"Rumpelstilzchen"

Piept es ?
(Jahrgangsband 1929/30)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1930

Glossen 4 - 6
26. September bis 10. Oktober 1929


4

Darf man ins Ausland ? - "Die sauberste Stadt Europas" - Der neueinstudierte Tannhäuser - Charells drei Musketiere - Auf der Tanzprobe des Balletts - "Meine Oma hält den Weltrekord" - Jugendliche und Abgebaute.

Eine überlebensgroß völkisch gesinnte und von mir daher sehr geschätzte Dame sagt neulich zu meiner ältesten Tochter: "Und Ihr Vater will national sein ? Und reist dabei ins Ausland ?" Somit bin ich also moralisch hingerichtet und kann mich begraben lassen.

Noch mehr fluchwürdiges habe ich auf dem Kerbholz: ich lese bisweilen fremdsprachliche Bücher. Und - Gott helfe mir - ich bin sogar im Auslande geboren, wenn auch, aber das will ja nicht viel sagen, als Reichsdeutscher. Mein Vater stand zeitweise (was wird er am Jüngsten Tage zittern müssen!) in fremdem Staatsdienst; und da geschah das Unglück, daß ich geboren wurde.

Zwar habe ich mich bemüht, nachher schon von Knabenjahren an Deutschland gut kennen zu lernen, habe dann als Soldat sieben Garnisonen, als Zivilist über hundert Orte und Landschaften der Heimat richtig studiert, aber ich gestehe, daß es da noch Lücken gibt. Ich habe so eine Sehnsucht nach Ravensburg in Württemberg, seit ich es einmal im Zeppelin überflogen; aber ebenerdig bin ich noch nie dagewesen. Es ist ein Skandal. Ich werde ihn sicherlich noch einmal wieder gutmachen. Aber einstweilen, solange ich noch die nötige Spannkraft auch für beschwerlichere Reisen im Hetztempo habe, drücke ich meinem völkischen Gewissen, das mich vielleicht zu allsommerlichem Aufenthalt in Buckow in der Mark verpflichtet, die Kehle zu und flitze, wie beispielsweise vor einer Reihe von Jahren geschehen, in neun Tagen (heute kann man es schneller haben) bis an die Grenze von Afghanistan. Oder zu den Lappen. Oder zu den Berbern. Sicherlich nicht aus Liebedienerei, sondern um beruflich zu lernen und - um vergleichen zu können.

Nachher weiß ich und kann es begründen, weshalb Deutschland uns das Liebste ist; aber auch, wenn ich etwa wieder einmal ein paar Tage in England gewesen bin, feststellen, wieviel vom Besten uns noch fehlt, nämlich vom Nationalgefühl.

Ebenso hebt sich Berlin für den Heimgekehrten dann viel besser von den dunkleren oder helleren Hintergründen ab. Man bekommt Urteil. Wenn jetzt ein Pariser Blatt, etwas widerwillig, erzählt, Berlin sei die sauberste Stadt Europas, so ist es mir klar, daß der Schreiber von Europa nicht allzu viel kennt. Daß Paris im Vergleich zu Berlin, wie auch alle übrigen französischen Städte, ein Dreckhaufen ist, ist richtig. Aber schon Kopenhagen und Stockholm und Zürich und Wien sind von der gleichen Reinlichkeit wie unsere großen Gemeinwesen. Und nun gar erst Holland! In dem alten Städtchen Dordrecht, das mein ganzer Schwarm ist, erlebe ich da mal einen Sonnabend und traue meinen Augen kaum: sämtliche - allerdings schmalfrontigen und nicht himmelhohen - Wohnhäuser werden auch außen, jawohl, außen, vom Dach bis zur Schwelle von den Dienstboten gewaschen! Das geschieht dortzulande jeden Sonnabend. So weit haben wir es denn doch noch nicht gebracht. Außerdem sehen sich die fremden Beobachter meist nur die Straßen und die Bürgersteige an, die bei uns wirklich gut reingehalten werden, prüfen aber nicht die Luft, - und die Berliner Luft ist zwar nicht ganz so rußhaltig wie etwa die von Newcastle, aber dafür vom Ölqualm stinkender Autos erfüllt und enthält so starken Promillesatz an ätzenden Chemikalien, daß ihre zersetzende Wirkung sich sogar an unseren Marmordenkmälern bemerkbar macht. Die Wissenschaft hat es nachgewiesen. Aber die roten Stadtväter haben, wie man zu sagen pflegt, keinen Riecher dafür. Sie haben eine Schwäche für das Muffige; und ihr Rüssel ist mit der Suche nach nationalistischen Trüffeln beschäftigt.

Nur Vergleichen ermöglicht Urteilen.

Der Durchschnittsberliner kennt nicht die Fortschritte, die andere Städte - auch in Deutschland, nicht nur im Auslande - inzwischen gemacht haben. Er vergleicht nur das Berlin von 1929 mit dem von 1923, und da kann er allerdings mit Recht sagen, daß wir uns seit der Inflationzeit fabelhaft entwickelt haben. Nur in wenigen ungepflegten Stadtteilen sieht man noch den Verfall. Es werden doch sonst überall wieder die Fassaden in regelmäßigen Zwischenräumen neu verputzt und gestrichen. Ebenso ist die Beleuchtung wieder weltstädtisch, besser als in manchen fremden Metropolen. Auch ist aus den öffentlichen Schaustätten der armselige verstaubte Flitter der Elendszeit verschwunden; die Theater haben einen neuen Fundus, neue Dekorationen, neue junge Darsteller. Gegen das, was beispielsweise in der gestrigen Neueinstudierung des "Tannhäuser" - in der Pariser statt der sonst üblichen Dresdner Fassung Wagners - unsere Staatsoper dekorativ bietet, verblaßt doch alles, was etwa die Scala in Mailand herausbringt. Links neben mir sitzt ein Japaner, rechts ein katholischer Priester aus New York, hinter mir ein italienisches Ehepaar, vor mir Franzosen im zweiten Parkett; im ersten Rang in verblüffenden Toiletten ein paar Engländerinnen, in der Fremdenloge Intendanten aus fernen Städten. Wo man hinhört, hört man ehrliches Erstaunen. Das Tänzerische der Solisten und der Gruppen in der großen Szene im Venusberg ist gewagter und eindeutiger, als es in Hoftheaterzeiten möglich gewesen wäre, aber sinnberückend schön. Das Schauspielhaus ist unter Jeßner heruntergewirtschaftet und eine stets neue Enttäuschung für die Besucher, die Oper dagegen hat sich von dem Schlag, den die Entlassung des Herrn v.Schllings bedeutete, doch schon etwas erholt.

Nur das deutsche Publikum ist von den besten Plätzen verschwunden, vom Parkett großenteils in den zweiten und dritten Rang verdrängt, weil seine Kunstenthusiasten sich die teuren Karten nicht mehr leisten können. Und die große Masse wandert von der Oper zur Großen Operette ab, dieser neuen Kunstgattung, die bei uns Gott sei Dank die Revue in ihrer Ausartung, wie sie von Londoner Matrosengeschmack diktiert ist, abgelöst hat.

Was Erik Charell im Großen Schauspielhause, jetzt wieder durch das romantische Spiel von den "Drei Musketieren" nach dem Roman von Dumas, uns alljährlich auftischt, das ist nicht mehr Fleischbeschau, sondern wirklich große Kunst, wenn auch in leichtverdaulicher Form für die Masse. Erik Charell heißt eigentlich Karl Löwenberg, und sein Elternhaus stand im Konfektionsviertel. Tut nichts. Die Leistung ist das Entscheidende. Bei ihm kommt sie aus dem Tänzerischen. Er selbst war früher Tänzer, guter Tänzer, der in einem großen Variété des Westens in eigenen Tänzen auftrat. Jetzt reist er alljährlich in Begleitung des Malers Professor Stern nach New York und nach London und nach Paris und sieht sich dort die Revuen an, nicht, um sie zu kopieren (das tat erbärmlich schlecht und popelig früher James Klein), sondern um sie zu übertreffen und zu überstrahlen.

Auch als Darsteller, die nicht tanzen oder singen, sind Prominente verpflichtet. So spielt Paul Wegner, obwohl er eigentlich seit seinen schweren Vermögensverlusten beim eigenen Film ein gebrochener Mann ist, den Kardinal Mazarin mit eindringlicher Wucht. Daß Trude Hesterberg und Göta Ljungberg spielen und singen können, weiß man. Auch die drei Musketier-Kavaliere - Jerger, Arno, Hansen - und die über hundert sonstigen Auftretenden sind natürlich ausgesuchte Ware, die Chöre und Tanzgruppen famos einexerziert, und die beiden ersten Tänzerinnen, Marianne Winckelstern und La Jana, jung und schön, eine Augenweide, auch wenn sie einmal nicht daherwirbeln, sondern zur Statue erstarren.

Es mag schon dreißig Jahre her sein, als wir den ersten Einbruch nicht der französischen, im Dialog fein pointierten, schon von Giampietro und der Massary gepflegten Revue erlebten, sondern der aus den englischen Music-Halls, mit der Parade von hundert nackten Mädchenbeinen, eine Sensation für Berlin in dem damaligen Olympia-Theater. Dahin ging man, um sich eines der Mädchen zum Souper auszusuchen, und man war nicht einmal peinlich ernüchtert, wenn das Mädchen dann trällerte: "Ja, beim Souper, da erlebt man tolle Sachen!" und vielversprechend mit den Augen zwinkerte.

Das Große Schauspielhaus Erik Charells aber ist kein Rendezvousort und keine Animierkneipe, auch wenn es bei den Proben seine Stammgäste hat, Vollmöller und Michael Bohnen und Tauber und Alfred Braun. Das sind Stammgäste vom Bau, nicht Bummler mit klimperndem Gelde. Die Proben sind auch nicht zum Flirten da, sondern zum Arbeiten. Die Zuschauer des Abends, die dann in jede Szene hineinjauchzen, ahnen nicht, wieviel Mühe es kostet, bis eine Szene steht.

Wenn etwa Mitte September die Große Operette steigt, so jetzt "Die drei Musketiere", sind genau sechs Wochen täglichen Einübens, täglich vom Morgen bis in die sinkende Nacht, vorhergegangen, und auch nachher wird täglich geprobt, denn man muß immer mit Ausfällen und Umbesetzungen rechnen. Da melden sich vielleicht drei Tanzgirls krank; das kann fünfzehn Umbesetzungen bedeuten. Und mehr noch als bei dem Parademarsch einer militärischen Truppe kann bei den Gruppentänzen ein einziger schlechter Schritt die ganze Front umwerfen. Da hat ein Mädel etwa von links hinten her zu einer Quadrillenfigur in die Mitte der Bühne zu wirbeln, nun aber als Ersatz von rechts vorne, muß also jetzt auf einmal das Spiegelbild dessen tanzen, was sie seit Wochen gewöhnt war; und dabei darf man nicht entgleisen, das muß so eingeübt sein, daß man es im Schlafe richtig macht.

Jeden Tag, jeden Tag.

Wer vormittags um elf hinten in dem kleinen Gäßchen am Bühneneingang des Großen Schauspielhauses steht, der sieht die letzten der jungen Mädels sozusagen mit fliegenden Rockschößen herflitzen. Rasch hinein, nur nicht zu spät kommen. Kostet nämlich Strafe. Man ist ja nicht auf Nebenverdienst angewiesen, man kriegt ja seinen richtigen Lohn von 180 bis 300 Mark im Monat, und die beiden ersten Tänzerinnen sogar so viel, daß sie sich ihr eigenes Auto leisten können; aber man zahlt doch nicht gern Strafe.

Marianne Winckelstern, die blonde neunzehnjährige Deutsche, ist die Tochter des Kaviar-Winckelstern vom Kurfürstendamm, stammt also sowieso aus wohlhabendem Hause. Sie begann ihre Ausbildung schon als fünfjähriges Kind bei Margarete Altmann-Quandt von der Königlichen Oper und arbeitet noch heute an sich jeden Tag, jeden Tag. Da stört kein Flirt, da steht niemand von der goldenen Jugend im Foyer. Sie kommt, arbeitet ernst und in ständiger Wiederholung an der Stange, macht auch abends vor jedem Auftreten hinter den Kulissen ihre Übungen, und fährt nachher ohne Aufenthalt nach Hause.

Die "Girls" wechseln auch sofort, nachdem sie um elf Uhr vormittags - sie sehen dann nur viel blasser aus als um einhalb zwölf Uhr abends auf der Bühne - zur Probe gekommen sind, ihr Straßenkostüm gegen den Tanzkittel, der als Trainingsanzug dient und die Beine völlig frei läßt, und stellen sich alsbald dem Ballettmeister, dem ewig wippenden, ewig munteren v.Paquet-Léon, nachdem der Inspizient geklingelt hat.

"Wer fehlt ? Zwei Damen ? Bitte Ersatz eintreten! Aufstellung! Darf ich bitten, Herr Kapellmeister ?"

Die Musik schwingt, die Beine schwingen, die Gruppe tanzt daher, Paquet klatscht zum Takt leicht in die Hände und zählt laut: "Eins, zwei, drei, vier, f ü n f, sechs, sieben, acht!", die Fünf eigens hervorgehoben.

"Halt! Die vierte Dame von rechts! Die Fünf muß musikalisch stärker im Hebeschritt betont werden! Außerdem, das gilt für alle Damen, Kopfwendung gleichmäßiger! Kürzer rechts, links, rechts, links! Mehr die Fußspitzen strecken! Also nochmal den ersten Satz, zurück in die Grundstellung!"

Und nochmal und nochmal. Dann der zweite Satz. Wieder heißt es: "Halt!" Wieder wird von Anfang an wiederholt, - man denkt an seine erste Rekrutenzeit mit dem ständigen "Zurück, Marsch, Marsch!" und stellt sich vor, wie rückenmüde und fußmüde die jungen Mädchen da auf der Bühne schon sein mögen.

"Eins, zwei, drei, vier, Halt! Die Drehung bei drei schneller und kürzer, wie der Blitz! Aber, Fräulein, ja, schauen Sie mich nur so unschuldig an, Sie meine ich! Sie klappen ja nach! Den Satz nochmal wiederholen! Aber, bitte, mehr Ausdruck, bitte, freundlicher! Sie müssen Fühlung mit den Zuschauern nehmen! Sobald der Tanz nicht als Spiel, sondern als Arbeit erscheint, ist der Erfolg verloren! Also noch einmal von Anfang an!"

Der kleine, wendige v.Paquet-Léon, dessen sechzehnjähriger Sohn auch schon Hilfstanzlehrer ist, schwingt mit dem Körper mit, während die Girls tanzen, vibriert mit allen Nerven, ist nachher ebenso in Schweiß wie sie.

Jeden Tag, jeden Tag.

Nur nachmittags gibt es ein Ausstrecken und Ruhen, das unbedingt nötig ist, davor gewöhnlich ein Bad. Auch die Auftritte, in denen nicht getanzt, sondern nur gesprochen, gesungen, agiert wird, bedürfen der Wiederholung in Proben. Für die Zigeunerszene im Zwischenspiel des zweiten Aktes hatte der Zoologische Garten verschiedene Tiere zur Verfügung gestellt, aber man mußte trotz vielfacher Proben mit ihnen sie doch wieder entlassen. Der Bär riß sich los und flüchtete, die Pferde misteten auf das Tanzparkett, und die Spezialität des Affen war, dem nächsten erreichbaren Darsteller auf den Rücken zu springen und ihm die Haare zu raufen.

Auch der Bühnenberuf, sogar in Operette und Revue, ist nicht so leicht und romantisch, wie die Mehrzahl unserer höheren Töchter ihn sich vorstellt, sondern man braucht täglich harte Schulung und ständiges Körper- oder Stimmtraining auch außerhalb des Berufes unter Verzicht auf viele Genüsse, die der brave Bürger sich sonst leisten kann. Zum Glück sind die meisten dem Großen Schauspielhaus Verpflichteten noch so jung, daß sie sich leicht in alles schicken und über den ewigen Proben nicht gleich die ganze Lust verlieren. Es ist hier nicht so wie früher an manchen Opernbühnen, wo irgendeine dell' Era oder sonstige berühmte Balletteuse zwar noch über eine immense Beintechnik verfügte, die Beine selbst aber dem Publikum sonst - nichts sagten. Jene alten Beine, denen die Zuschauer, wenn dieser Schlager damals schon bekannt gewesen wäre, am liebsten zugesungen hätten:

"Meine Oma hält den Weltrekord im Stabhochsprung."

Ein Glück, daß diese Jugend von heute, auch die außerhalb des Bühnenberufs, sich noch keine Gedanken darüber macht, wie es sein wird, wenn sie über die erste Jugend hinaus ist. Wo man ihr dann, wenn sie zu Bühne oder Film gehört, jedes Kilo Gewichtszunahme, selbst wenn sie Brigitte Helm heißt, als Kontraktbruch vorhält, oder, außerhalb der Bühne, die Jahre vorhält, die eine Entlassung rechtfertigen; denn der allmächtige Tarifvertrag, der dank unserem sozialen Zeitalter heute in jedem Berufe bindend ist, sieht höhere Löhne und Gehälter für ältere Leute vor, die dann, selbst wenn sie zu den bisherigen Bedingungen weiterarbeiten möchten, jüngeren und billigeren Kräften weichen müssen. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage. Die neuere soziale Gesetzgebung klingt sehr vernünftig, sehr menschenfreundlich, wird als Vorbild für rückständigere Länder immer wieder hervorgehoben, ist aber zu einem großen Teil an unserem sozialen Elend mit schuld. Wenigstens in Berlin sehe ich auf Rummelplätzen und in Volkskabaretts junge achtzehnjährige Arbeiter das Geld mit vollen Händen hinauswerfen, während vor den Türen arbeitsfähige, aber abgebaute Fünfundvierzigjährige die Vorübergehenden anbetteln.

26. September 1929 (Donnerstag)


5

Knoppchen ist da - Der neue Tanzpalast - Im alten "Resi" - Verandasegler und Mützensegler - Prinz Fritz - "Kauft Sklarekbirnen!" - Versteigerung Levin.

Knoppchen ist da! Knoppchen der Kneipwirt; Verzeihung: Knoppchen der Großdestillateur. Vor fünf Jahren machte er, dessen urwüchsige Grobheit urwüchsige Gutmütigkeit ist, jene Nordlandreise mit, auf der er uns allen mit seinen Berliner Ausdrücken das Herz erwärmte. Also Knoppchen ist da! Nämlich in einer oberen Loge des großen Saales im neuen Tanzpalast "Femina", an der ich gerade vorüberschlendere. Er stutzt. Ha, ist das nicht . . . Jawohl, wir erkennen uns, wir begrüßen uns. Er mit dem zwiespältigen Gefühl, das häufig meine Modelle haben, auch wenn sie so liebenswürdig geschildert werden, wie ich es in diesem Falle vor fünf Jahren getan habe. Knoppchen entsendet Blitze. Knoppchen richtet sich zu seiner ganzen Knoppchen-Höhe auf, schaut zu mir empor und faucht:

"Ick bin mit Frau un Dochter hier, det ist anstännig, aber Sie Lustlümmel natierlich alleene!"

Großartig; da muß man doch lachen, ob man will oder nicht.

"Ja, mein Lieber", antworte ich, "ich bin allein, aber ich b l e i b e auch allein, ich komme doch nur beruflich her."

Leider muß ich mir so etwas ansehen: wo Berlin W sich überprotzt. Knoppchen imponiert das. Hier ist er, denkt er, unter feinen Leuten, ganz anderen als denen, mit denen er in seiner Destille Skat spielt. Hat sich was! Zwar schnalzt einer der Westberliner, der sich auch zum erstenmal in diesem Tanzpalast umsieht, wohlgefällig mit der Zunge und sagt: ´"Schicke Schicksen!" Das kann ich aber nicht finden. Es ist das übliche Publikum der knalligen Revolutions- und Inflations- und Deflationsgewinnler aus dem westlichen Berlin, dazu zahlreich und häßlich die übliche Halbwelt. Das Edenhotel steht hinter dem neuen Riesenunternehmen, das ein paar Wochen lang die übrigen Tanzpaläste überschreien und dazu beitragen wird, daß die Ausländer sagen: die Deutschen haben sehr viel Geld. Deutsche sieht man im Edenhotel kaum; vom Dach könnte ruhig die Flagge Zions wehen.

In der "Femina" mit ihren angeblich 2000 Plätzen für Schmausende, Trinkende, Tanzende ist es ungefähr dasselbe, nur ist die Halb- und Dreiviertelwelt noch stärker vertreten. Sie fällt etwas ab gegen die Konkurrenz aus der Gesellschaft. Früher lernten die Damen von den Kokotten, wie man sich schminkt und wie man auffällt, heute aber lernen es die Kokotten von den Damen, "diesen" Damen aus Berlin W natürlich.

Knoppchen sitzt schon eine lange Weile da und genießt "mondänes Leben". Knoppchen ist einer der wenigen unzweifelhaften Deutschen in dem Lokal. Ich selbst flaniere nur und habe nach einer halben Stunde genug gesehen, habe weder an der Bar "mit Stimmung" Platz genommen noch im großen Tanzsaale. Es ist Massenbetrieb, Protzenbetrieb. Dazu "die neuesten technischen Errungenschaften", Tischtelephon und Rohrpost; diese aber nicht an jedem Tisch, sondern eingelassen in der Wand, so daß man den Kellner um Beförderung ersuchen muß.

Da ist es im Resi, dem Residenzkasino in der Blumenstraße in Berlin O, doch ganz anders. Da klappt's an jedem Tisch. Da ist nämlich die Geburtsstätte aller technischen Scherze der erfindungsreiche Kopf des Wortes, des unermüdlichen Baartz. "Femina" ist bloß Plagiat, ins Kurfürstendammerische übersetzt. An dem alten Lokal des Ostens fahren auch dauernd Autos vor, ist es alle Tage pfropfenvoll, sitzen neben ehrsamen Berliner Bürgersleuten und den üblichen Unzweideutigen reiche Ausländer und arme deutsche Studenten. Man wird nicht übervorteilt. Und es ist kolossaler Betrieb. Kaum habe ich Platz genommen - der Tisch 73 auf der Empore wird zum Glück für die deutsche Literatur freigehalten -, so rasseln auch schon die Rohrpostpatronen ins Netz.

"Warum so einsam ? Die auch Einsame von Tisch 41."

"Ich möchte gern eine Zigarette mit Ihnen rauchen! Uschi, Tisch 32."

"Willst, feiner Knabe, Du mit mir geh'n ? Die Dame im Sternchenkleid, Nr. 64."

Immer mehr der kleinen Papprollen purzeln aus dem Netz zu mir. Nun schreibe auch ich und stecke die Patronen in die Klappe am Tisch, wo sie blitzschnell angesogen werden. Es gibt ein neckisches Hin und Her. Natürlich äugt man vorher nach 41, 32, 64 hinüber, ob's eine Kuh oder ein Rehlein war, das was hergepustet hat. Plumps! Schon wieder ein Brief. Plumps, plumps, plumps, plumps! Von 35, 58, 57, 19, 47. Dazwischen leuchtet das Telephonschild auf, will eine einen sprechen. Gut, daß man immer gleichzeitig "im Bilde" ist, die Sprecherin irgendwo über sechs Tische weiter oder über das Tanzparkett hinweg sehen kann.

Ein bißchen materiell gesinnt sind freilich diese Fräuleins alle. Ein rein geistiger Seelenaustausch, wie man so schön sagt, kommt nicht recht zustande. Ich versuche es mit scherzhafter Philosophie. Da kriege ich die Antwort:

"Wenn man Dein Geschreibsel liest, da bleibt ja vor Schreck der Wecker stehen!"

Aber man kann sich sehr schnell und verhältnismäßig billig beliebt machen, wenn man die Rohrpost zur - Warensendung benutzt. Ich lege in eine Patrone 1 Mark, schreibe auf die Adresse "32, Uschi, 82", - die Patrone saust ins Verkaufslager, wird gefüllt und plumpst dreieinhalb Minuten später am Tisch 32 vor der blonden Uschi mit zehn Queen-Zigaretten ins Netz. Queen-Zigaretten sind Nr. 82. Ein Fläschchen Curaçao braun ist Nr. 2. Zwei Zigarren Graf Arco - Kostenpunkt 40 Pfennige - sind Nr. 90. Eine Damenhandtasche in bestem Wildleder ist Nr. 116. Gebrannte Mandeln sind Nr, 98. In der Preisliste stehen insgesamt 134 Gegenstände zum Preise von 30 Pfennigen bis zu 3 Mark, und wenn mehrere Familien oder mehrere Gruppen Fröhlicher sich in den Räumen des "Resi" verteilen, können sie ein Schnellfeuer von Geschenken aufeinander eröffnen. Daß ein Herr einen Lippenstift, eine Dame einen Rasierapparat bekommt, kann man doch machen. Und was kann man alles anonym anstellen! Wenn man will, ist man ganz unter sich, braucht man sich weder um die Spießerfrauen noch um die Tanzmädchen zu kümmern, und wenn man es versteht, dann platzt man vor Lust.

Außerdem kostet Münchener oder Pilsener Bier hier nur 50 Pfennige, ist auch die Flasche Schaumwein 40 Prozent billiger als in den Tanzpalästen des Westens. Baartz, der selber mit seiner Frau nach dem Rechten sieht, bald im großen Saale tanzt, bald unten im Klosterkeller sitzt, bald in der Beleuchtungszentrale die "ultraviolette Verwandlung" dirigiert, versteht sein Geschäft. Und sitzt seit 20 Jahren im schuldenfreien eigenen Hause. Das übrigens vor Menschenaltern, daher der Name Blumenstraße, eine große Gärtnerei war. Sein einziger Sohn, im Alumnat der Prinzenschule in Ballenstedt erzogen, hat studiert, steht jetzt vor dem Dr.jur., wird wohl einst das väterliche Geschäft übernehmen und neue Effekte und Überraschungen des Amusements ersinnen - und hat dabei doch nur die eine große Sehnsucht im Herzen: möchte umsatteln und Altphilologe werden, am liebsten - dabei hat er im Geschäft doch täglich lauter "Jugend" um sich - als Altertumsforscher hinausziehen und vieltausendjährige Griechentempel ausbuddeln.

Vielfach ist es ja nur aufgefärbte Jugend, die jetzt die Tanzlokale besucht. Die richtig braungebrannte Jugend hat noch bis zum letzten Sonntag auf dem Wasser gelegen. Oder wenigstens am Wasser. Bei den Seglern rund um Berlin nennt man diejenigen, die unter Vermeidung des Wassers auf der Klubveranda als Kritiker sitzen, "Verandasegler". Wer drinnen im Klubheim dem Tanzen und Flirten sich widmet, der ist ein "Parkettschipper". Und diejenigen Leute, die nicht segeln, aber um so stolzer ihre Klubmütze tragen, werden als "Mützensegler" bezeichnet.

Diese letzteren waren früher im Kreise der Damen die eifrigsten Renommisten, verlieren aber an Ansehen, seit die Damen selber den Sport betreiben. Der Kaiserliche Yachtklub und der Norddeutsche Regattaverband haben Damenmitgliedschaften eingeführt. Sogar eine "nur weibliche" Seglergruppe ist in einem Berliner Verein vorhanden. Wenn man die Frauen oder die jungen Mädchen im einheitlichen Seglerpäckchen - mit langen Buxen natürlich - oder, wenn es kälter wird, im blauen Trainingsanzug sieht, ist dies ein ästhetisch und sportlich sehr erfreulicher Anblick. "Herangenommen", ja geradezu geschliffen werden sie tüchtig.

Genau so die Jungen männlichen Geschlechts. Unter denen, die der Kaiserliche Yachtklub auf der alten Matrosenstation an der Glienicker Brücke vor Potsdam erzieht, befindet sich auch Prinz Friedrich, des Kronprinzen vierter Sohn, der jetzt noch Oberprimaner ist. Feste wird er herangenommen. Der seemännisch-sportlichen Betätigung gehört sein ganzes Herz. Gäbe es noch eine Kaiserliche Marine, so träte er da ein. Trotz seiner Strammheit ist er der Elegant unter den Kronprinzensöhnen. Die anderen Seglerbuben stehen mit ihm auf du und du: "Prinz Fritz, komm' her, du feiner Hund!"

Eingereiht sind die Berliner wie auch alle übrigen deutschen Segler in drei Spitzenorganisationen, den Deutschen Seglerverband mit 24 000, den Deutschen Seglerbund mit 6000 und den arbeitersportlichen Freien Seglerverband mit 2000 Mitgliedern; alle drei sind ganz verträglich in der Arbeitsgemeinschaft der Wassersportverbände geeint. Im übrigen "zerfällt", wie man auf Quarta zu sagen pflegt, dieser Sport in Fahrtensegeln (vulgo Schmalzgondeln) und Rennsegeln (vulgo Karussellfahren); in der letzten Berliner Herbstwoche fuhren über 150 Verbandsboote täglich auf Havel und Wannsee Karussell. Bin ich unter Seglern, so hüte ich mich, davon zu sprechen, daß ich zwar selten, aber sehr gern Motorboot fahre; da würden die Leutchen ganz sicherlich wild.

"Wenn ich so einem Rennrutscher von 60 Kilometern begegne, schieße ich noch mal meinen siebenschläfrigen Browning auf ihn leer!" sagt einer zu mir.

Sie machen Krach, sie machen Seegang, sie stinken, sie sind unberechenbar, sagen die Segler von den Motorbootlern. Da sind ihnen sogar die Paddler lieber. Und doch ist schließlich alles, was auf dem Wasser kreucht oder fleucht, rund um Berlin eine einzige große Gemeinde, - die der wirklichen Wochenendler, die, wenn sie kein Kajütboot haben, ein Zelt draußen zur Nacht aufschlagen (Zeltschein 1 Mark) und darin auf der Pustematratze schlafen. Wer aber ein seetüchtiges Boot besitzt, der verläßt in Urlaubszeiten auch wohl die Havel, geht über Stettin in die Ostsee, segelt dänische, schwedische, estnische, finnische Küsten an, weitet seinen Blick und macht nachher allen Stammtischen in Berlin klar, was Seegeltung ist, die wir verloren haben.

Es ist gut, wenn der Stammtisch mal über anderes zu sprechen hat als über Parteipolitik. Davon versteht er doch nichts. Da läßt er sich jetzt weißmachen, daß Stresemann, der doch nur Erzbergers Fortsetzer und Erfüller war, als Befreier Deutschlands gestorben sei; oder daß Stresemanns Freund Abraham Litwin genauso wie die Kutisker, Barmat, Sklarek zu den wirtschaftlichen Befruchtern Deutschlands gehöre. Davon ist kein Wort wahr. Deutschland wird nicht befruchtet, sondern ausgesogen.

Das Volk kuscht noch, wenn die roten Führer "Kusch!" sagen, aber es hat Gefühl für seine Lage. Man mag ihm vorreden, was man will, es findet trotzdem, daß es ein starkes Stück sei, wenn die Sklareks insgesamt, dank sozialistisch-kommunistischem Augenzudrücken der Stadtväter, über 23 Millionen Mark "nebenbei" verdienen konnten. Zum Teil durch Lieferung schlechter Ware an die Ärmsten und an die Krankenhäuser, zum Teil durch direkte Urkundenfälschung und Betrug. Und daß diese Brüder "nur" 300 000 Mark Jahreseinnahmen versteuerten, während sie laut ihren beschlagnahmten Haushaltsbüchern 2 500 000 Mark jährlich verlebten.

Mit wem ?

Das ist jetzt die große Publikumsfrage,

Vor einer Reihe von Jahren sah ich sie mal im Adlon an einem Silvesterabend, betrunken unter Betrunkenen, lauter Berliner Kommunalgrößen, nach einer Zeche von anscheinend mehreren tausend Mark.

Die Sklareks waren zuletzt aus geschäftlichen Gründen eingeschriebene Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, legten aber Wert auf gute Beziehungen nach allen Seiten, hatten nach eigener Bekundung auch noch 1920 die Reichstagsliste der Deutschen Volkspartei gewählt. Die Korruption ist die Schwester des Parlamentarismus. Das steuerzahlende Volk, das für die Litwin und Genossen fronen muß, staut sich jetzt aber vor dem Karren eines gewitzten Obsthändlers an einer Straßenecke des Berlin-Köllnischen Viertels, der täglich mit Stentorstimme ruft:

"Kooft, Leute, kooft die berühmten Sklarekbirnen! Die Birnen sind weech wie die unseres Magistrats! Birnen sind gesund, Birnen verlängern das Leben! Eßt se, dann erlebt ihr noch den Sklarekprozeß un die Verurteilung! Det sin nich die Äppel, aber die Birnen der Erkenntnis! Eßt Sklarekbirnen, dann wißt ihr: wie werd' ick Millionär!"

Wie man Millionär wird, das kann man weder aus Lehrbüchern noch durch Birnenessen lernen, aber wie diese fixen Millionäre sich einrichten, das konnte man dieser Tage bei der Versteigerung der 9-Zimmerwohnung eines flüchtig gewordenen Bankiers hier sehen. Sehr luxuriös, Seidenbespannung an den Wänden, daran Gemälde von Liebermann, Thoma, Klinger, Corinth, Corot u.a. Ein Silberschrank mit 520 zum Teil großen Stücken. Dazu echte Gobelins, Boule- und Chippendale-Möbel; in dem üppigen Schlafzimmer dieses Junggesellen Levin ein drei Meter breiter Toilettentisch mit allen Salben und Essenzen der Welt. Andere Bankierfrauen, deren Männer noch nicht in Moabit festgesetzt oder nach Buenos Aires durchgebrannt sind, reißen sich darum und ersteigern die Sachen. Die bleiben sozusagen in der Familie. Eines Tages aber wird Herr Levin unbefangen in Berlin wieder auftauchen wie jetzt Barmat.

Unsere Berliner Schulbehörden führen als Zwangslektüre für 16jährige Mädchen jetzt Remarks "Im Westen nichts Neues" ein, vielleicht zu sexueller Aufklärung; und 16jährige Jungen müssen die "historischen" Bücher von Emil Ludwig-Kohn lesen.

So verdumpft man die Hirne. Aber die Erhellung, die irgendwann unaufhaltsam sein wird, beginnt schon bei den einfachen Straßenhändlern.

3. Oktober 1929 (Donnerstag)


6

Luftfahrt-Ball - Kröllers Nachfolger Terpis - Olga Desmond - G. i. M. - Nachtklubs - In der "Lunte".

Am Dienstag dieser Woche, man denke, am 8. Oktober, standen noch auf dem Königsplatz und anderswo Leute, die Waffeleis lutschten, weil es so heiß war. Die kleinen Marketenderwagen der fliegenden Konditoren machten überall in der Stadt gute Geschäfte. Drinnen bei Kroll wurde aber am selben 8. Oktober, und das wiederum ist unerhört früh, der Berliner Gesellschaftswinter eröffnet.

Der erste "große" Ball in dieser Saison, der überhaupt erste Ball des Deutschen Luftfahrt-Verbandes.

Eigentlich, gestehen wir es nur offen, war es ein Kränzchen, kein Ball; trotz der vielleicht 2000 Besucher. Auf der Einladung stand nämlich "Anzug beliebig", und das wurde richtig als Freibrief aufgefaßt. Niemand durfte also auf den provinziellen Bratenrock oder die blaue Jacke oder das Schwarzseidene naserümpfend herabsehen, und da es auch kein vorheriges Belegen bevorzugter Logen und dergleichen gab, war die Mischung der Stände vollkommen. Den Taler Eintrittsgeld - man hatte auch noch billigere Karten - und eine Karaffe Bier kann schließlich auch noch ein Monteurlehrling aufbringen. Oder irgendein kargbesoldeter Staatsbeamter. An unserem Tisch saß einer mit Frau und Tochter. Mutter entnahm ihrem Pompadour ein paar belegte Brote, die dann ein bißchen heimlich, aber die falsche Scham war wirklich nicht nötig, verdrückt wurden. Es war rührend. Und es waren lauter anständige Leute, gar kein Kurfürstendamm.

Ganz unauffällig irgendwo unter dem Publikum die Träger bekannter Namen aus großer Zeit deutscher Luftfahrt, Major v.Kehler, Admiral Philipp und andere. Und trotz der Mischung von reich und arm, hoch und gering alles ein Herz und eine Seele, alles entweder Mitarbeiter oder Mitwoller unserer Luftgeltung. Selbstverständlich wurde auch getanzt, ich merke es noch heute, denn ein kleiner Fahnenjunker von der Kavallerie, der selig und weltvergessen hübsche junge Mädchen auf jedes Hindernis zusteuerte, karambolierte dauernd und puffte auch mir dreimal einen blauen Flecken.

Aber was außer dem Tanzen noch an Vorführungen - Ballett der Staatsoper, Kabarettisten, Rollschuhläufer - geboten wurde, das war nicht mehr "Kränzchen", sondern fabelhafte Weltstadt.

Und dann die kurzen, bejubelten Ansprachen der deutschen Sieger in großen Wettbewerben im Motorflug, Segelflug, Freiballonflug! Wenn man denkt, daß in diesem Jahre ein Gestellchen aus Holz und Leinewand, ohne Motor, nur unter Ausnutzung der Luftströmungen wie eine Möwe dahersegelte, seinen Führer, einen Studenten, 3000 Meter hoch - durch die Wolken empor - und 143 Kilometer weit trug, dann ist man doch beglückt, Zeitgenosse der erfolgreichen Ikariden zu sein. Mitten während eines Tanzes gibt es eine Stunde später plötzlich ein Stocken, Drängen, Fluten, ein anschwellendes Händeklatschen, schließlich einen Sturm der Begeisterung: Eckener ist da! Eckener ist da, wird von der Menge zum Podium geschoben, spricht ein paar gute Worte, setzt sich dann an irgendeinen Tisch und ist für den Rest des Abends - den Kummer ist er seit seiner Amerikareise gewöhnt - mit dem Schreiben seines Namenszuges für sammelwütige junge Mädchen und Flugjünger beschäftigt.

Die Balletts der Staatsoper unter Max Terpis' Leitung und Mitwirkung an diesem Kroll-Abend sind für viele der Erschienenen, die sicher derartig Vollendetes noch nie gesehen haben, eine Offenbarung gewesen. Die große Umwälzung im Ballettbetrieb, die endlich statt bloßer Technik die Anmut holdester gelöster Jugend in ihr Recht einsetzte, stammt schon von Terpis' Vorgänger Kröller, jetzt "Professor" Kröller, der persönlich in der Josephslegende von Richard Strauß sein Können am hinreißendsten offenbarte; er tanzte als Joseph vor Potiphars Weibe wirklich die Kraft und die Reinheit und die Schönheit. Terpis ist viel weichlicher, weiblicher, aber von unerschöpflicher Phantasie und bei seinen Einstudierungen von einem überraschenden Figurenreichtum. Es sind nie "Nummern", es ist alles beschwingt und frei, manchmal freilich von einer etwas verblüffenden Auffassung. So ließ er auf dem Luftfahrt-Ball den Radetzkimarsch so humoristisch tanzen, daß angesichts dieser Schelmerei alles strahlte und lachte.

Einer Tänzerin, die einige Jahre vor dem Kriege geradezu Revolution in dem "Kunstbetrieb" bedeutete, begegnet man heute zuweilen an einem Stammtisch im Berliner Westen, in der Alten Pilsener Hütte. An diesem Tisch sitzt regelmäßig ein bekannter Verlagsdirektor, häufig eine ausgezeichnete Sängerin, die noch im vorigen Jahre an der städtischen Oper in Charlottenburg wirkte, eine Filmdarstellerin, der Berliner Romanschriftsteller Artur Landsberger (der seine eigenen Kurfürstendammer Leute schonungslos enthüllt), der und jener Akademiker, auch der Verleger von Erich Remarks Büchlein "Wie man kostbare Schnäpse mischt", das der Ullstein-Verlag gleich aufkaufte und verschwinden ließ, schließlich einige Buchdruckereibesitzer und - eben jene Tänzerin mit ihrem jetzigen Gatten.

Es ist - Olga Desmond.

Wer erinnert sich ihrer noch ? Es war die erste "anständige" Nackttänzerin unseres Zeitalters. Sicherlich so zweifelsfrei wie die Lady Godiva oder Monna Vanna der Legende. Ihr Vater, ein kleiner Buchdrucker, hatte elf lebendige Kinder und mußte sich schwer durchkämpfen, bis die junge Olga ihr Talent und die Schönheit ihres ebenmäßigen Körpers in Gold umsetzte, zuerst vor einer geladenen Gesellschaft einschließlich des Polizeipräsidenten - ich war auch dabei - ganz hüllenlos zwischen Schwertern tanzte und dann mit Brünne und Lendengurt vor zahlendem Publikum in Berlin, in Deutschland, im Auslande.

Für ihr reines Wollen legten Männer und Frauen der besten Kreise ihre Hand ins Feuer. Zu ihren eifrigsten Schildhaltern gehörte der alte Geheime Marineoberbaurat Hoßfeld, und wenn der mit seinem wießen Patriarchenbart für die Tänzerin eintrat, wurden auch die Zweifler und Spötter still. Natürlich war das - in der damaligen Zeit - ungeheure Sensation. Aber ich selber gestehe gern, daß in der ersten geladenen Gesellschaft, an der auch Richter, Pfarrer, Lehrer teilnahmen, kurzum Leute, die sich irgendwie für die öffentliche Moral verantwortlich fühlen, keine Erregung und keine Ablehnung merkbar wurde.

Es lag reine, scheue Andacht über dem Saal.

Später, als Olga Desmond bis zum Variété gekommen war, um Geld zu machen, schließlich, wenn ich mich recht erinnere, sogar mit Partner tanzte, war die Andacht freilich dahin, nur noch die Sensation da. Noch im vergangenen Jahre, jawohl, 1928, ist die Desmond in Leipzig und Hamburg aufgetreten, nachdem sie eine "operative Verjüngung" ihres Oberkörpers hat vornehmen lassen. Hm. Na ja. Sie hätte lieber nicht . . .

Sie hat das Tanzen ja auch nicht mehr nötig. Ihr Mann hat ein Theaterdekorationsgeschäft und liefert alles für die Rotterbühnen, während sie selber dort noch als Beraterin über Farbenwirkungen sich betätigt, bis zur Generalprobe jedes Stückes im Theater mitwirkt. Dazu sind die beiden, sie und ihr Mann, auf die Idee eines neuen Geschäfts gekommen, das sich, wie der Fall Weißenberger zeigt, in Weltstädten immer lohnt: auf die Idee einer neuen Sekte.

Der Mann ist nicht gerade wortmächtig, er hat nichts vom Volkspropheten an sich, aber die Hauptsache ist bei solchen Dingen ja doch, daß man kaufmännische Talente hat. Einige Werbeschriften sind schon erschienen. Es sind auch Gim-Postkarten, Gim-Briefbogen und andere Sektenbedürfnisse zu einem Preise, der etwas abwirft, zu haben. "G.i.m." heißt: Gott in mir. Frau Olga Desmond muß in einem langen weißen Gewande (im Hemd, sagen die Spötter des Stammtisches) à la Königin Luise im Grunewald Reklame spazierengehen, mit den großen goldgestickten Buchstaben G.i.m. auf der Brust. Autos bleiben gebannt stehen, Menschen reißen die Augen und die Mäuler auf. Die ehemalige Nackttänzerin verteilt Propagandaliteratur, hat auch schon in einem öffentlichen Gartenlokal einen Vortrag gehalten. Daß junge Tänzerinnen alte Betschwestern werden, hat man schon häufig erlebt, auch das Barmherzigkeitswerk der Schauspielerin Hedwig Wangel ist ja bekannt, aber man braucht doch nicht gleich eine Sekte zu gründen. Mit Gim-Postkarten. Und bald vielleicht Gim-Likör, Gim-Büstenhaltern, Gim-Gesundheitstee, Gim-Plattfußeinlagen, Gim-Rohkost. Das "Gott in mir" wird zur Blasphemie.

Heute sind entkleidete Mädchen keine Sensation mehr. Nur, daß die Polizei sagt: sie müssen, wenn sie nackt sind, stillstehen. So kann man sich diese "Plastiken" in jedem Bumskabarett selbst in Provinzstädten ansehen. Stillstehen, nicht mucken! Nackt tanzen aber, überhaupt sich bewegen, ist unsittlich, sagt die Polizei. Sie muß es ja wissen. Dieses polizeilich Verbotene gab es bis vor wenigen Jahren in heimlichen Nachtlokalen. Seit aber die Polizeistunde bis um drei Uhr verlängert ist und etliche Betriebe noch weiter geöffnet bleiben dürfen, ist das sehr geschrumpft.

Freie Nacht haben natürlich alle Klubs, und da die Mitglieder auch Gäste einführen dürfen, hat in Berlin jedermann, der einen Taler extra verjubeln will, die Möglichkeit, es auch noch nach drei Uhr zu tun.

Etwa im Klub Bühne und Film, wo der Dionysos der Sozialdemokratie, Herr Scheidemann, verkehrt. Oder im Künstlereck, wo nach dem Nachtdienst auch manche Presseleute sich treffen. Oder in dem Klub der Ensemble-Musiker in der Passage, wo gegen Morgen totmüde die Jazz-Spieler sich restaurieren.

Das sind sozusagen ganz gewöhnliche Klubs. Es gibt aber auch vornehmere, die auch keine Polizeistunde kennen. Und für das schlichte Volk, das keinen Anschluß an Klubkreise hat, stehen mit polizeilicher Genehmigung sogenannte Verbrecherkeller offen. Unsereins geht aber doch nur ungern hin und trinkt dort - Gläser gibt es nicht - Bier aus der Flasche. Im Westen, am Bayrischen Viertel, gibt es ein etwas feineres Nachtlokal, von dem ein begeisterter Bekannter aus Weimar, der es neulich zum erstenmal gesehen hat, so schwärmt, daß er mich bittet, ich solle es bloß nicht verraten; sonst kämen zu viele Leute in diese "Stätte der Bohème", und die Perle wäre alsbald abgegriffen.

Du liebe Güte, da ist nichts zu verraten. Tausende gehen doch täglich an der "Lunte" vorbei, die auch tagsüber geöffnet ist, Tausende kennen sie von einem gelegentlichen nächtlichen Besuch. Die Wirtin, die kleine Schwarze mit dem Tituskopf, macht zwar in Originalität, indem sie dauernd sehr dicke Zigarren raucht, bezahlt aber ordentlich ihre Steuern und fährt ihr eigenes Auto, was sie sicher nicht könnte, wenn nur Bohème bei ihr verkehrte.

Bohèmiens oder Zigeuner pflegen wir jene Intellektuellen zu nennen, die eine, eine einzige, Lücke im Intellekt haben: es fehlt ihnen der Ordnungssinn. Daher gelingt selbst den Begabten unter ihnen nichts Kaufmännisches. Sie setzen sich nicht durch, sie verschlampen, und sie hassen alle ordentlichen Menschen und den Ordnungsstaat. In der Lunte sind es zumeist Leute, die die kommunosozialistische "Weltbühne" lesen. Es verkehren auch manche Bolschewiken in dem an sich harmlosen Lokal. Wenn einer, anstatt zu sagen, "ich setze mich dahin", sagt, "iach kimm ßu setzen da", dann ist es ein Bolschewik. Auch sogenannte Anarchisten, etwas schmierige Leute vom Mühsam-Typ, tauchen hier zuweilen auf. Kaum als Verschwörer; sondern weil es hier billig ist. Das Essen, das Bier, der Schnaps; und die Tasse Kaffee mit Milch und Zucker bloß 30 Pfennige. Es wird viel Schnaps getrunken. Es findet sich immer einer, der "eine Lage schmeißt", aber mehr als 17 Schnäpse auf einmal können nicht verabfolgt werden, weil die Wirtin nicht mehr Gläser hat. Leute ohne Ordnungssinn, die aber noch Geld haben, trinken hier gern einen Schnaps. Besonderen Spaß scheint es ihnen zu machen, wenn die Mädchen, die man bei Bohème und Anarchie immer findet, auch sehr unordentlich werden und wahllos den Nachbar rechts und den Nachbar links umhalsen und mit dem Gegenüber fußeln.

Gelegentlich tritt der leibhaftige Gevatter Tod ein und läßt sich von den Lärmenden mit ein paar Zigaretten und einer Reichsmark abfinden. Es ist ein ehedem sehr bekannter expressionistischer Maler, heute durch Morphium und andere Rauschgifte zur Ruine geworden. Er ist ein bleiches Gerippe. Knöchern hängt ihm die Nase über das eingefallene Gesicht, das schwarze Haar über die leichenfahlen Ohren. Eines der Mädchen, die in diesem Lokal verkehren, wird vielleicht bald auch so weit sein, obwohl die kaum Achtzehnjährige heute noch durch Mitgröhlen Lebensbejahung markiert. Zuweilen irrlichtert irgendein Genieblitz über diesem Konvivium der für die bürgerliche Welt nicht passenden sogenannten Bohèmiens, die großenteils nicht aus Böhmen, sondern aus Galizien, Polen, Litauen stammen, aber im Grunde ist das Ganze doch nur großstädtischer Menschenkehricht.

10. Oktober 1929 (Donnerstag)



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Karlheinz Everts