"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 31 - 33
1. bis 16. April 1931


31

Lehrerqual - Die gekürzten Zensuren - Bankett der Durchgefallenen - Der See-Elefant - Auf Osterurlaub - Die "Schwarzweißen" - Chaplin - Henny Portens Jubiläum.

Die junge Lehrerin, die vor der Berliner Fachklasse steht, gibt sich redlich Mühe. Ihre Lehrproben sind wegen ihrer Frische berühmt. Aber die Klasse will nicht, die Klasse lauert auf Krach. Da, das Signal: ein demonstrativ lautes Gähnen aus dem Hintergrund - uuuaah - und eine Stimme:

"O Jotte, is det wieder langweilig! Frollein, Ihn' is woll nich janz wohl?"

Dann beginnt, zuerst mit leisem Summen, später deutlicher und schließlich überdeutlich mit Heraushacken der Pointen, unerbetener Gesang. Es sind üble, sehr üble Gassenlieder, deren Inhalt sich nicht wiedergeben läßt. Die Lehrerin untersagt die Unanständigkeit, es wird ihr aber dreist erwidert, man mache, was man wolle, sie solle gefälligst ruhig sein.

Ein anderes Bild. Knabenklasse der Neunjährigen in einer Volksschule. Ein Kandidat hospitiert und wundert sich über die Geduld des müden, abgespannten, zerquälten Lehrers, dem einer der Jungen sichtlich frechen passiven Widerstand leistet. Einmal kann sich der Kandidat, der hinter dem Lehrer steht, nicht enthalten und droht dem kleinen Rabiaten mit dem Finger. Da springt der aus der Bank, pflanzt sich mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Kandidaten auf und sagt:

"Na, na, na, na, na?"

Oder bei den ganz großen Mädchen, die gerade Zeichenstunde haben, aber keine Anstalten machen, etwas zu tun, fragt die Lehrerin sanft: "Wollt ihr nicht mehr zeichnen?" und erhält die Antwort:

"Nee, wir streiken; for ne lumpije 3 in der Zensur hamwa schon viel zu ville jedahn!"

Diese Geschichten, nicht erfunden, sondern wörtlich nach dem Leben, lassen sich vertausendfachen, so daß man ahnt, was für ein Martyrium der Lehrerberuf sein kann, wenn er einen unter die Jugend einer "aufgeklärten" Großstadt geführt hat, wo jedes Kind weiß, daß der Genosse Kultusminister diese Lehrerbourgeois schon zahm machen wird. Auf elterliche Nachhilfe mit dem Stock, der dem Lehrer bei Strafe der Dienstentlassung verboten ist, kann man heute auch nicht mehr rechnen, sondern eher noch mit Verhetzung. Außerdem hat der Kultusminister soeben für ganz Preußen verboten, daß oben über dem Urteil über die Leistungen in den einzelnen Fächern noch die bisher üblichen Allgemeinzensuren über Betragen, Aufmerksamkeit, Fleiß erteilt werden. So etwas braucht sich ein klassenbewußter Dreikäsehoch nicht mehr gefallen zu lassen. In diesen Tagen habe ich so hübsche Bildchen - Unterschrift: "Die erste Zensur" - in den Zeitungen gesehen. Auf dem Wege zur Curtius-Rede im Reichsrat, etwas gedankenverloren, erblicke ich auch richtig einen kleinen Blondkopf, der dieses Aktenstück studiert, streiche ihm im Vorbeigehen übers Haar und sage: "Na, Fleiß sehr gut, was?", worauf der Knirps mich von unten nach oben mustert und nur verächtlich sagt:

"Doofkopp! Jibt's ja nich mehr!"

Das ist die neue, die herrliche Zeit der Freiheit, deren erzieherische Ergebnisse schließlich mit Schlagring und Messer und Revolver sich dokumentieren, woraufhin der Staat sich wiederum genötigt sieht, durch eine Verordnung die Versammlungs-, Rede- und Preßfreiheit der Erwachsenen einzuschränken.

Aber diese Zeit ist doch, nicht wahr, so herrlich, daß man ihre Pädagogik feiern muß, und eine solche Feier - für alle durchgefallenen, sitzengebliebenen Schüler, die nebst Eltern freien Eintritt zu dem Unterhaltungsnachmittag mit Kaffee und Kuchen haben, lädt ein Mosseblatt in einen der größten Säle der Reichshauptstadt ein. Natürlich ist das nur geschäftliche Reklame, die man ja auch sonst eifrig betreibt. Da die Republik, was ein gesinnungsverwandtes Ullsteinblatt schon häufig im Leitartikel bedauert hat, keine Ordensritter haben will, ernennt man also "Ritter vom Steuer" ihres Autos oder verleiht den "Stern der Gastlichkeit" an Oberkellner und Piccolo oder läßt jedes Ladenfräulein durch ihre Freunde für das "Blaue Band der Höflichkeit" vorschlagen. Solange nicht gerade jene jungen Damen, die jahraus jahrein täglich die bezahlte Anzeige in diesem Boulevardblatt erlassen, daß sie "Spanischen Unterricht" suchen, zum Ehrendoktor eingegeben werden, läßt sich gegen den Reklamefeldzug gar nichts sagen. Geschäft ist Geschäft. Wer da auf die besten Einfälle kommt, der hat Erfolg, und das Mosseblatt hat gegenüber der immer stärkeren Konkurrenz der Scherlschen "Nachtausgabe" die Erfolge bitter nötig. Ob es aber geschmackvoll ist, die Kinder einzubeziehen und ausgerechnet die Durchgefallenen zu den Helden eines Schlagsahne-Nachmittags zu machen, ist freilich eine andere Frage. Jedenfalls ist es bezeichnend für den Zeitgeist und seine Pflege des Untermenschentums nun schon von Kind auf. Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind wir in der neuen, der herrlichen Zeit so weit, jede Belobigung oder Prämiierung wirklich fleißiger Schüler für einen Mißbrauch, für einen Rückfall in mittelalterliche Pädagogik zu erklären.

Es gibt aber noch ganz altmodische Eltern. Solche, die ihren Kindern sagen: "Bringt ihr eine gute Zensur, dann gehen wir am nächsten Sonntag in den Zoo!"   "Au fein", sagen da die Kinder, "das ist edelknorke!" Sie finden das ganz natürlich: die Eltern freuen sich eben und zeigen das; es ist doch nett, wenn man die Eltern froh macht und sie einen wieder.

Der Zoo wartet prompt zu Frühjahrsbeginn mit etwas Neuem auf. Für seine Robben aller Art hat er in Hagenbeck-Manier ein gitterloses großes Freigelände mit mächtigen Felsen und Wasserbecken gebaut. Wenn eine ganze Herde von Seelöwen, deren Intelligenz und Gewandtheit wir vom Zirkus her kennen, sich da tummelt, die Felsen emporwatschelt, emporhoppelt und sich dann kopfüber hinunter ins Wasser stürzt, oder wenn die Seehunde im Wasser Männchen machen und aus treuen Gelehrtenaugen die Besucher ansehen, ist es schon eine Lust, aber das erstaunlichste und bewundertste ist doch der See-Elefant aus der Antarktis, der seine Riesenleibesmassen - er wiegt 41½ Zentner - auf dem Felsen sonnt und seine Riesennase, wir nennen ihn deshalb Herr Kutisker, beim gelegentlichen Atemausstoßen aufplustert.

Man denkt, solch ein Koloß könne sich kaum bewegen, höchstens wälzen, denn er hat ja, obwohl er ein Säugetier mit einem Maul wie ein Nilpferd ist, keine Beine, sondern nur zwei Stummelflossen vorn und ein Schwanzsteuer hinten. Aber da kommt der Fütterer mit einem großen Eimer voll Fischen. Schwupp! Auf einmal hat der See-Elefant, mit peitschenartigem Ruck, sich aufgerichtet, den Bug haushoch wie ein Wikingschiff gegen uns, das Heck ebenso aufgetürmt, - Muskeln hat der Kerl, Muskeln, einfach fabelhaft, und das Rückgrat könnte er, so elastisch ist es, zu einem Ringe krümmen wie eine Kautschuktänzerin. Das ist wirklich noch ein Tier aus gigantischer Urzeit. Mit offenen Mäulern steht und starrt Groß und Klein.

Meist liegt der Riese - nur im Wasser schwimmt er sehr flink, denn er muß ja schneller sein als seine Fischbeute - faul wie Fafner da, als wollte er mit diesem sagen: "Ich lieg' und besitze - laßt mich schlafen!" Aber das ist nicht echte Trägheit, sondern Melancholie, zur Zeit auch von großer Freßunlust begleitet, denn für diese Tiere ist gerade Brunftzeit, und dem See-Elefanten fehlt das Weibchen.

Wie alt das Tier ist, weiß man nicht. Es kann noch viel wachsen, es wird bis zu 100 Zentnern schwer, aber jedenfalls ist es schon im heiratsfähigen Alter. Der arme Kerl, hier kann er nicht auf die Freite gehen. Dabei sieht er den ganzen Tag ungezählte Menschenpärchen. Von der Krokuswiese im Zoo kommen sie her. Wenn ein Jüngling und sein Mädel den Frühling ahnen wollen, hier ist er in Berlin immer zuerst.

Noch früher, nur nicht in natura, ist er freilich in den Schaufenstern. Viele lockt er vergeblich, denn wer noch etwas Geld in der großstädtischen Asphaltwüste hat, der verreist es lieber, auch wenn nur wenige Feiertage winken. Der Drang ins Freie wird für alle, die sich einen Ausflug noch leisten können, deren Zahl aber allerdings abnimmt, von Jahr zu Jahr stärker. Auch diesmal sind die Ferienzüge, wenn man sie so nennen darf, überfüllt. Auch fast alle unsere Minister haben sich, die freilich meist auf mehrere Wochen, geflüchtet. Nur der alte Groener genießt sein junges Eheglück weiter in Berlin und vertritt derweil den Kanzler. Stegerwald verreist auch nicht, und zwar, wie er sagt, aus Sparsamkeitsgründen; das klingt nett und echt, denn dieser gute christkatholische Familienvater hat nicht weniger als neun Kinder.

Wer daheim bleibt, auch keinen Tagesausflug etwa im Paddelboot vorhat, der schaut sich die Theater- und Kinoanzeigen an. Wo geht man hin? Der Berliner ist es längst gewohnt, nicht nach dem Stück zu sehen, denn das ist doch meist schlecht oder gar ekelhaft, sondern nach den Stars, die darin auftreten.

Wir sind der guten Kost so entwöhnt, daß sie uns, wenn sie uns einmal geboten wird, nicht einmal bekommt. Als Stinnes noch lebte und verdiente, hatte er den Plan, den Berlinern ein wirklich deutsches, nationales Theater zu gründen, was vielleicht seine größte Tat gewesen wäre. Es hat nicht sollen sein. Was ein Einzelner, Gewaltiger, ein Finanzkönig mit einem Schlage hätte hinsetzen können, darum bemüht sich jetzt in langer Arbeit mit kleinen Scherflein ein Verein, die Deutsche Nationalbühne. Sie nennt sich das Theater der Totgeschwiegenen. Sie mietet gelegentlich für einen Nachmittag oder einen Abend ein Theater und führt Stücke von solchen Autoren auf, die, weil sie grunddeutsch sind, heute sonst keine Stätte mehr finden. Aber es fehlt natürlich das Ensemble einer ständigen Truppe, und so kommen keine verblüffenden, sondern nur achtenswerte Leistungen zutage. Immerhin: was da dieser Tage durch die Aufführung der "Schwarzweißen" des oberschlesischen Dichters Robert Curpiun geboten wurde, das war doch mehr, war, wie man zu sagen pflegt, gutes Stadttheater. Nur unsere Kritiker haben nicht mehr die rechten Aufnahmeorgane dafür, wie wir immer wieder feststellen müssen. "Die Schwarzweißen", das sind die gutpreußisch Gesinnten, die Pflichtmenschen aus der Beamtenwelt in einem Städtchen der Ostmark, und die Gegenspieler, das sind die fanatischen Polen. Zeit: 1895. Geschrieben: 1913. Also keine Angst, es handelt sich nicht um aktuelles Zeittheater, sondern um ein Stück Kulturgeschichte, aufschlußreich, spannend, dramatisch - und stellenweise so humorvoll, daß man, wenn auch in einigem Abstand, Lessings "Minna von Barnhelm" damit vergleichen möchte. Ein stärkeres Lob vermag ich dem Verfasser nicht zu finden.

Kommen andere Zeiten, dann wird er der geborene Dichter für das Staatstheater sein, das augenblicklich so verjeßnert ist. Heute allerdings findet er noch keine Massen, sondern nur eine Gemeinde, die mit der bescheidenen Aufmachung zufrieden ist.

Ansonsten läuft Berlin in den Chaplin-Film "Lichter der Großstadt" und ist - enttäuscht. Gewiß, man lacht über den grotesken Hampelmann, man zerdrückt, wenn man ein junges Mädchen ist, auch wohl mal eine Träne über die üblichen Sentimentalitäten. Aber man findet, daß es doch immer wieder dasselbe ist, immer wieder - mit kleinen Variationen - die gleiche Walze sich abspielt. Nachgerade kennt man doch diese Figur des hinausgeschmissensten, angeecktesten, begossensten Plattfüßlers der Welt.

Nein, dann doch lieber ins Freie. Wenigstens zu dem See-Elefanten. Die "Lichter der Großstadt" scheinen übrigens Chaplins Schwanenlied zu sein, wenn man dies kühne Wort von dem stummen Häufchen Unglück gebrauchen darf. Er fühlt offenbar, daß dieses Produktionsfeld abgegrast ist. Die Mickymaus ist bisweilen noch grotesker und die gefährlichste Konkurrenz.

Auch Filmgrößen vergehen. Sind es Männer, so haben sie noch den Trost, daß ihrer im Bild und Wort gedacht wird, wenn sie 50 oder 60 Jahre geworden sind. Merkwürdig: für Damen habe ich noch nie solche Jubiläumsartikel gefunden. Ist es sehr ungalant, wenn man sagt, daß sehr bald, 1932, Henny Porten den Tag feiern kann, an dem sie vor 25 Jahren zum erstenmal filmte? Seien wir doch galant! Sagen wir: sicherlich wurde sie 1907 als entzückendes kleines Baby gefilmt.
1. April 1931 (Mittwoch)


32

Osterspaziergang - Haus am See - Rote Klikken - Wer hat sich noch nicht eingetragen ? - Die Hauslehrerin - Unsere spanische Sennora - Reißverschluß.

Es war kalter Glanz, der das diesjährige Osterfest verschönte, aber immerhin Glanz. Wenn man die Sonne sah, dachte man an polierten Stahl.

Trotzdem lockten die Feiertage wie immer ins Freie. Man feiert, wie es beim Osterspaziergang in Goethes Faust heißt, die Auferstehung des Herrn, ist aber selber auferstanden: "Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus Handwerks- und Gewerbesbanden, aus dem Druck von Giebeln und Dächern, aus der Straßen quetschender Enge." Wenigstens so ungefähr, wenigstens für das eigene Gefühl, wenn auch sonst das, was Goethe damals in der Altstadt von Frankfurt am Main sah, sich nicht ganz für das Berlin von heute sagen läßt.

Da quillt also plötzlich der Wunsch in uns empor, nach Jahren wieder einmal sich von dem Winde über weite Wasserflächen treiben zu lassen. Aber im Verein Seglerhaus am Wannsee und im Bootshafen der Seglervereinigung der Korpsstudenten und überall sonstwo ist noch alles aufgelegt, noch kein Fahrzeug zu Wasser gelassen, auch an den Mietsständen für das Sonntagspublikum bläht sich kein einladendes Linnen. Was ist aber für den Berliner die Natur, wenn er sie nicht auf dem Wasser genießen kann? Die Natur ist dann nur der Verbindungsweg zwischen dem Daheim und einem zu Trank oder Tanz aufgesuchten Ausflugslokal.

Also tröpfelt hie und da ein Mensch hinaus. Es ist nichts weniger als Massenverkehr.

Am Karfreitag nachmittag rollen die ersten Autos zum Wannsee. Auf den Riesenveranden im "Haus am See", das unvergleichlich viel schöner ist als jedes kokette Restaurant im Boulogner Gehölz von Paris oder sonst ein mit Bädekersternchen versehenes Buenretiro irgend einer europäischen Großstadt, blinzeln einige Grüppchen Tapferer über die tiefblaue Wasserfläche. Man ist stolz darauf, im Freien zu sitzen, aber man lobt innerlich den Schöpfer, der uns heißen Kaffee schenkt; und sorglich breiten die Kellner jedem Besucher eine Kamelhaardecke über die Knie.

Wo im Sommer zu Hunderten Boote aller Art von der großen Yacht bis zum winzigen Kajak wimmeln, ist heute nur ein einziger Gigvierer von Schülern zu entdecken. Aber schon vermitteln Dampfer den kärglichen Verkehr der Lufthungrigen, die mit hochgeklapptem Mantelkragen an Deck sitzen und über ihre eigene Kühnheit verwundert sind.

Zum Wandern freilich ist es herrlich. Hie und da gehen Familien fürbaß - Vater, Mutter, Kinder - und freuen sich am bloßen Ausschreiten. Man hat vielleicht etwas anderes vorgehabt. Man hat vielleicht, da es über Ostern doch immer regne, für eine billige Nachmittagsvorstellung sich Karten besorgt. Die braucht man aber nicht verfallen zu lassen. Der "Dienst am Kunden" geht in diesen knappen Zeiten schon so weit, daß der Wintergarten und andere große Vergnügungslokale vorher angezeigt haben, wenn zu Ostern schönes Wetter sei, behielten die gelösten Karten für irgend einen anderen Tag ihre Gültigkeit; man brauche sich also einen etwa im letzten Augenblick beschlossenen Ausflug nicht zu verkneifen.

Schön, da wandert man denn. Hie und da springt ein Lied auf: da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Man ist "von allem Wissensqualm entladen", man denkt einmal nicht an den Kampf ums Dasein oder an die leidige Politik. Aber plötzlich ist sie wieder da. Um die Ecke kommt Klampfenklang, man glaubt, jetzt tauchen Wandervögel auf, es sind tatsächlich auch Buben und Mädel in einer Art Pfadfindertracht, doch singen sie "ein garstig Lied, pfui, ein politisch Lied" und schwenken ein rotes Fähnlein. Es sind Jungkommunisten, eine sogenannte Klikke, von denen es allein in Berlin mehrere hundert mit je vier bis fünf Dutzend Mitgliedern gibt. Die Horde, die uns begegnet, ist etwa 30 Köpfe stark, darunter 4 "kesse" Mädchen, von denen die eine sich dreist vor uns aufpflanzt: "Hamse Zijaretten for uns?" Hinter ihr steht der Führer, Klikkenbulle genannt, und grinst. Stünden wir nicht in der belebten Straße eines dörflichen Berliner Vorortes, sondern auf menschenleerem Feldweg, so wäre eine abschlägige Antwort auf die "Bitte" des Mädchens gleichbedeutend mit einer sofortigen Keilerei.

Wir lesen zuweilen erschütternde Schilderungen über die jugendlichen Verwahrlosten in Sowjetrußland, die als Räuberbanden das Land unsicher machen. In der Umgegend von Berlin entwickelt sich ähnliches. Die Bauern in den anliegenden Kreisen Teltow und Barnim wissen ein Lied davon zu singen. Es poltert plötzlich an der Tür, draußen steht der ganze Trupp, der Klikkenbulle verlangt drohend "etwas zu essen", und wer da nichts gibt, sondern die Tür wieder zuschlägt, der mag sich hüten. Die Jungbullen überbieten sich an Roheit, denn irgendwo im Hintergrunde steht immer eine fünfzehnjährige, sechzehnjährige Klikkenkuh, die dann dem Gewalttätigsten zufällt. Es ist schon vorgekommen, daß ein Gutshof von mehreren Klikken gemeinsam, etlichen hundert Burschen, richtig erstürmt wurde; und es gibt Dörfer, die stillschweigend sich in eine ständige Tributpflicht gegenüber "ihrer" Klikke fügen. Diese Raubzüge bilden dann den Hauptgegenstand der prahlerischen Gespräche. Die Parteipresse der Kommunisten aber tut, was sie kann, um den Sinn der Gesetzlosigkeit noch aufzustacheln, wenn sie in diesen Tagen wieder beispielsweise mit sichtlichem Behagen schreibt:

"Im Proletenviertel wachsen sie auf. Hinterhöfe, Schuttabladeplätze, Baugelände, schmutzige, düstere Straßen sind ihr erster Tummelplatz. Der gleiche Haß gegen den Lehrer verbindet sie. Hausbesitzer, Gerichtsvollzieher, Schupo, Pastor und Betschwestern werden auf die Hippe genommen und mächtig verkohlt. Wer am kessesten vorgeht, wird am meisten bewundert. Die Sympathien wachsen mit der Rüpelhaftigkeit, die unbestechlich alle bürgerlichen Kulturfetzen herunterreißt. Man wagt zusammen in kleinen Trupps auch dreistere Raubzüge, "besucht" die Großhändler der Markthallen, guckt sich Eierkisten, Äpfelkörbe und Räucherwaren an oder schleicht hinter dem Rücken Erwachsener durch die Drehtür in das Warenhaus . . . Der Seglerverein am See hißte eine schwarzweißrote Fahne. Die muß herunter, sagte die Klikke und alarmierte die anderen. Eine Klikke paßte auf, eine andere sperrte ab, daß von außen keine Hilfe kam, eine holte die Fahne herunter und eine andere hielt den Verein in Schach. Stundenlang jagte das Überfallkommando den Tätern nach. Aber die Klikken kennen den Wald besser. Gegen Stahlhelmer, Nazis, Pfadfinder und alle bürgerlichen Jugendorganisationen wird ein erbitterter Kampf geführt. Als in Potsdam christliche Jugendverbände zusammenkamen, wurde aufmarschiert und die christliche Gesinnung veräppelt. Mit waschechten Berliner Ausdrücken. Einzelne Klikken sind auch politisch auf der Höhe, im Heim des Sturmvogel hängt ein Lenin-Bild an der Wand."

Da schüttelt man den Kopf, nicht wahr?

Ihr lieben Leute: mit Kopfschütteln ist es nicht getan. Auch nicht mit Händeringen oder mit Schelten auf "unerhörte" Zustände.

Habt Ihr, soweit Ihr in Preußen wohnt, Euch schon für das Volksbegehren eingetragen?

Habt ihr es nicht getan, so seid ihr mitschuldig an der Verwahrlosung unserer Jugend, an der Bolschewisierung unseres Daseins. Noch könnt Ihr Euch eintragen! Tut es sofort! Und wenn ihr nicht in Rot-Preußen wohnt, dann könnt - nein, müßt - Ihr Eurem nächsten Stahlhelm, Eurer Partei, Eurem Verbande eine Extraspende geben, damit sie im Kampfe um das Volksbegehren in Preußen verwendet wird. Auch für Sachsen, Bayern, Schwaben und die übrigen deutschen Länder wird die entscheidende Schlacht in Preußen geschlagen.

Uns helfen keine neuen Steuern und kein ausgeglichener Etat, uns helfen keine neuen Ämter und keine soziale Fürsorge, sondern wir müssen die rote Herrschaft brechen, von aller Internationale, auch der goldenen, uns befreien. Schlimmer noch als das Joch, das die Entente uns aufgelegt hat, drückt die Sklaverei im Lande selbst. Auch der letzte Rest von Selbstachtung wird uns da ausgetrieben. Man muß es in Berliner Theatern erlebt haben, wie da eine häßliche Lache aufschlägt, wenn irgend etwas Deutsches in den Dreck getreten wird. Wir sind im eigenen Lande sozusagen nur noch geduldet und müssen uns von Zugewanderten Art und Maß der Kultur diktieren lassen.

Da haust solch eine Familie im vornehmen Viertel in einer großen Villa und sucht eine Lehrerin, die drei Kinder unterrichten und das vierte, das noch nicht schulpflichtig ist, betreuen soll. Außerdem sich "ein wenig im Hause nützlich machen". Gut. Das tun heute viele. Auch damit, daß die Wäsche der Kinder - sie wechseln sie alle zwei Tage - von ihr gewaschen wird, erklärt die junge Lehrerin sich einverstanden. Und mit noch viel mehr. Nun muß sie aber auch noch die Dielen scheuern und von ½7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends gröbste Hausarbeit verrichten; sie erfährt zu spät, daß von den bisherigen Dienstmädchen eines entlassen ist und sie, neben dem Unterrichten, deren ganze Arbeit zugewiesen bekommen hat, da sie - doch froh sein müsse, überhaupt ein Unterkommen zu finden, wo es heute so viele Lehrerinnen gebe, die auch vergeblich auf Anstellung an einer Schule warteten. Und sie solle es sich nur ja nicht einfallen lassen, etwa das Klosett der Herrschaft zu benutzen. Und was sie sonst noch könne? Nach der Hausarbeit werde sie am Abend wohl noch etwas für die Familie zu schneidern haben. Und dem Hausherrn müsse sie die Fingernägel putzen und polieren.

Deutschfreundliche Ausländer begreifen es nicht, daß Deutsche sich so etwas gefallen lassen. Können wir das solchen Fremden überhaupt erzählen? Müssen wir uns nicht schämen? Stolz und königlich sitzt Frau Maria bei uns, die Sennora aus Spanien, die wir vor fünf Jahren dort unten kennengelernt haben, die junge Frau mit kohlschwarzem Gelock und Glutaugen, die jetzt für ein halbes Jahr in das bewunderte Deutschland gekommen ist. Ihr sechsjähriges Bübchen soll hier den ersten Schliff erhalten, um später in eine deutsche Schule in Spanien zu kommen. Stolz und königlich sitzt Frau Maria - ich soll nicht "gnädige Frau" zu ihr sagen - da, wenn sie bei uns ist, und freut sich über alles, was sie bewundern kann, und brennt darauf, daß sie unter meiner kundigen Führung die Ruhmeshalle im Berliner Zeughaus kennen lernt. Und ihr Junge mit ihr! Da soll heroische Geschichte zu ihm reden. Wieviel Berliner Kinder sind nie in der Ruhmeshalle gewesen? Müssen wir uns nicht schämen?

Auch ich schäme mich, allerdings aus anderem Grunde. Denn was wir Frau Maria am ersten Abend gezeigt haben, nachdem sie uns gestanden hatte, daß ihr ein Tropfen guten Rheinweins über spanischen Rotwein und französischen Champagner ginge, das war nicht gerade die preußische Ruhmeshalle, sondern der Kempinski-Betrieb am Potsdamer Platz.

Wir waren da zu viert und waren sehr fidel. Einmal saß auch ein Student bei uns mit seinem Mädel und einmal ein junger Chinese mit zwei Mädels. Manchmal waren wir auch eine große Gruppe und redeten große Töne, und einmal, ich weiß nicht wie, dirigierte ich den Radetzki-Marsch bei der Damenkapelle im Grinzinger. Immer mit ein bißchen schwer zu betäubender Scham im Herzen, denn was sollte Frau Maria, die hochgebildete Tochter eines reichen Bergwerksbesitzers in Südspanien, von diesem Amüsierbetrieb des Berliner kleinen Mittelstandes sich eigentlich denken! Aber sie fand alles herrlich, denn es sei so erfindungsreich und so monumental hingesetzt, wie sie auch nur annähernd ähnliches weder in Paris noch in Brüssel noch in London gesehen habe.

In der spanischen Bodega hier oben bei Kempinski wird zwar, welche Enttäuschung, nicht spanisch, sondern neuköllnsch gesprochen, im Löwenbräu nicht oberbayrisch, sondern auch neuköllnsch, aber spanischen Tango, Wiener Walzer, amerikanischen Foxtrott hört man überall, und Frau Maria, die in dem für Damen sehr empfehlenswerten Alter von noch nicht dreißig Jahren steht, läßt sich im Palmensaal gern einmal herumwirbeln, obwohl sie von einem stundenlangen Besuch bei Wertheim noch totmüde ist. Die Lustigkeit der Leute tut ihr wohl, weil sie nicht wünscht, daß Deutsche Veranlassung zu Kummer haben; sie findet, die Leute seien auch so sprühend und so angeregt, aber sie weiß natürlich nicht, wie philiströs das alles ist. Ihre fremdländische Erscheinung erweckt Wohlgefallen, ihre Zurückhaltung findet durchaus Begreifen. Sie kann sich auf Deutsch gut verständlich machen, aber zum Glück nicht alles verstehen, weil die Deutschen "so schnell sprechen".

Am Nebentisch im Grinzinger unterhält man sich über ihre prachtvollen Zähne.

"Da kannst du dich mit deine falschen Zähne jejen die ihre verstecken!", sagt ein junger Mann zu seiner strohblonden etwas älteren Gefährtin, während sie sich mit den Köpfen aneinanderlehnen und gemeinsam uns anstarren, die Strohblonde aber antwortet geruhig: "Laß man, meine neuen Zähne ham sich injewöhnt, die jehören jetzt schon zur Famillje!"

Und dann kritisieren die beiden Frau Marias Beauty-Täschchen (sie ist übrigens eine Spanierin, die vornehm genug ist, um keinen Lippenstift zu gebrauchen) mit dem Reißverschluß. Richtig, Reißverschluß, Ich habe noch keinen Menschen gefunden, der mir das Wesen dieser Erfindung hätte erklären können. Ich spiele damit herum, kriege es aber nicht heraus. Nun habe ich heute im neuen großen Meyer nachgesehen: "Reißverschluß" steht nicht darin. Da habe ich, bedrückt durch meine technische Unbildung, eine junge Dame darnach gefragt, die es eigentlich wissen müßte. Sie sagt lachend:

"Ich weiß nur, daß es ein amerikanisches Patent ist, und daß man den Reißverschluß, wenn er an Badeanzügen für Damen angebracht ist, auch Reizverschluß nennt."
9. April 1931 (Donnerstag)


33

Häuser haben ihre Schicksale - Brand im Blücher-Palais - Verwahrlosung und Pietät - Gottlosen-Schnadahüpferl - Das Kaiserzimmer - Die vier Schriftführerinnen des Reichstags.

Die alten Geschlechter hatten in der ehedem kleinstädtisch-behaglichen Residenz Berlin vielfach ihr vornehmes Winterquartier, ihre eigenen Häuser, in denen den Sommer über die Kronleuchter zum Schutze gegen den Fliegenschmutz eine Gazeumhüllung trugen und die Sessel einen mit Mottenpulver bestreuten Leinenbezug. Kurz nach Weihnachten zogen die Familien dann in ächzenden Kutschen nach Berlin um und stellten im Januar bei Hofe ihre inzwischen herangewachsenen Töchter vor, trafen sich mit den Großen des Landes und tauschten lebendige Zeitung aus. Wer keinen Palazzo in der Hauptstadt besaß, der hatte wenigstens irgend einen entfernten Onkel, der da noch "ein Haus machte", und vertraute ihm für ein paar Wochen die Kinder an. In der Wilhelmstraße, in der Behrenstraße, Unter den Linden, am Pariser Platz, in der Dorotheenstraße, Am Kupfergraben konnten aber diese Herrenhäuser in der neuen Zeit, die schon vor hundert Jahren begann, sich allmählich nicht mehr halten, denn das Land brachte kaum noch die zu dem Leben eines Grandseigneurs nötige Rente auf. Aus den Palazzi wurden Ministerien, Geschäftshäuser, Banken, Hotels, oder, wenn sie blieben, was sie waren, so hatten sie doch andere Besitzer, spätestens etwa um 1900, bekommen; darunter am Pariser Platz Herrn Friedländer-Fuld.

Am längsten hielt noch das Blücher-Palais aus, das der alte Marschall Vorwärts im Jahre 1815 von seinem König als Dotation erhalten hatte. Aber es blieb auch nicht der Familie. Sie hatte kein Interesse mehr daran. Der letzte direkte Nachkomme des Feldmarschalls ist verengländert, hat sich eine kleine britische Insel gekauft, auf der er haust, und läßt sich in englischer Aussprache Blutscher nennen.

Ein Stockwerk des Hauses, das repräsentativste, diente noch jahrzehntelang dem Fürsten v.Donnersmarck als Quartier, ein anderes dem Bankier Guttmann. Nach dem Kriege, als in der Inflation alle Vermögen zerfielen und Ausländer für billiges Geld Deutschland auskauften, damals, als man an einzelnen Tagen besonders schnellen Marksturzes für einen halben Dollar, 2 Mark, zweiter Klasse von Berlin nach München fahren konnte, erstand ein in Amerika reichgewordener Lette das Blücher-Palais. Er hat es jetzt für 4 Millionen Dollars, mit einem Riesengewinn, an die Regierung der Vereinigten Staaten verkauft, die zum 1. Oktober ihre Botschaft hierher verlegen wollte und schon jetzt ihren Handelsattaché dort wohnen und amtieren ließ, im obersten der Stockwerke.

Dort ist in der Nacht zum Mittwoch - das Palais hatte immer noch Ofenheizung - vermutlich eine Kohle herausgefallen, noch glühend, hat an einem Teppich oder an sonst etwas Nahrung gefunden und einen gewaltigen Brand entfacht, den größten, den Berlin seit der letzten Warenhaus-Einäscherung erlebt hat. Das Palais hat stolze steinerne Mauern mit Säulen und Dachplastiken, die unversehrt geblieben sind (nur "in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen"), aber im Inneren hat es selbstverständlich keine Eisenkonstruktion gehabt, sondern uraltes Holzgebälk, und das schwelte noch nach 24 Stunden; die beiden obersten Decken des Gebäudeflügels zum Tiergarten zu sind ausgebrannt und eingestürzt. Oben sieht man die Feuerwehr hantieren, die zu versteckten kleinen Feuernestern im Holz mit Spitzhacke und Beil vordringt und den Schutt, der sich auf dem Bürgersteig zu Bergen häuft, herauswirft. Auch eine Unmenge angekohltes Papier fällt oder flattert immer noch herunter, und das Publikum, das an die abgesperrten Stellen natürlich nicht herandarf, fragt sich, ob sich darunter wohl preziöse Liebesbriefe irgend einer längst verstorbenen Komteß oder wichtige historische Dokumente befinden. Aber schon räumen die städtischen Straßenreiniger alles auf und karren es weg, denn es sind zumeist nur leere vorgedruckte Formulare der amerikanischen Handelsdelegation, nicht Dinge von irgendeinem literarischen oder sonstigen Wert. Es sind unermeßliche Kunstschätze in dem Hause verbrannt, namentlich kostbare Gobelins; gerettet ist - das vielleicht beste in der Welt existierende Bild Bismarcks, von Lenbachs Meisterhand gemalt.

Ob es nun hunderttausend Dollars mehr oder weniger kostet, spielt bei den Amerikanern ja keine große Rolle; also werden hier bald Arbeiter erscheinen, frühstücken, sich in die Hände spucken und dann in amerikanischem Tempo modernisieren, Stahlschienen einziehen, Röhren für eine Zentralheizung legen und in den Korridoren überall Hydranten einbauen. Für den achteckigen großen Tanzsaal in der bisher Donnersmarckschen Wohnung wird der Botschafter neugekaufte alte Gobelins bekommen; vielleicht findet in der Garage auch wieder der vom Fürsten Blücher erbeutete Reisewagen Napoleons seine Aufstellung, der schon vor Jahren auf das Blüchersche Gut Krieblowitz geschafft worden ist. Derartige Verkäufe sind keine Ausnahme mehr. Überall in der Welt sieht man ja lachende Erben deutscher Trophäen, die sie um ein Butterbrot aufkaufen.

Unser heutiger Staat läßt das ruhig geschehen, denn für Dinge aus königlichen Zeiten hat er keine besondere Pietät, sondern läßt sie, sofern er sie noch besitzt, ungerührt verfallen. An der großen Autostraße von Böhmen über Braunau-Schweidnitz nach Breslau steht, zur Erinnerung an Friedrichs des Großen Stellungen bei Bunzelwitz, auf dem Pfaffenberg ein hoher weithin auffallender Granitobelisk. Der eiserne Zaun darum ist verrostet, die Tür ausgehenkt, die großen Bronzetafeln auf allen vier Seiten, auf denen die Regimenter eingezeichnet waren, sind herausgebrochen und gestohlen. Es ist nicht anzunehmen, daß im Reiche des sozialdemokratischen Oberpräsidenten Lüdemann für die Wiederherstellung dieses nationalen, geschichtlichen Denkmals etwas geschieht.

Aber in Berlin geht man Gott sei Dank pflegsamer mit der Weltgeschichte wenigstens der neuesten Zeit um.

In den Tagen der Revolution bekam auch das Palais Wilhelms I., des alten Kaisers, Unter den Linden eine Anzahl von Schüssen in das Mauerwerk. Die wurden mit Mörtel verstrichen, aber nicht in der Farbe des Hauses übergepinselt, sondern aus historischer Pietät hell gelassen. Ich zähle 89 solcher noch heute sichtbaren Kugelspuren an beiden Fronten.

Am Gebäude des "Vorwärts" in der Lindenstraße ist es allerdings anders, da sind alle Spuren der Kämpfe getilgt, da sieht man nichts mehr davon, daß eine Granate - sie kam vom Belleallianceplatz her, ich stand damals am Geschütz - im Januar 1919 den Balkon wegriß, eine zweite ein Mannloch in die Mauer schlug. Es gibt Erinnerungen, die übertüncht werden müssen. Damals war der "Vorwärts" von Spartakisten besetzt, er und die sozialdemokratische Partei wurden von Gardeartillerie, Potsdamer Unteroffizierschülern, Freiwilligen-Offizieren des Obersten Reinhard und dem Sturmtrupp des heutigen - Berliner Stahlhelmführers Major v.Stephani gerettet. Man denkt, so "entwürdigende" Zeiten kämen doch nicht wieder.

Wer kann es wissen . . .

Was jetzt unter Duldung - man könnte sogar sagen: unter Protektion - der sozialdemokratischen Partei in den weltlichen Schulen, unter den sogenannten roten Pionieren, unter den Fittichen des Freidenkerverbandes, unter dem Lächeln des Kulturpapstes Löwenstein in Berlin heranwächst, das hat vor nichts mehr Respekt, und heiße es Schutzmann oder sei es ein Bonze erster Klasse mit Pfauenfeder und Frack. Auf dem Belleallianceplatz queren das Rasenrondell zwei kleine Mädchen in weißen Kleidern, ein bebändertes großes Kirchenlicht in den Händen, also offenbar katholische Erstkommunikantinnen. Eine Horde von Buben, tüchtiger Spartakisten-Nachwuchs, gröhlt sie an:

Wenns wirklich Gott gäbe
mit'm Vollbart ums Kinn,
dann säßen die Pfaffen
als Läuse darin:
holladeria, holladrio!

Wer nicht will, daß nach ein paar Jahren von dieser - Kulturschicht her die große Minensprengung erfolgt, der hat ja jetzt, noch in den letzten drei Tagen, in Preußen die Möglichkeit, durch Eintragung für das Volksbegehren einen Systemwechsel herbeizuführen. Bitte: ganz verfassungsgemäß. Die Abstimmung ist das einzige legale Machtmittel des Volkes, das sonst nichts zu sagen hat. Es spricht ja angeblich durch den Mund seines Abgeordneten, aber die schickt man neuerdings nach Hause. In den verwaisten Reichstag kommen jetzt in den Monaten von April bis Oktober nur gelegentlich ein paar Fremde, meist Ausländer, die vielleicht den Prachtbau des ungarischen Parlamentes in Budapest, des schönsten der Welt, gesehen haben und in Berlin die gleiche künstlerische und geschichtlich-stolze Erhebung erwarten. Sie kommen wohl nicht auf ihre Kosten, wenn auch die große Wandelhalle architektonisch berückend ist. Gewöhnlich fragen sie, wo der Kaiser hier immer gesessen habe. Nirgends. Das ist ein alter Irrtum, den auch Beumelburg in seinem "Sperrfeuer um Deutschland" begeht, wenn er den Kaiser im Reichstage die Ansprache halten läßt, die mit den Worten schließt: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Wohl aber gab es, für Ausnahmefälle berechnet, wenn etwa auswärtige Fürstlichkeiten eine Sitzung hätten miterleben wollen, vor der Hofloge ein Kaiserzimmer, vornehm und gediegen ausgestattet. Das ist jetzt seit Jahren den Schriftführerinnen des Reichstages angewiesen, die doch nicht immer mit ihren männlichen Kollegen zusammenhausen möchten; hier in ihrem eigenen Gemach können sie, trotz ihres männlichen Gesetzgeberberufs, ihrer Weiblichkeit einmal die Zügel etwas locker lassen und sich von dem Menschendunst im Plenum erholen. Es sind im ganzen ihrer vier.

Da ist Frau Lore Agnes aus Düsseldorf, die ehemals sehr vorlaute Unabhängige, jetzt etwas ruhigere und freundlichere Sozialdemokratin, nun schon gesetzt und untersetzt, Mutter von fünf Kindern, derbe Frau aus dem Volke, ohne Rücksichten auf Bonzentaktik. Die früher - man sollte es kaum glauben - schlanke Volksvertreterin aus der Nationalversammlung hat sich äußerlich verändert, ihr Temperament ist auch stiller geworden, aber nach wie vor steht sie immer ganz links; und natürlich ist sie jetzt unter den Rebellen gewesen, die gegen die Flottenbauten stimmten.

Da ist Frau Klara Bohm-Schuch, auch Sozialdemokratin, auch religionslos, aber "die" Intellektuelle der Partei, nicht Frau aus dem Volke, sondern schon als junges Mädchen in gehobener kaufmännischer Stellung. Sie ist die einzige Frau im Haushaltsausschuß des Reichstages. In diesem Ausschuß kommt es nicht nur auf Reden, sondern auf wirkliche geistige Arbeit an. Als rabiate Pazifistin hat die Bohm "wie eine Löwin" für den Remark-Film "gekämpft", nur, versteht sich, unblutig, ganz unblutig.

Da ist Frau Christine Teusch vom Zentrum, Lehrerin, mit bestandener Rektorprüfung, - aus Köln, Führerin ihrer Partei im sozialpolitischen Ausschuß, da die christlichen Gewerkschaften, in deren Dienst sie steht, ihr ausgezeichnete Kenntnisse namentlich im gesamten Versicherungswesen vermittelt haben. Alle Zentrumsmänner im Ausschuß tun, was "Christinchen" mit dem lieben noch jungen Priorin-Gesichtel von ihnen will, denn sie ist die fleischgewordene Caritas.

Da ist schließlich die früher pommersche, jetzt Berliner Oberstudiendirektorin Dr. Elsa Matz von der Deutschen Volkspartei, die aus Liebe zu ihrem Beruf von dem Recht auf Urlaub keinen Gebrauch macht, sondern trotz parlamentarischer Anspannung nach wie vor aktiv ihre Schule leitet. In mittleren Jahren, aber sportgestählt und schlank, mit zurückhaltender Eleganz gekleidet. Das Präsidium wird hell, wenn sie mit dem leuchtenden Blond ihrer Haare als Schriftführerin dort Dienst tut und ihn - sie war schon im pommerschen Provinzialschulkollegium Hilfsarbeiterin - beamtenmäßig korrekt vorsteht. Sie ist keine selfmade-Frau, sondern hat gesättigte alte Kultur schon im Elternhause - Kaiserliche Marine - vorgefunden und jetzt in ihrem überraschend künstlerisch ausgestatteten eigenen Heim fortgesetzt. Man sagt, in ihrer Fraktion habe sie stärkeren Einfluß, als sie für gut halte, es merken zu lassen.

Warum steht solch eine Frau noch nicht in der antimarxistischen nationalen Front, die binnen kurzem wie eine Sturmflut über den heutigen Parlamentarismus daherprasseln wird?
16. April 1931 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

Jahresinhalt

Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts