"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 1 - 3
3. bis 17. September 1931


1

Cabaret auf der Fähre - Vom Fiffi-Hütchen - Der Mann aus Celebes - Auf Helgoland - Jugendherbergen - Der bekümmerte Republikaner - Unsere Hochschüler - Berlin wird lebendig - Europahaus-Dachgarten.

"Erzählen! Erzählen!"

Ob eigene Familienangehörige daheim, ob Leser draußen im Reich, sie alle sagen es, sobald man aus den Ferien zurückgekehrt ist.

Man soll also erzählen, wie es in der weiten blauenden Ferne war, in fremden Ländern, unter lustigen Abenteuern; und wie die Heimat aussieht, wenn man sie nun wieder einmal mit der Fremde vergleichen kann. Diesmal war aber doch solchen Studienreisenden, wie ich es bin, eine Buße von 100 Mark für die Erlaubnis zum Ausfliegen auferlegt, die ich dem fürsorglichen Vater Staat nicht gegönnt habe.

Nur für drei Tage, die im kleinen Grenzverkehr gebührenfrei blieben, habe ich in einem Nachbarlande aufgeatmet, in dem es noch einen König und nur eine und dieselbe Flagge für alle Bewohner gibt, die Not zwar auch hie und da an die Türen klopft, immerhin aber noch an der Sitte festgehalten wird, daß man in den Gaststätten zu einem Einheitspreise essen kann, soviel man will.

Das ist das sogenannte Cabaret in Dänemark, die Wucht der Dutzende von kalten Schüsseln.

Sechserlei marinierter Fisch, sechserlei Braten und Geflügel, unendlich viele Kleinigkeiten, dazu der mächtige gekochte Schinken, von dem Du nach Belieben abhauen darfst. Manchmal stehen 30 Platten vor dem herkömmlichen warmen Gang um einen herum, wenn es eine einigermaßen gute Gaststätte ist. Schon auf dem Fährdampfer von Warnemünde nach Gjedser sehe ich neben mir eine Dänin, die zur inneren Bewältigung dieser Dinge einen großen Schnaps als Helfer braucht und schließlich - Hummer mit Backpflaumen ißt.

Im übrigen habe ich mich an vielen Plätzen der Ost- und Nordsee herumgetrieben.

Was soll ich davon erzählen? Daß der ganze Monat insgesamt nur 6 regenfreie Tage hatte? Oder welche Erfahrungen mir beschieden waren?

Je nun, ich könnte von der jungen Dame mit Fiffi-Hütchen berichten, die so erlebnishungrig und selbstbewußt im Hamburger Zuge mir gegenüber saß. Aber mein Interesse daran ist erloschen. Ich meine nicht an jungen Damen, sondern an Fiffi-Hütchen. Vor ein paar Wochen waren sie noch Sensation, heute kauft sie sich für 3,10 Mark schon jedes Laufmädchen in Berlin. Ich habe noch kaum je eine neue Mode so blitzschnell sich verbreiten sehen. Chasseur-Hütchen oder Postillon-Hütchen nennen die Fachleute das Ding, aber es ist wahr: die jungen Damen, die das tragen, sehen alle so aus, als ob sie Fiffi heißen.

Oder ich könnte von dem ehemaligen Gouverneur von Nord-Celebes berichten, der ursprünglich holländischer Offizier war, in den Kämpfen gegen die Eingeborenen mit dem allerhöchsten Tapferkeitsorden ausgezeichnet. Der am liebsten in die deutsche Armee eingetreten wäre, deutsch wie ein Deutscher spricht und vor Jahren schon in Kobe in Japan einen Band Rumpelstilzchen-Plaudereien erwischt hat. Der kommt also in diesem Sommer des Mißvergnügens nach Berlin, um den Verfasser kennen zu lernen, geht, um seine Adresse zu erkunden, in eine Buchhandlung und fragt:

"Was gibt es neues von Rumpelstilzchen?"

Er bekommt die Antwort:

"Das neueste ist, daß Rumpelstilzchen tot ist."

Also immer wieder die alte Geschichte, gegen die kein Dementi hilft, da nachgerade jedermann glaubt, ich hätte vor meinem Tode sozusagen meine Firma mit allen Rechten und Pflichten einem Nachfolger übertragen. Betrübt fährt nun der ehemalige Gouverneur, der "Oud-Resident", nach Warnemünde, läßt dort aus langer Weile von einem fabelhaften Gent sich aus den Handlinien lesen, Kostenpunkt 3 Mark, und bemerkt dann:

"Wenn Sie so gut alles enträtseln können, so sagen Sie mir doch, ob Rumpelstilzchen wirklich tot ist!"

Da lacht der Gent. "I bewahre," sagt er, "höchst lebendig, sogar hier in Warnemünde anwesend, hat heute Abend mit Bekannten den Tisch Nr.12 im großen Saal des Kurhauses!"

An diesem Abend, wir waren schließlich elf Personen, hat der Mann aus Celebes sich die Nase mit mir begossen.

Wenn man sich so über die Weltmeere weg trifft, ist es begreiflich, daß Näherwohnende sich überhaupt nicht mehr ausweichen können. Der häufigste Satz, den ich in den Ferien gehört, der häufigste Satz, den ich in den Ferien selber ausgesprochen habe, lautet: "Ach, wie reizend, wollen wir nicht diesen Abend gemeinsam verbringen?" So war es auch noch in Kiel und anderswo, kurz, statt der erholsamen Stille überall "Betrieb", vor dem man aus Berlin doch gerade flüchtet. Wenn ich bisher alljährlich im Sommer immer mindestens tausend Kilometer zwischen mich und die Reichshauptstadt brachte, so weiß ich jetzt, weshalb ich es instinktiv tat.

Nur auf Helgoland, das immer weniger ständige Badegäste, immer mehr kurzfristige Besucher erhält, gab es köstlichen Frieden. Wieder in der Pension Felseneck im Oberland. Auf der Frühstücksterrasse dort am Steilabfall mit dem Blick über Seesteg und Düne in die unendliche Weite, das gehört zu dem schönsten, was man in Deutschland haben kann. Und dann die Sternennacht nach der Tagessonne! In dem rein ozeanischen Klima der einsamen Insel gibt es keine Abende, an denen man fröstelt, sondern 24 Stunden hindurch immer dieselbe milde Luft. Auf dem "Markusplatz" sitzt man noch um Mitternacht mantellos genau so wie vor den Cafés des großen Namensvetters in Venedig. An wirklich stürmischen und verregneten Tagen hat man noch immer das Hallenschwimmbad mit warmem, ständig erneuertem Seewasser. Und für wenige Groschen das Kino, wenn man nicht verschiedene Taler für die Veranstaltungen im Kurhaus ausgeben will.

Und da im Helgoländer Oberlandkino erlebe ich noch eine reine Freude. Etliche Wochen vorher, bei der Pilgerfahrt von Warnemünde nach einem pommerschen Grenzstädtchen zur Abstimmung beim Volksentscheid, bin ich noch auf viel Unverstand auch von Jungwählern gestoßen, die sich mit einem "Was geht's uns an?" von der Abstimmung ferngehalten haben. Was es sie angeht? Sie werden von der vorhergehenden Generation verschachert und wehren sich nicht! Nun hier im Kino auf Helgoland auch viel junges Volk. Links neben mir sieht ein Wandervogel aus dem Rheinland, neben ihm eine Studentin aus Breslau mit weit aufgerissenen Augen zur Leinwand, auf der, nach der Hauptaufführung, der ständige Film von der Zerstörung des Helgoländer Hafens und der Werke nach dem Versailler Frieden abrollt. Sonst sagen so viele junge Leute, der Krieg gehe sie nichts an, sie wollten auch von Politik nichts hören. Aber hier ruft, selbstvergessen, die Studentin auf einmal in die Stille hinein:

"Da kann man ja die grüne Wut kriegen!"

Recht so; ach, wie das wohltut. Wenn das ganze heranwachsende Geschlecht erst von dieser Stimmung erfaßt ist, dann ist mir um die Zukunft des Vaterlandes nicht mehr bange.

Sogar Helgoland hat eine Jugendherberge; da sind meine beiden Nachbarn wohl her. Diese Herbergen, über ganz Deutschland verbreitet, bieten meist für nur 30 Pfennige ein sauberes Nachtquartier, ermöglichen also selbst in unseren Elendszeiten jedermann das Reisen, der sich für 50 Pfennige Jahresbeitrag die Mitgliedskarte erwirbt. Der Begriff Jugend wird dabei ganz weitherzig aufgefaßt. Da findet eine Mutter mit ihrem zweijährigen Töchterchen Unterkunft. Da schläft ein alter Regierungsrat mit erwachsenen Kindern. Da wird auch ein Wanderfroher von 70 Jahren nicht abgewiesen. Das Vorrecht hat natürlich die wirkliche Jugend, ohne Unterschied die aller Stände. Die Studentin lagert neben dem Fabrikmädchen, der Maurerlehrling neben dm Gymnasiasten. Das Gros wird freilich durch homogene Schülergruppen gestellt. In Berlin liegt wieder die schwimmende Herberge auf dem Landwehrkanal am Charlottenburger Tore. Der Name, "Oberbürgermeister Böß", ist neugepinselt, nachdem er wochenlang weiß überstrichen war. Man läßt über alle bösen Böß-Geschichten Gras wachsen.

Ihre Zahl ist Legion. Man schämt sich beinahe.

Unsereins käme alsbald vor ein hochnotpeinliches republikanisches Halsgericht, wenn er über den Unterschied der Moral zwischen heute und einst sich ausließe. Aber die unzweifelhaft gut republikanische Berliner "Welt am Montag" vom 31.August gibt, natürlich straflos, der Zuschrift eines bekümmerten Republikaners Raum, in der es u.a. heißt:

"Das Vorkriegsideal war nicht der Geldpunkt, sondern die arme Hoffähigkeit. Mit einem engen Standesehrbegriff: man mußte in Gelddingen im allgemeinen eine reine Weste haben. Rechts hat man unwürdige Mitglieder in den alten Gesellschaftsschichten stets ausgestoßen. Die Republik entschuldigt alles. Jetzt ist alles korrumpiert, und wir haben alle zusammen einen Dreck."

Es wäre dankenswert, wenn die "Welt am Montag" eine weitere Zuschrift des Inhalts brächte, weshalb in unseren Tagen Regierung und Volk nicht eine Besserung unserer Lage herbeiführen können, während früher doch auch nach unglücklichen Kriegen König und Volk es vermochten.

Ach was. Reden wir nicht von Politik. Sehe jeder zu, wo er bleibe. Schon fast jeder Schüler würgt ja heute an der Angst, was werden soll, wenn er nach aller Vorbildung und Ausbildung keine Stellung findet. Ob einer dann stud.jur. oder stud.merc. oder stud.mach. ist, die Sorge meldet sich bei allen. Nur die Sportstudenten sind abends so ehrlich müde, daß ihnen für trübe Gedanken keine Zeit bleibt. Die von der Hochschule für Leibesübungen. Und es ist kein Druckfehler, wenn sie lachend erklären, sie studierten - an der Hochschule für Liebesübungen.

Das wundervolle Charlottenburg und Spandau und Gatow dieser Gestählten ist geblieben, wie es war. Hier hat die Schrumpfung aller unserer Betriebe noch nicht begonnen. Auch sonst macht Berlin, trotz der vielen Anzeigen an leerstehenden Geschäftsräumen und Wohnungen, einen immer noch lebendigen äußeren Eindruck, schließen die Theater - zu verbilligten Preisen - immer noch Abonnements ab, obgleich man auf völliges Versagen der Stammkunden gerechnet hatte, überstürzen auch die Filmpaläste einander mit Uraufführungen. Das schönste und ergreifendste: "Tabu". Diese stumme Südseegeschichte ist eindringlicher als mancher Tonfilm, ist von hinreißender poetischer Schönheit, aber der tragische Ausgang des so paradiesisch beginnenden Liebesmärchens, das man übrigens auch ohne Bedenken jedem Kinde zeigen könnte, entspricht vielleicht nicht den Wünschen des großen Publikums nach Entspannung und Lachen. Da geht es lieber in "Bomben auf Monte Carlo" und ähnliche wertlose Stücke.

Oder - auf den Europa-Dachgarten; das ist etwas ganz neues. Auf das flache Dach des einzigen "Wolkenkratzers" von Berlin, des elfstöckigen Europahauses am Anhalter Bahnhof. Dort ist man in 63 Metern Höhe, hat Liegestühle zum Sonnen, kann seinen Nachmittagskaffee dabei trinken und bei klarer Sicht das ganze ungeheure Berlin überschauen.

Auf der einen Seite schweift der Blick bis zu den Müggelbergen, auf der anderen grüßen die Türme von Potsdam über Wasser und Wald. Direkt zu Füßen hat man den Prinz-Albrecht-Park, weiterhin recken sich an allen vier Seiten ungezählte Kirchen, grün patinierte Kuppeln, auch mächtige Fabrikschlote, dazwischen aber immer wieder erquickender Baumwuchs. Da: nach Südsüdwest, in Richtung auf die rote Heiligkreuzkirche, die hellblau gekachelte Giebelwand meines Arbeitszimmers. Da: nach der entgegengesetzten Richtung das grüne Meer des Tiergartens, die Siegessäule, der Reichstag. Da: Kaiser-Wilhelm-Kirche und Funkturm. Da: altes Rathaus, neues Stadthaus. Märkisches Museum. Bei gutem, klarem Wetter wird das bald zur Lieblingsstätte der Berliner und der Fremden werden, wird der Eilfahrstuhl unablässig die elf Stockwerke hinauf und hinunter sausen. Es steckt Mut in dieser Schöpfung. Während ihrer Entstehung hatten die Erbauer hier ein Riesenplakat ausgespannt: "Wir glauben an Berlin!"

Ja, wir glauben an Berlin, auch wenn mancherlei schon im Entstehen "etwas schwach auf der Brust" ist. In einem neuen Kabarett des Westens, das erst vor wenigen Wochen seine Pforten geöffnet hat, kleben die Adlermarken des Gerichtsvollziehers unter den Tischen und Stühlen.

Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle . . .
3. September 1931 (Donnerstag)


2

Hans-Herbert Ulrich - "Die Schlacht von Bademünde" - Brunshaupten und Babelsberg - Mit Familie im "Resi" - Ein neuer Hans Sachs.

Irgendwann im Kriege habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Den Hans-Herbert Ulrich. Er war als blutjunger Hauptmann in eine Generalstabsstellung in der Türkei kommandiert.

Vorher war er ein Jahr lang Adjutant des Herzogs von Meinigen gewesen. Da war er "richtig", nicht nur wegen seiner Bildung und seiner Formen, sondern auch - wegen seines Theaterbluts. Schon als Kadett hatte Hans-Herbert Ulrich zu fabulieren angefangen. Als aktiver Leutnant in Schweidnitz, in dem Regiment, in dem schon Vater und Großvater gestanden hatten, konnte er dann, dank einem verständnisvollen Kommandeur, sein erstes Schauspiel, "Gold für Eisen", persönlich im Stadttheater seiner Garnison inszenieren, es ist über viele deutsche Bühnen gegangen. Mir sind das liebste seine 1908 erschienenen Kadettengeschichten ("Ich hatt' einen Kameraden", "Blutsbrüder") und von 1909 der Gedichtband "Glück und Glanz", in dem unendlich zartes sich findet, das man diesem flotten Kavalier garnicht zugetraut hätte. Ist er doch noch heute einer der begehrtesten Junggesellen der Reichshauptstadt, der Urtypus jenes Menschen, von dem es heißt: "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb!" Nebenbei ist er unermüdlich in manchmal gigantischer Arbeitsfülle. Nebenbei ist er nämlich Direktor der Ufa und ihr Finanzdiktator.

Wie er da gelandet ist? Einst kaufte die Deulig, die Deutsche Lichtbildgesellschaft, seinen Roman "Ruth Maroll" zum Verfilmen. Eva May spielte die Hauptrolle. Ulrich wurde unter dem Generaldirektor Klitzsch, der ihn nachher auch zur Ufa geholt hat, Produktionsleiter und brachte u.a. den Janningsfilm "Algol" heraus. Der liebe Hans-Herbert Ulrich, der beste Freund seiner Freunde und überhaupt aller Erholungsbedürftigen, ist grundsätzlich nicht für Problematik, sondern für Entspannung im Theater. Das ist literarisch ausgedrückt. Rein menschlich klingt es einfacher, wie er es sagt:

"Wenn einer abends in den Kientopp geht, will er nicht noch eins mit der Mangelkulle auf den Kopp kriegen!"

Na schön. Aus dieser Einstellung heraus entstand der Film "Die Schlacht von Bademünde", die soeben ihre Berliner Uraufführung erlebt hat. Da schürzen manche schon die Lippen: "Pah, ein Militärschwank!" Dummes Gerede. Es gibt ernste Männer, die das Lied "Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst" so sehr mögen, weil darin die Stelle vorkommt, daß sie dennoch auch die Liebe gefühlt haben. Und es gibt ernste Männer, die bei der Vorstellung der "Schlacht von Bademünde" Tränen lachen. Manchmal habe ich, ohne es mir viel zu überlegen, leichtfertig diesen Ausdruck gebraucht. Hier aber habe ich, obwohl der Kritiker in einem manches grotesk und manches anachronistisch findet, selber so unbändig, so von Herzen lachen müssen, daß ich auf einmal - zum ersten Mal in meinem Leben - wahrhaftig nicht mehr sehen konnte, sondern mir zuerst das Wasser aus den Augen wischen mußte.

"Die Schlacht von Bademünde" ist eine solenne Keilerei zwischen Soldaten und Matrosen (Fritz Schulz, Paul Heidemann, Heinrich Speelmanns u.a.), die der Ortsdiener des nun eingeweihten Bades (Max Adalbert) mit der Feuerspritze zu trennen versucht; der Schlußakt ist ein Versöhnungs-Bordfest auf einem Linienschiff.

Mit einer Situationskomik, wie sie selbst zu Zeiten des seligen Gustav v.Moser selten war, setzt das Spiel in der Infanteriekaserne ein und setzt sich vor dem Brunnen und im Gemeinderat und in den Strandkörben fort, in denen die blauen Jungen bei den Mädels die "Fünfundachtziger" verdrängen wollen und hier wie auch nachher bei der Wahl der Schönheitskönigin von Bademünde zunächst vollen Erfolg haben. Daß dabei ein Maat seine Rolle nur mit Obermatrosenwinkel am Arm spielt, dem Kommandanten die Bordjacke offenbar nicht nach Maß gemacht ist, die Kleinstadtmädchen von Bademünde - dem Bademünde von, sagen wir, 1912 - als kurzgeschürzte Tanzgirls, wohlgedrillt, auftreten, darüber sieht man hinweg. Das ist ja alles ungeheuer gleichgültig. Hauptsache: man erlebt einen Abend ganz harmloser, ungehemmter Freude; und das alte Heer und die alte Flotte und das alte Kleinstädtchen, von der ersten bis zur letzten Figur mit Liebe in ihrem Wesen erfaßt, halten uns ganz in ihrem Bann. "Die Schlacht von Bademünde" wird einer der Erfolge der Saison werden, wird auch dem verbittertsten Kommunisten ein beifälliges Schmunzeln abzwingen, wird bei Alt und Jung, Hoch und Gering nur Jauchzen auslösen.

Als die Kriegsschiff-Szenen in diesem Sommer in Brunshaupten gedreht werden, erklimmt als erster der darin vorkommende Oberleutnant zur See (Kurt v.Ruffin) das Fallreep der "Schleswig-Holstein". Oben an Deck empfängt ihn salutierend der wachhabende Leutnant. Es ist gerade Besuchstag. "Darf ich Ihnen bei der Gelegenheit gleich meine Braut vorstellen?", fragt der Leutnant den anscheinenden Kameraden. Der lacht und sagt: "Ich bin ja nur ein Filmschauspieler, von der Ufa!" Tableau, pflegte man früher bei so etwas zu sagen.

Überhaupt ist Brunshaupten außer Rand und Band.

In dem Hotel, vor dem die Ufa mit Tonwagen, Lichtmaschinen, Personal erscheint, die hellste Aufregung. Jeder Kellner, jedes Stubenmädchen behauptet plötzlich, für das Filmen talentiert zu sein, und bittet um Einstellung, vergißt ganz den eigenen Beruf. Auch die Badegäste, namentlich die weiblichen, rücken in allen möglichen und auch unmöglichen Kostümen, oft unglaublich geschminkt, den Aufnahmeleitern auf die Bude, um sich anzubieten. Alle wirken nachher auch brav als "Publikum" mit, nur für die wirklichen Spielrollen hat natürlich die Ufa die eigenen Darsteller und Statisten. Soweit die Flotte als Schauplatz in Betracht kommt, soweit es sich um Stellung von Barkassen, um Bootsmannsmaaten-Pfeife pfeifen und dergleichen handelt, nimmt Admiral Oldekop sich mit rührendem Eifer der Ufa-Wünsche an. In weniger als zwei Monaten, einer bemerkenswert kurzen Zeit, ist der Film fertig.

Soweit man aber das Meer nicht braucht, wird alles in den Babelsberger Ateliers gedreht. Die komische Alte, Adele Sandrock, die in der "Schlacht von Bademünde" bei der Einweihung des Brunnens als Präsidentin des "Vereins aufrechter Jungfrauen" zu wirken hat, soll mit ihrer Gruppe auftreten. Da meldet einer der Aufnahmeleiter, es fehle noch eine der Jungfrauen mit Lilienstengel, worauf Adele trocken bemerkt:

"Wenn wir hier in Babelsberg auf eine Jungfrau warten wollen, wird der Film wohl nie fertig werden!"

Jessas, Jessas, das ist schwer, wo nimmt man denn gleich Jungfrau'n her, heißt es in einer alten Operette, die vor zwanzig, dreißig Jahren viel aufgeführt wurde. Um just sie, die Jungfrauen, zu suchen, wird man in Berlin nicht gerade ins Residenz-Kasino, ins "Resi" in der Blumenstraße, gehen, obwohl sie auch da unter den jüngeren Semestern hin und wieder zu finden sind. Wer dort hin pilgert, will sich harmlos amüsieren. Und zwar an einem Ort, wo einem nicht wie sonstwo die Leere des Schlachtfeldes mit dem Pleitegeier darüber entgegengrinst, sondern wo es immer, auch heute noch, pfropfenvoll ist. Im "Resi", dessen technisch erfindungsreicher, von der Femina und anderen mondäneren Lokalen oft kopierter, nie erreichter Besitzer gerade 50 Jahre alt und schon längst schuldenfrei und "gesund" geworden ist, ist immer Hochbetrieb. Das Publikum: meist kleiner Mittelstand aus dem Osten, aber immer mit Einschiebseln Neugieriger und Amüsementsbedürftiger aus "besseren" Stadtgegenden. Seit Jahr und Tag bin ich nicht mehr da gewesen. Wir sitzen gerade zu Hause, vier Damen, vier Herren: außer uns beiden - der Hausfrau und dem Hausherrn - noch Sennora Maria kurz vor ihrer Heimreise nach Spanien und der Konsul, dazu zwei ganz junge Frauen mit ihren Männern, dem Architekten und dem Diplomingenieur, und die erklären unisono:

"Kennen wir ja noch garnicht, das Resi, da müssen wir nach dem Abendbrot hin!"

Gut, gemacht. Nur kratze ich mir den Kopf. Da geht man doch nicht familienweise hin! Was tun? Also ganz einfach, wir Herren bestellen telefonisch einen Tisch für uns, einen weit entfernten für unsere Damen. Sehe jeder zu, wo er bleibe. Sehe jeder zu, was er treibe.

Die sprühende junge Frau Greta hat es am schnellsten erfaßt.

Klick, klack, die Rohrpoströllchen knallen schon in unser Netz. Mit fremder Handschrift bittet eine Schöne von Tisch 32 - unsere Damen haben aber 25 - um den Besuch eines von uns. "Ob er wohl anbeißt?", denkt Frau Greta. Klick, klack, nun regnet es auch echte Anknüpfungsversuche. Aber nur einer, der Architekt, tanzt einmal mit einer Fremden. Wir anderen sind - zu schüchtern; wegen der Aufsicht von Tisch 25.

Unsere Damen von dort "verkohlen" - wenigstens tun es die beiden jungen - auch fremde Herren und erwarten eine geistvolle Korrespondenz. Aber die Angepusteten oder Angerufenen erweisen sich samt und sonders als Ritter Doof v.Dummsdorf. Es kommt nichts harmlos beschwingtes zustande, nur einer naht sich, streicht der zweiten jungen Frau wohlgefällig übers Haar und sagt auf ihre Bemerkung "Ich bin doch kein Papagei, Sie brauchen mir doch den Kopf nicht zu kraulen!" wohlgefällig: "Na, denn machen se es bei mir!", womit das Abenteuer schnell abgebrochen wird. Nun drängen die Damen schon nach Hause.

"Ach, wie schade!", sagen zwei kleine Mädchen am Pfosten vor unserer Estrade, die uns vier Herren abziehen sehen. Sie hatten schon auf ein Glas Wein, auf Zigaretten, auf ein paar Mark Plaudergeld gehofft. Ich schenke schnell noch jeder ein Zweimarkstück. Die eine streift ihren Tanzschuh ab und legt das Geldstück hinein. Ich wundere mich. "Ach," sagt sie, "das gibt so eine Sicherheit beim Auftreten!" Die andere streift ihren Rock hoch, holt aus dem Schlüpfer ihr Puderdöschen und steckt es, um zwei Mark bereichert, wieder an die alte Stelle.

Tags darauf bin ich wieder da, aber allein. Ich treffe eine ehrsame Wäschedirektrice mit zwei jungfräulich-verschämten Putthühnchen, die bei ihr Lehrmädchen sind, vergnüge mich stundenlang und heimse eine Menge Kenntnisse aus der Wäschebranche ein; über etwas anderes können die drei sich nicht recht unterhalten.

Aber dann erst die Schuhbranche!

Sie kennen nämlich Herrn Körnchen in der Senefelderstraße in Berlin N, der nicht nur Flickschuster ist, nicht nur "Maßschuhkünstler" sich nennt, sondern in der ganzen Gegend auch - als Dichter bekannt ist. Ganz so wie einst der berühmte Kollege Hans Sachs in Nürnberg. Auf Berliner Originale bin ich scharf. Also am nächsten Tage hin. Noch summen mir die Schlagermelodien aus dem "Resi" im Ohre, noch trällert es: "Dein Hemdchen ist aus Crêpe de Chine, Dein Herz, das ist aus Stein!" Und schon lese ich im Schaufenster die Knüppelverse, die so ganz hans-sachsisch klingen: "Wenn ich zu Meister Körnchen geh' - Hört auf zu schmerzen mein kleiner Zeh" und "Meide die Pfuscher und meide den Schund, - dann bleiben Füße, Schuhe und Geldbeutel gesund." Nun trete ich ein, bin auf allerhand absonderlich-komisches gefaßt, werde aber ganz still, denn von der Wand grüßt ein wirklich schöner Spruch aus Körnchens Kopf und Herzen:

Ein Mensch, der fromm ist, ist noch lange nicht gut,
Aber ein Mensch, der gut ist, ist fromm.

24.12.24                                                Körnchen

Nun strecke ich dem Meister die Hand hin, nun wird er redselig. Er hat wirklich ein Bändchen Gedichte verfaßt, das er jetzt, in Maschinenschrift vervielfältigt und mit Zeichnungen verziert, im Selbstverlag (also im Buchhandel sonst nicht zu haben) zum Preise von 1 Mark herausbringt. Die 1000 Stück haben 390 Mark gekostet; so erhofft er denn 610 Mark Gewinn. Zu gönnen wäre ihm der Erfolg, denn es ist diesem Meister Knieriem manchmal dreckig genug ergangen. Dabei ist er wirklich ein Meister in seinem Fach; ein Paar Damentanzschuhe, aus feinstem schwarzen Chevreauxleder, jeder Schuh nur 135 Gramm schwer und trotz des Federgewichts haltbar, von guter Paßform, elegant, will er jetzt dem Kunstgewerbemuseum stiften.

Die Gedichte sind natürlich oft äußerst holprig; einzelne wenige, so "Der Weltbürger", aber überraschend schön. In die Literaturgeschichte wird Herr Körnchen nicht kommen. Aber ich habe ihm die verpechte Hand doch mit inniger Freuide geschüttelt.
10. September 1931 (Donnerstag)


3

Rumba - Wackelt man wieder? - Nachtjacke und Pleureuse - Schlager - Kauft in Deutschland! - Ullstein baut ab? - Ein Herrenessen.

Rumba, Rumba, Rumba!

Sag' es schnell ein paar Mal. Es ist kein Buchstabenwort für "Räder- und Motoren-Bau-Ausstellung" oder etwas dergleichen, sondern die Bezeichnung für einen neuen Tanz. In jedem Herbst muß einer kommen, auch wenn er so schnell wieder verschwindet wie der Deta. Das kann man von den Tanzschulen doch verlangen. Und wenn man Rumba ein paar Mal ganz schnell hintereinander spricht, sieht man im Geiste die grinsenden Nigger, die mit den Händen trommeln.

Ist es wieder so weit? Ist die Welt wieder charlestonreif wie während und unmittelbar nach der Inflation?

Die Zeit ist ähnlich, der Tanz könnte ihr Ausdruck sein. Es juckt, man zuckt. Das will ich mal feststellen. Sowieso muß doch heute jeder Großstadtmensch zwischen 17 und 70 Jahren einmal im Jahre die Grammatik der Beine repetieren. Ich gehe in eine bekannte große Tanzschule in der Augsburger Straße und lasse mir von der Tochter des Hauses den Rumba zeigen.

Die junge Dame ist Studentin der Medizin gewesen, aber da winkt ihr bestenfalls Hungerbrot. Den Arzt bezahlt nur ein sehr kleiner Teil der Menschheit, tanzen lernen will jedermann, - also? Also lehrt Annaliese Kleinschmidt jetzt als Kompagnon des Vaters tanzen. Einstweilen sehe ich nur zu. Halt, das da: diese zwei Schritte mit nur einem Fuß, das ist eine Erinnerung an den Charleston. Aber es wird doch nicht mehr so geschlenkert, nicht ganz so, und im Gebrauch wird der Rumba, der ein "Foxtrott in kubanischem Rhythmus" sein soll, noch gesitteter und farbloser werden. Er hat zwölf Figuren, darunter einen nicht ganz leichten Kreuzschritt. Aber vor allem, es wird wieder - gewackelt! In der Beschreibung, herausgegeben vom Berliner Tanzlehrer Reinhold Sommer, heißt es:

"Eine kleine seitlich betonte, kokett schwingende Hüftbewegung auf 1, 2, 3, 4 gibt der tänzerischen Bewegung einen prickelnden Reiz."

Ja, ja, es juckt wieder.

Nicht etwa nur die Leute, die "nichts besseres zu tun haben", die vergnügungssüchtigen Berliner Westler. Es ist überall dasselbe. Ich habe mir alle Berliner Tanzschulen, deren Adressen ich habhaft werden konnte, es sind 120, notiert. Es ergibt sich, daß 52 von ihnen in den guten Wohngegenden des Westens florieren, 24 in der kleinbürgerlichen Mitte der Stadt, 44 in ausgesprochenen Arbeitervierteln. Überall kommt also wieder das Wackeln auf. Die Ästhetik verhüllt ihr Haupt.

Aber alles nimmt einmal ein Ende, alles kehrt einmal wieder. In einem Tanzbrevier von 1919 lese ich:

"Friede seiner Asche; der Walzer ist tot, mausetot!"

Wer lacht da? Der Walzer ist heute lebendiger denn je. Nur läßt heute sich nichts mehr dekretieren, weder durch die Polizei noch durch die Tanzschulen, sondern die Demokratie entscheidet. Immer ist der Tanz daher ein wenig auch Ausdruck des Zeitgeistes. Früher wurde der Tanz nur in geschlossenen Vereinen revolutioniert, heute in der Öffentlichkeit. Vor dem Kriege, 1913, erstand in Berlin der erste Tangoklub, der für seine etwas exzentrischen Vorführungen Publikum auf der Galerie zuließ. Und ungefähr um dieselbe Zeit ging einem Verein in Dresden nachstehende Verfügung zu:

"Bei der Königlichen Polizeidirektion sind in letzter Zeit mehrfach Klagen über den Bärentanz oder Abarten desselben geführt worden. Es sind nämlich bei diesem Tanze nicht nur die dabei üblichen plumpen und humpelnden Bewegungen ausgeführt worden, sondern vor allem hat die Tänzerin dabei häufig die Beine seitwärts so abgespreizt, daß man die Unterkleider, Strümpfe usw. sah, oder sie hat beim Beugen des einen Beins nach vorwärts das andere Bein so weit rückwärts am Boden entlang gestreckt, daß sich der Kleiderrock hochhob und nicht nur der mit dem Strumpf bekleidete Unterschenkel, sondern sogar ein Stück des nackten Oberschenkels sichtbar wurde. Derartige Auswüchse eines Tanzes kann die Königliche Polizeidirektion nicht dulden. Der Vereinsvorstand wird ersucht, bei seinen Mitgliedern streng darauf hinzuwirken."

Seither haben wir ja lange Jahre erlebt, wo kein Kleiderrock sich am Unterschenkel hochheben konnte, weil er überhaupt erst oberhalb des Knies begann. Aber, wie gesagt, alles kehrt einmal wieder. Schon haben wir das lange Kleid, schon werden für den Winter die Unterkleider von 1913 angekündigt, nämlich das knisternde, raschelnde, rauschende Froufrou, und, leider: auch die Panzerkorsetts melden sich.

Wie übrigens auch die Nachtjacke. Schrecklich, schrecklich. Nur sagt man heute Bettjacke.

Fehlen bloß die Papilloten, diese Fidibusse aus Zeitungspapier, die unsere Großmütter sich zur Nacht als Haarwickel einflochten. Besinnungslos macht unsere Damenwelt alles mit, gibt sie alles wieder auf, was ihr als Errungenschaft neuer Freiheit in den letzten Jahren galt.

Je schwerer das Leben wird, desto wichtiger nimmt man die Nichtigkeiten. Alles wird zum kategorischen Imperativ. Jeder einmal in Berlin! Und: Jeder Frau ihre Pleureuse! Die Pleureuse (wörtlich übersetzt: Trauerbinde) aus Straußfedern, lange Jahre vor dem Kriege einst modern, gilt heute wieder als letzter Schrei der Damenhutmode, hat die "Locke" am Fiffi-Hütchen schon verdrängt. Es gibt zur Zeit garnicht so viele Straußfedern, um der Nachfrage zu genügen; es sei denn, daß man, wie wir, noch eine Federboa der verstorbenen Großmutter besitzt, die für sechs Hütchen ausreicht. Was tut man da? Heute, wo man für eine Gästerei das ganze Geschirr und dazu den vierzehnten Tischherrn sich leihen kann, gibt es natürlich auch schon Pleureusen auf Pump. Für eine Mark pro Tag läßt Frau Meyer heute eine schwarze, morgen eine gelbe, übermorgen eine weiße Pleureuse baumeln; Frau Müller platzt vor Neid.

Tirili, tirila. Dazu summen einem die Schlager im Kopf. "Mir ist so blond zu Mut, mit steht blond so gut!", sagt der schwarze Generaldirektor, wenn er seine platinblonde - bitte: goldblond und weizenblond und rotblond sind überlebt - Sekretärin mal ausführt. Und sie flötet: "Doch weiß niemand, wenn eine Frau gut küßt, ob Geben seliger denn Nehmen ist!" Solche Texte kennt jedermann, weil sie von den Refrainsängern der Tanzdielen einem eingepaukt werden; jedenfalls kennt man sie besser - so leichtsinnig ist unser Volk - als auch nur die wichtigsten Bestimmungen der Friedens- und sonstigen Verträge, die uns ins Elend stoßen.

Ich weiß nicht, so ganz unmusikalisch bin ich doch nicht, aber mir scheint es, daß alle Schlager untereinander wesentliche Teile ihrer Melodie austauschen; der eine klingt fast wie der andere. Einer unserer industriösesten Komponisten, Paul Abraham, dessen "Blume von Hawaii" als Operette im Metropoltheater viele volle Häuser gemacht hat, erfindet auch immer Weisen, die einem fabelhaft bekannt vorkommen. Was übrigens auch von Herbert R. Heymann gilt, der für den Ufaton viel arbeitet, bis er wegen Plagiierens mehrere Prozesse auf den Hals bekam. Motto: Prüfet alles und behaltet das beste. So behielt Paul Abraham den in weit über 100 000 Exemplaren einst verbreiteten Schlager "Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier", der dann den Nachforschern sich als bekanntes Marschlied ungarischer Truppen von 1914 herausstellte.

Das ist das Berlin von 1931.

Man ist dabei härtestes Schicksal gewohnt. Wer noch Arbeit hat, der arbeitet eisern, und was produziert wird, das ist gut. In unseren Schaufenstern steht Ware, wie man sie besser in keinem Lande findet. Eine Deutschbrasilianerin, seit Jahren wieder zum ersten Mal für einige Monate in Europa, will sich neu ausstaffieren und dazu nach Paris fahren. Schreibt ihr eine dortige Freundin:

"Tu's nicht! Tu's nicht! Kauf' alles in Berlin! Selbst im verelendeten Deutschland ist alles noch besser, schicker, billiger als in dem verlogenen Paris! Hier ist nur Pofel, nur Dreck! Nicht eine einzige Reichsmark hierher!"

Recht so. Wenn nur alle Deutsche so dächten . . .

Ein bißchen Trost, wenn nicht gar Schadenfreude, kommt aus der Erkenntnis, daß es jetzt sogar bei den Leuten kriselt, die die Hauptschuld an unserer Verelendung tragen.

Ullsteinblätter hatten kürzlich hämisch bemerkt, daß der "Hugenberg-Konzern" - so etwas gibt es übrigens garnicht - bei der Danatbank stark in der Kreide stehe, obwohl es sich da auch nur um den üblichen Kreditverkehr in bescheidenen Grenzen handelt, wie ihn jedes Großunternehmen pflegt. Wie steht es denn mit den Steinewerfern im Glashause? Die Ullstein-Aktiengesellschaft hat nach der Bilanz vom 27. Juni 1931 nicht weniger als 9½ Millionen Hypotheken- und 17½ Millionen Bankschulden! Die Bülowbände waren geschäftlich eine schwere Enttäuschung. Die Herausgabe des auf 18 Bände berechneten Ullstein-Konversationslexikons, dessen erster bereits druckfertig war, wird eingestellt. Ein Großunternehmen der öffentlichen Meinung ist von dieser abhängig. Es scheint doch, daß da eine Umwälzung im Anzuge ist, daß die Asphaltdemokratie Leser und Gläubige einbüßt. Das wäre das erste, glückverheißende Anzeichen für die beginnende Genesung unseres Volkes.

Über diese und andere Dinge spricht man jetzt, wo die Saison der Herrenessen auch in politischen Kreisen wieder einsetzt. Die Politik ist unter der Diktatur der Notverordnungen zum Schweigen verurteilt, die Parlamente tagen nicht, aber umso mehr zerfrißt in geschlossenen Räumen die Kritik das System.

Auch kaum ein Beamter mehr, um von Landwirten, Kaufleuten, Gewerbetreibenden nicht erst zu reden, wird das nächste Mal noch einen Mann der Regierungsparteien wählen.

Gestern Herrenabend bei einem Parlamentarier der Rechten in der Stülerstraße am Tiergarten. Es wird nicht gerade nur von Politik gesprochen, solange die blühende Gattin des Gastgebers noch präsidiert, auch später nicht ausschließlich. Herr v.Oldenburg ist als unübertrefflicher Geschichtenerzähler wieder in großer Form. Selbst der ernste und sehr wenig auf Humor eingestellte Reichsbankpräsident a.D. Schacht wird ganz warm. Unter den zweieinhalb Dutzend Erschienenen befindet sich auch der kluge und joviale Prinz Oskar von Preußen.

Da stecke ich den Trauring schnell von der rechten auf die linke Hand, denn den prinzlichen Händedruck spürt man sonst stundenlang. Als dieser baumstarke junge Hohenzoller noch Kommandeur der Königinkürassiere war, kam es vor, daß Kasinobesucher, die auf so viel stramme Herzlichkeit nicht gefaßt waren, beim Händedruck zusammenknickten und in die Knie brachen.
17. September 1931 (Donnerstag)



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Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts