich stauenden, Einlaß begehrenden Paaren nur auf ein Kennwort oder ein bestimmtes Klopfzeichen, vorausgesetzt, daß Platz war. Diesmal waren rund 1800 Besucher (nicht 1300, wie eine Lokalnotiz berichtet) auf dem Dach-Kahn-Ball.

Es ist der letzte gewesen!

Ich selbst habe ihn nie mitgemacht, überhaupt bis vor Jahr und Tag keine Ahnung davon gehabt, daß Mädchen aus gutem Hause, die ich stets verteidigt habe, zu so etwas sich verfrachten ließen.

Um drei Uhr morgens wurde der Ball polizeilich aufgelöst, als die Schamlosigkeit ganz offenbar war. Es dauerte zwei volle Stunden, bis die Letzten ihre Garderobe hatten und das - staatliche Gebäude verließen.

Der Kriminalkommissar, der die Theaterexekutive unter sich hat und das ganze Vergnügungsgewerbe Berlins beobachtet, oft nächtelang hintereinander bis 5 Uhr morgens, um dann um 9 Uhr früh doch wieder im Polizeipräsidium den gewohnten Rapport zu erstatten, hat den Ball auffliegen lassen. Er ließ sich dazu vom Reviervorsteher die nötigen uniformierten Schutzleute kommen, die zuerst für Ulk-Figuren des Dach-Kahn-Balles gehalten wurden. Ich habe einmal diesen Kommissar persönlich kennengelernt. Es ist der Dr.rer.pol. Lüdke, der in Würzburg, Erlangen und Berlin studiert hat und hier - daher stammen ja seine Schmisse - der Burschenschaft Normannia beigetreten war, der auch der einst sehr bekannte Jurist Amtsgerichtspräsident Liebert und andere tüchtigen Leute angehört haben. Er hat nämlich mich und meine Frau (die nehme ich bei sowas als Schutzschild gegen üble Nachrede mit) im Jahre 1923 verhaftet, als ich in meinem nun vierzehnjährigen Kampf gegen das rote, entfesselte Berlin einer verbotenen Nachtaufführung, um der Öffentlichkeit darüber zu berichten, beiwohnte. Alles verhaftete er, nicht nur Unternehmer, Kellner, Tänzerinnen, sondern auch das Publikum. Also dieser Lüdke ist es gewesen, der ohne Anweisung, aus eigener Initiative heraus, die Dach-Kahn-Periode Berlins beendet hat und wohl noch manches andere säubern wird.

Unter sämtlichen Regierungen, mochten sie nun mit den Barmats oder Sklareks oder sonstwem liiert und selber ausgelassenen Festen nicht abhold sein, hat der junge Lüdke den Berliner Schmutz bekämpft.

Einmal hatten sie diesen unbequemen Kommissar, der übrigens erst 1921 sein Studium beendet hat, aus der Theaterexekutive entfernt, ich glaube, unter Friedensburg war es, und ins Einbruch-Dezernat versetzt.

Auch da gelang es ihm alsbald - man muß halt Talent zum Kriminalisten haben - sehr bald ein großer Schlag. Er hat nämlich das "Nachtgespenst" entlarvt und für viele Jahre ins Zuchthaus gebracht. Der Mann - Hans Janoschka hieß er - war, in einer fremden Wohnung überrascht und von den Einwohnern verfolgt, zum Bahnhof Wedding gelaufen, um über die Geleise zu entkommen, hatte sich aber beim Sprung vom Bahnsteig hinunter beide Beine gebrochen. Nun lag er im Polizeigefängnis, Zellennachbar der Sklareks, und leugnete alles. Es ist ein psychologisches und kriminalistisches Meisterstück, wie Lüdke den Janoschka trotzdem schließlich zum Geständnis brachte, daß er das "Nachtgespenst" sei und über 30 Einbrüche begangen habe.

Also es war gelungen, die Wohnung des Verbrechers auszumachen, in der er mit einer 20 Jahre älteren Frau (mit deren Tochter er verlobt war!) das Zimmer teilte. Er hatte auch schon manche Vergewaltigung auf dem Kerbholz. Im Nebenzimmer haust der Sohn der Frau. Lüdke, der sich als Beamter nicht zu erkennen gibt, sondern nur erzählt, er bringe Nachricht von Hans, hat noch keine Ahnung von den Dingen und Personen, fragt aber instinktmäßig, ohne von ihr etwas zu wissen:

"Was sagt denn das Mädel von Hans dazu?"

"Och, ich habe die Trude schon lange nicht gesehen!" (Aha, also Trude heißt sie!)

"Wieso denn nicht?"

"Na, seit sie nicht mehr hier im Hause in Stellung ist." (Aha, im Vorderhaus Dienstmädchen gewesen, jetzt wird das Einwohnermeldeamt Auskunft geben können!)

"Ob die Trude alles von Hans weiß?"

"Nischt weiß sie, nur daß sie ein Kind von ihm kriegt; sie selber ist ehrlich und anständig."

Zurück zu Janoschka. Zigarette angeboten, mit ihm geplaudert. Auf einmal: "Na, Ihre Trude ist ja jetzt in Lichterfelde in Stellung!" Da bäumt sich der Kranke auf, da bricht es aus ihm heraus: "Herr Kommissar, wenn Sie es möglich machen, daß ich die Trude noch einmal sehe und spreche, ich hänge ja so an dem feinen Mädel, dann sage ich Ihnen alles!" Janoschkas Wunsch wurde erfüllt. Und er sagte alles.

In der Ullsteinpresse las man damals aber sentimentale Artikel. Herr Moritz Goldstein, der unter dem Decknamen "Inquit" über Prozesse berichtet, findet es häßlich, wenn man so Geständnisse entlockt. Man soll nach Ansicht dieser Leute Verbrecher nicht bedrängen. Sie wären wohl zufriedener gewesen, wenn Janoschka bloß wegen des einen versuchten Einbruchs eine ganz milde Strafe bekommen hätte.

Seit langen Jahren hat Dr. Lüdke nicht mehr die Gelegenheit gehabt, mich und meine Frau zu sistieren und bis nach 5 Uhr morgens auf dem Revierbureau festzuhalten. Aber seither habe ich, auch ohne ihn zu sehen, immer Interesse für seine Arbeit gehabt. Im Juli vorigen Jahres wurde im früheren Zentraltheater in der Alten Jakobstraße ein Stück gegeben, "Die Minderjährigen", das derart schamlos war, daß nur der Janhagel aus der radikalen Bevölkerung daran seinen Spaß hatte. Lüdke geht hin, sieht die beiden ersten Akte, läßt dann auf eigene Verantwortung den eisernen Vorhang heruntergehen und zwingt den Direktor, vor dem Vorhang das Stück abzusagen. Damals - Lüdke ist als blutjunger Kriegsfreiwilliger ins Feld gezogen und bei Dixmuiden verwundet, mitten unter den Langemarck-Studenten - habe ich eine immense Hochachtung vor dem Kriminalistenberuf bekommen und bedauert, daß ich für ihn zu alt bin.

Bisher habe ich ja nur passiv mit den Herren zu tun gehabt. Dreimal im Laufe der Jahre schwere Haussuchung bei mir, ob ich nicht Republikgefährdendes dahabe. Es waren nette Leute, Schnauzbärte alter Art, aus der unteren Laufbahn gekommen, im Grunde ihres Herzens noch Anhänger des alten Reiches, und ich habe mich sehr nett mit ihnen über den Kaiser unterhalten. Beiläufig bemerkt: neulich hat die Zeitung "Daily News", die 1½ Millionen Auflage hat, eine Rundfrage an die Leser erlassen: "Würden Sie es gern sehen, wenn der deutsche Kaiser auf seinen Thron zurückkehrte?" - und die Mehrheit antwortete: Ja!

Draußen ist man immer früher klug als bei uns.

Um auf das Thema zurückzukommen: ich habe mich mal bei der Polizei erkundigt, wie man Kriminalkommissar wird. Da hieß es, drei Viertel kämen aus der Beamtenschaft selbst, aus den Sekretären, ein Viertel aus den freien Berufen. Es seien immer Leute, die das Talent dazu in sich fühlten. Sie würden im Alter von 24 Jahren auf eine dreijährige Lehrzeit eingestellt, der eine halbjährige Probezeit folge. Verlangt wird das Abiturium, fast alle aber haben ein Staatsexamen auf der Universität bestanden. Es sind in Berlin Juristen, Philologen, Volkswirte, Ingenieure, ja sogar ein Zahnarzt darunter. Früher war Berlin Garde und hatte nur "Höhere", während die Sekretäre ins Land kamen. Aber Severing befahl um.

Augenblicklich, wo wir im Kampfe gegen den Ausbruch einer bolschewistischen Revolution und in der Arbeit für die Säuberung Berlins und des Reiches stehen, hat die Polizei natürlich besonders viel zu tun. Die Stimmung in der ruhigen und wieder hoffnungsvollen Bevölkerung ist ihr günstig. Man liebt wieder seine Schutzleute. Man pariert willig, wenn sie sagen:

"Nicht einmal die Abgeordneten dürfen in den Reichstag, alle Karten sind ungültig, also dürfen auch Sie nicht näher heran!"

Eine Ausnahme machen nur die Behörden und wenige, sehr wenige Pressevertreter. Wir haben das rotglühende Eisengerippe der Kuppel gesehen, aus deren zersplitterten Fenstern die Flammen herausschlugen, und wir haben bei dieser Mordbrennerei an den Brand des Justizpalastes in Wien 1927 gedacht, wo die heraneilende Feuerwehr von den Kommunisten mit Schnellfeuer abgehalten wurde und wenige Stunden später - die Sozialdemokraten sich auf die Seite der Kommunisten schlugen. Wir haben dann zwei Tage später auch das Innere des Reichstages uns ansehen können. Gott sei Dank: in der Hauptsache ist nur der Plenarsaal ausgebrannt, der Schauplatz all der wüsten Szenen der letzten Jahre. Wo dem besten Deutschnationalen, der uns durch die Rentenmark aus der Inflation errettet hat, Helfferich, dauernd "Mörder!" zugerufen wurde, und wo der Präsident Löbe es mit einer gehässigen Bemerkung guthieß, daß der nationalsozialistische Abgeordnete Kube als "kleiner Jakob" angepöbelt wurde, um bloß zwei Beispiele aus der Schandchronik anzuführen. Jetzt ist nur noch nasse Asche von den Sitzen da, die die Parlamentarier, auch die Kommunisten, eingenommen haben.

Sonst alles Wertvolle erhalten. Alle Bilder, alle Bücher. In der großen Wandelhalle steht rein und ungeschwärzt das Denkmal Wilhelms I. Und vom Balkon hängt sogar noch die von Löbe angeschaffte schwarzrotgoldene Fahne, die einzige, die es in Deutschland gibt; alle anderen sind schwarzrotgelb.

Noch täglich pilgern Tausende hin, um aus der Ferne etwas zu sehen. Die Mehrzahl der Berliner ist ruhig und zuversichtlich, weil die Wende da ist. Hie und da gibt es sogar, nach Aschermittwoch, noch Fastnachtstänzchen in der Familie. Das junge Volk will und wird am Sonntag wählen, um Deutschland hochzubringen, aber es will auch tanzen. Schade, daß die Hausfrau und die anderen Muttis da noch so häufig Konkurrenz machen. Unsere Jungens sagen dann:

"Wir mußten wieder Schränke schieben!"
2. März 1933 (Donnerstag)


27

Die Revolution 1918 und die Revolution 1933 - Alfred Kerr geflüchtet - Flagge und Zentrum - Unsere Volkwerdung - Am Sarge des Alten Fritz - Die Waisenjungs - "Der Choral von Leuthen" - Der Kulturminister - Wir vermünchnern - Siechen statt Rheingold.

Also so sieht eine anständige, nationale Revolution aus?

Herrgott, daß ich das noch erleben durfte! Die Revolution von 1918 fing mit Plünderungen und dem Verschleudern des Gestohlenen an östliche Einwanderer an. Und sehr bald ging das wüste Geknalle des Mobs und der aus den Gefängnissen und Zuchthäusern herausgeströmten Verbrecher los.

Straße frei! Peng, peng.

Und die Häupter der Regierung, Ebert und Scheidemann, verließen die Reichskanzlei, sausten um Straßenecken, liefen in Hinterhöfe, kletterten über Mauern und telephonierten dann um Hilfe an das Offizierkorps des alten Heeres.

Diesmal alles ganz anders. Die Regierung sitzt fest im Sattel und befiehlt. Aus den Gefängnissen wird niemand entlassen, sondern, im Gegenteil, es werden neue Leute hineingesteckt. Keine Plünderungen. Diszipliniert, wie ein Mann, geht das Volk am 5. März an die Wahlurne. Und es kommen keine Hyänen des Schlachtfeldes vom Osten zu uns herein, sondern jeder, der Grund dazu zu haben glaubt, flüchtet. Der Kurfürstendamm in Berlin sieht auf einmal fast deutsch aus. Man denke: sogar Alfred Kerr (recte Kempner) ist Mosses ausgerückt, die nun nicht mehr Theaterkritiken von ihm unter römisch I bis römisch XVIII bringen können, und in Paris gelandet, wo ihm Tucholsky - alias Theobald Tiger, Peter Panter usw. - um den Hals fallen kann, der schon vor ihm Heinrich Heines Paradies aufgesucht hat. Der ehemalige Staatssekretär Dr. Weismann hat seinen Wohnsitz in die Nähe von Monte Carlo verlegt. Wo von der übrigen Mischpoke System-Berlins der ehemalige Polizeivizepräsident Weiß steckt, ist noch nicht auszumachen gewesen. Sie rattern alle in Ost und West und Nord und Süd über die Grenze. Nur ein Segensspruch von uns hinterdrein: Kehr-nie-wieder!

Jeden Tag kriegen die Leute, denen wir 1918 verdanken, durch irgendeinen neuen Erlaß eine Backpfeife.

Sie taumeln.

Nachdem das deutsche Volk am vorigen Sonntag in seiner Mehrheit sich als national bekannt hat, werden die Hochburgen der Novemberlinge überall besetzt. Nicht einmal ein Leutnant und zehn Mann der bewaffneten Macht, sondern nur fünf junge Leute im grünen Hemd waren nötig, um auf dem Berliner Rathaus, diesem bisherigen Wanzennest der Korruption, die schwarzweißrote Flagge zu hissen.

Am Mittwoch früh sind es in Preußen schon 2128 Städte und Gemeinden, auf deren öffentlichen Gebäuden Schwarzweißrot oder Hakenkreuz oder beides brüderlich nebeneinander weht. Und in Hamburg kommt plötzlich ein nationaler Senat zustande, Baden, Württemberg, Hessen, Bayern müssen sich umstellen. Gegenwehr? Hie und da schießt, wie es auch bisher war, ein Kommunist oder Reichsbannermann auf Nazis. Ansonsten hat nur die Zentrumspartei ein geschwollenes Protesttelegramm gegen die nationale Beflaggung losgelassen. Darauf Görings Antwort:

"Ein verschwindend kleiner Teil der deutschen Bevölkerung stimmte für das Zentrum; ich bin dafür verantwortlich, daß der Wille der Majorität des deutschen Volkes gewahrt wird, hingegen nicht die Wünsche einer Gruppe, die anscheinend die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden hat."

Famos. So bald stürzt sich das Zentrum nicht wieder in die Unkosten eines langen Telegramms.

Und es rollen keine Köpfe. Die anständigste Revolution seit 1789 liegt hinter uns.

Nun heißt es, den Helm fester binden und weiterkämpfen bis zur Vernichtung des Gegners. Es liegt in der Siegfriedsnatur des Deutschen, den geschlagenen Gegner laufen zu lassen. Wir waren eben in Krieg und Frieden ganz unpolitisch. Das darf nicht mehr sein. Nur wollen wir natürlich nicht die rund 18 Millionen Deutscher ausrotten, die sich noch zu einer der Novemberparteien bekannt haben. Nein, wir wollen sie gewinnen! Genau so wie die Sachsen, die 1866 gegen die Preußen im Felde standen, 1870 gemeinsam mit ihnen St. Privat erstürmten, soll jeder marxistische Arbeiter, jeder katholische Bauer, jeder demokratische Kaufmann uns willkommen und Bruder sein, der zu uns kommt. Und was wir, das neue nationale Deutschland, ihnen bieten, das ist treue saubere Kameradschaft wie im Schützengraben oder, mehr noch, vorn im Granatloch, wo es keinen Standesdünkel gab und - wo sicherlich keiner den anderen um das bißchen Nahrung oder Tabak betrog.

Niemals wieder, darin haben Graf Reventlow und der Fridericus-Holtz ganz recht, dürfen wieder asoziale Schichten bei uns die Überhand haben. Erst wenn das Dienstmädchen und der Laufbursche und der Maurerlehrling und der Gärtnergehilfe und der Müllkutscher - neben dem auskömmlichen täglichen Brot - das Gefühl haben, in ihrer deutschen Menschenwürde geachtet zu sein, ganz gleich, ob ein Mensch mit Direktortitel oder Halsorden oder Doktordiplom ihnen gegenübersteht, erst dann beginnt aus dem nationalen Staat heraus die Volkwerdung.

An dem vergangenen Märzsonntag - vergeßt es nicht, an diesem nächsten Sonntag, dem 12. März, müssen wir wieder wählen, gegen die kommunale Korruption - habe ich mir, nachdem wir an der Urne gewesen waren, die Nachmittagsarbeit geschenkt und bin mit den Meinigen nach Potsdam hinausgefahren. Wir standen ganz allein in der Garnisonkirche am Sarge Friedrichs des Großen, sonst war das Gotteshaus leer. Nur am Eingang der Kassendachs, bisher Stabsgefreiter bei einem Artillerieregiment, und ein Hilfspolizist. Wir sagten kein Wort. Aber das Herz schlug uns hochauf.

Dann gabelten wir draußen in Sanssouci zwei Jungs vom Militärwaisenhaus auf. Bluse, feldgrauer Mantel. Des einen Vater ist als Feldwebel im 1. Garderegiment zu Fuß, des anderen als Oberleutnant im Regiment 118 gefallen.

"Na, was habt ihr heute vormittag gemacht?"

"Wir haben natürlich Wahl gespielt, richtig mit Urnen und so!"

Sieh mal einer an. Über 500 Kinder, von denen nicht alle mitgemacht haben, sind in dem großen Hause untergebracht.

"Wir hatten 193 Nazis und 3 Kommunisten!"

So, so. Na, laßt Euch die Schokolade gut schmecken; und wenn Ihr Stifteköppe groß seid, dient wieder jedermann.

Nun danket alle Gott . . .

Das ist doch die Grundstimmung dieser Tage. So haben Friedrichs des Großen Soldaten gesungen, als sie nach erkämpftem Siege auf dem Schlachtfeld von Leuthen lagerten. Im Film "Der Choral von Leuthen" wird daraus ein Marschlied zum Schluß, sogar - horribile dictu - mit Orgelbegleitung. Eine Orgel auf dem Schlachtfelde! Es fehlt auch die historische, so unendlich rührende Bemerkung Friedrichs des Großen dazu:

"Meint Er nicht auch, Ziethen, mit solchen Kerls mußte es gelingen?"

Es fehlt ferner, als der alte Dessauer bittet, der oberste Kriegsherr möge sich etwas weniger der Gefahr aussetzen, das Königswort:

"Die Kugel, die mir bestimmt ist, kommt von oben!"

Es ist überhaupt manches in dem Film nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Ein bißchen viel Gereite. Das ist der amerikanische Stil: ohne daß Autos rasen oder Pferde galoppieren oder Menschen dahersausen, geht es nun mal nicht.

Natürlich gehört das auch zu einer Schlacht. Aber, wie gesagt, es ist ein bißchen viel. Nun steht vor mir, was Otto Gebühr mir gesagt hat, daß dieser sechste sein bester Fridericus-Film werden würde. Er werde selber Regisseur spielen und nicht von irgendeinem Regisseur sich Bruchstücke eintrichtern lassen. Das hat mir Gebühr in seiner Wohnung gesagt, der immer noch alten bescheidenen Dachkammerwohnung oder, wenn wir es vornehmer sagen wollen, Atelierwohnung, in der es gar keine Kostbarkeiten und alte Perser gibt; dafür wird aber Gebühr auf seine alten Tage auch wohl nicht betteln müssen wie Helene Odilon, die einst ein Vermögen an sich trug und im Luxus erstickte.

Also Otto Gebühr hat es mir gesagt, und nun sitzen wir da, und es ist doch ein Fridericus-Film wie alle anderen, - nur mit Ausnahme der Gebühr-Szenen in der Nacht vor der Schlacht, wo der sorgenzerfurchte König den Plan auf Tod und Leben faßt und sein Testament diktiert. Nie ist der Alte Fritz in seiner Größe uns menschlich näher gekommen als hier. Faltenzersägt, geduckt vom Schicksal, frierend mit mageren Händen, krummbeinig und gebückt, so wie er wirklich war, ohne Majestät und Brimborium,, aber eben ein Mann, ein ganzer Mann, der auf das drohende Schicksal mit Felsblöcken wirft: Du oder ich!

Nicht gerade sehr erfreut bin ich auch, unter den Darstellern einem in der Rolle eines evangelischen Pfarrers zu begegnen, Werner Fink, einem der lockersten Zeisige unter den Berliner Conferenciers, von dem das die Kurfürstendammer begeisternde Gedicht stammt:

"Irgendwo gebar dann jemand irgend was,
Das die Leute später Anna nannten,
Und ein Pastor machte diese Anna naß
Und empfahl sie Gott, dem Unbekannten."

Dafür aber der König, der König! Fridericus Rex, unser König und Held!

Wir brauchen so etwas, um gehärtet zu werden, wir brauchen laut Goethe "das Beste an der Weltgeschichte", nämlich - den Enthusiasmus, den sie erregt. Also müssen wir tief in den Born greifen. So wie Mussolinis Römer an ihrer alten Geschichte erstarken.

Es hat uns in den Remark-Jahren und vorher daran gefehlt, ja sogar vor dem Kriege. Der Gedanke des Kaisers zur Schulreform, wir sollten keine jungen Griechen und Römer, sondern junge Deutsche erziehen, wie er wörtlich gesagt hat, ist nie ganz durchgeführt worden. Wir blieben immer Weltbürger, in der höheren wie in der Volksschule. Das wird nun endlich auch anders werden. Und daß wir neben einem nationalen Minister für das Bildungswesen in Preußen eigens einen neuen Kultur- und Propagandaminister im Reiche erhalten sollen, ist nicht schlecht. Wir brauchen einen, der unser Fichte oder Arndt für das Inland, unser Northcliffe für das Ausland werden kann. Er soll auch die Theater säubern, und da wird er namentlich in Berlin viel auszumisten haben.

Darauf sind die Mistproduzenten und der ganze Klüngel schon gefaßt, vielfach kommen sie den erst zu erwartenden neuen Bestimmungen schon im voraus entgegen. Es will schon etwas bedeuten, daß Hedi Kiesler gegen die für ihren Film "Ekstase" ins Werk gesetzte Nacktaufnahmenreklame Widerspruch erhoben hat. Heulen und Zähneklappern geht durch die Reihen derer, die in der Reichshauptstadt oder sonstwo alles das lieferten, was die Lüsternheit dann bezahlte.

Natürlich werden wir dabei vielleicht "spießerhaft".

Wir werden in Berlin vielleicht sogar Provinz, aber das muß die Weltstadt sich gefallen lassen. Auch Rom ist für manche heute schon eine langweilige Stadt geworden. Einmal umringten mich in Rom, weil sie mich nicht für einen Durchreisenden, sondern für einen Ortsansässigen hielten, Mailänder Studenten, Kongreßbesucher. Abends um 11 Uhr. Wo denn noch was los sei. Mädchen, Tanz und so. Ich sagte ihnen, ich sei "forestiere", Ausländer, aber könne ihnen versichern, daß nichts mehr los sei. Nur noch in zwei internationalen, teuren Hotels Jazzmusik für die Fremden. Der nicht reiche Italiener könne um 11 Uhr in Rom in die Klappe kriechen, nur draußen in Ostia sei erst um 12 Uhr Schluß. Kann sein, daß es bei uns auch so wird. Gar so sehr engherzig möchte ich es nicht haben, aber schon der Rückgang der Einnahmen sorgt ja dafür, daß die breite Masse von dem Nachtbetrieb und Pfropfenknall sowieso ausgeschlossen ist.

Der Berliner vermünchnert zusehends.

München ist ja noch heute - trotz Palästen, trotz Kunst, trotz Bohème - eine sogenannte bessere Provinzstadt, wo der Bürger zu seinem Bier geht und damit punctum. Vor ein paar Jahren fing die Invasion bei uns an. Im Europahaus in der Königgrätzer Straße tat sich das Münchner Hofbräu auf. Gutes Bier, Münchner Essen, schlechte Luft. Dann bekamen wir die Filiale am Wittenbergplatz. Es folgte das Hotel "Exzelsior" mit seinem Augustiner - jetzt Thomasbräu - in der Anhaltstraße. Und nun ist vor wenigen Tagen das Nürnberger Siechen in der Potsdamer Straße eröffnet.

Herrschaften: das frühere "Rheingold"! Wo man seine gute und teure Flasche Wein bekam. Hochvornehm.

Heute glaubt man sich wirklich nach München (oder Nürnberg) versetzt. Das Essen ist ganz billig, für 90 Pfennige gibt es schon Wildlende mit Kartoffelbrei und Preißelbeerkompott, das Bier ist süffig und die Musik macht Durst mit ihrer ungeheuren Trompeterei von Studentenliedern und Märschen. Dazwischen flitzen als Bedienung in Dirndlkostüm die Madeln einher, alle schon hoch im kanonischen Alter. Tschingtara und Bumdiäh, noch ein Großes hell! Lauter braves und sehr lautes Kleinbürgertum rundum. Auf einmal stehen sechs junge Männer auf und singen, stark angeäthert und schlecht, aber begeistert, das Horst-Wessel-Lied. Früher war hier nur jeder vierte oder fünfte Tisch besetzt, wo fabelhaft lautlose Kellner allerlei Schönes servierten. Heute? Alles pfropfenvoll!

Wer einmal "Volk" gesagt hat, der soll jetzt nicht sein Gesicht verziehen.
9. März 1933 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts