"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 7 - 9
25. Oktober bis 8. November 1928


7

Die Buchstabensprache - Hokla oder Pokla ? - Schwätzer und Tatmenschen - Hugenbergs Wahl - Arras, Verdun, Ypern im Relief - Niemand kommt - Der Glaube an die Kabbala - Das suggestive Parfüm aus der Kleiststraße.

Meldung von Feldwache. Kurz und schnell. Bataillon und Kompagnie in römischen und arabischen Ziffern. Unter dem Namen steht "Lt.", nicht "Leutnant"; die Abkürzung genügt. Dagegen ist nichts zu sagen.

Aber für das gesprochene Wort sind die Verstümmelungen unnötig, ja geschmacklos. Noch mehr gilt dies bei Verleimung von Buchstabenstummeln zu neuen Worten; neue Worte müssen geboren, nicht gemacht werden. Schon die "Ila" für die Internationale Luftfahrtausstellung will mir nicht recht von den Lippen. Ich gehe auch nie ins "Kadewe", sondern nur höchst selten ins Kaufhaus des Westens. Kommen nun gar Leute verschiedener Berufs- und Interessenkreise zusammen, so gibt es in der Unterhaltung ein Buchstabengemenge, aus dem man sich nicht mehr herausfindet. Das "Begebe" ist das Bürgerliche Gesetbuch, nun gut. Aber wenn vom "Erefbe" gesprochen wird, ist das nun der Reichsfaustkämpferbund oder der Rotfrontkämpferbund ? Und gehört ein "Zevauer" zum Zentralverein jüdischer Staatsbürger oder zu einem Verein der Zentrumspartei ? Ist es nötig, daß man einen Korpsstudenten - ich will einmal so schreiben, wie es ausgesprochen wird - einen "Eßzäher" nennt ? Natürlich gibt es auch geborene neue Kurzworte, besonders bei den Engländern, die die Buchstabenseuche mit "Empi" - M.P., member of parliament - zuerst verbreitet haben. So heißen drüben, onomatopoetisch nach dem Geräusch benannt, die Galoschen mit Reißverschluß einfach "zip", und dieses Wort wird bleiben und ins Lexikon kommen. Wenn aber bei uns am Tisch jemand mit leuchtenden Augen von seinem "Einzoh" (1.O.) erzählt, unterbreche ich und raste nicht, bis es heißt: der Erste Offizier. Besonders lästig ist die Stenogrammsprache in Berlin, wo hundertfältig alles durcheinanderschwirrt. Ich kann wild werden, wenn jemand vom "Schupo" statt vom Schutzmann spricht. Jetzt fährt man seit Anfang Oktober ja auch nicht mehr dritter oder zweiter, sondern Holz- oder Polsterklasse, also: Hokla oder Pokla. Warum nicht noch einfacher Ho oder Po ? Und wenn man statt einer zwei Fahrkarten braucht, kann man es sich ja noch mehr erleichtern. Man sagt am Schalter kurz und schneidig etwa: Hoho Dresden! Oder: Popo Warnemünde!

Zum Glück ist der Stahlhelm noch nicht zu einem "Eß-Tee" geworden, sondern nennt sich sinngerecht und klangvoll mit dem richtigen Wort. Das Drängen zur angeblichen Kürze, indem man Buchstaben für Begriffe einsetzt, mag seelisch ja erklärlich sein. Wir sind im Grunde ein Volk von Schwätzern, die das Bibelwort vergessen haben, daß wir am Jüngsten Gericht von jedem unnützen Wort Rechenschaft ablegen müssen. Für Berliner Geselligkeit ist es bezeichnend, daß jeder redet, niemand zuhört; denn jeder legt sich schon zurecht, womit er brillieren will. Ich selber, der ich stundenlang schweigen kann, gelte als "doof". Für Stammtische bin ich unmöglich. Während des Krieges wurde alles ausgeschwatzt. Jetzt plätschert der Rundfunk die blödesten Vorträge. Unsere Hochachtungsbeteuerungen am Schluß von Briefen sind so lang wie früher ein chinesischer Zopf. In jeder Todesanzeige in der Zeitung - gerade eben ist wieder ein prächtiger und im Leben so lieber "Oberstudiendirektor i.R. Geh. Studienrat Prof. Dr." Soundso gestorben - wimmelt es von Titeln. Da ist es also so etwas wie eine verschämte Reaktion, wie eine scheinbare Rückkehr zu sachlicher Kürze, wenn wir das Buchstabengestammel einführen. Es kommt aber weder auf Schwatzen noch auf Stammeln an, sondern auf Tun. Das weiß der Stahlhelm, Bund deutscher Frontsoldaten. Das scheint auch die "De-Änn-Vau-Peh", ich meine die Deutschnationale Volkspartei, eingesehen zu haben, die sich jetzt einen neuen Führer gekürt hat, dem in seinem ganzen Leben bisher das Handeln über das Reden ging. Seit Jahren versuchen ihn die Jungdeutschen und die Ullsteiner durch ihre Polemik zu "vernichten", indem sie diesen Geheimrat Hugenberg, den Todfeind der Plutokratie unseres demokratisch-parlamentarischen Systems, als Häuptling der Plutokraten bezeichnen. Sie wähnten ihn schon erledigt, unter ihrem Druckpapier erstickt. Er war Gegner des Dawes-Diktats, Gegner der Locarnopolitik, Gegner des Eintritts der Deutschnationalen in die Regierung, Gegner der ganzen Schachermachei im Reichstage. Nun werde er - so hieß es, halb triumphierend, halb ängstlich, noch zuletzt - die Partei sprengen und mit einer kleinen Gruppe von Monarchisten austreten. Statt dessen ist er der alleinige Führer der Gesamtpartei geworden. Nur er stand vor den 269 Wahlmännern der Partei schließlich zur Wahl, mit "Ja" oder "Nein" wurde abgesteimmt, eine klare Entscheidung. Es hat verschiedene Anwärter auf den Führerposten noch bis in die letzten Tage hinein gegeben, nicht nur solche, die etwas werden, sondern auch solche, die etwas leisten wollten, darunter manche Männer, die hoch einzuschätzen sind. Sie arbeiteten mit den üblichen Wahlmitteln des Parlamentarismus, sie hatten Besprechungen mit ihnen nahestehenden Presseleuten und dergleichen mehr. Der einzige, von dem ich nichts gehört habe, der einzige, der keine Reklame betrieb, war "der Herr über Presse und Film", wie sie ihn nennen, war Hugenberg. Das ist für mich das psychologisch interessanteste an der ganzen Sache. Selbstverständlich ist eine so große Partei nicht arm an Intelligenzen, auch nicht arm an Charakteren, man hätte also, auch wenn es keinen Hugenberg gäbe, schon jemand gefunden, der "den ganzen Laden schmeißen" könnte. Nur ist Hugenberg die stärkste Energie bei kühlstem Denken, und das, obwohl er eine deutsch-vaterländische, lodernde Natur von mächtigem Temperament ist. Natürlich ist er Monarchist, weil er kein geschichtsloser Mensch ist. Aber es hat Zeiten gegeben, wo er den Kaiser "gehaßt" hat, gehaßt mit der brünstigen Liebe zu Deutschland, das von diesem Kaiser nicht emporgerissen werde. Die Männer der Republik haßt er nicht; aber ich glaube, er verachtet sie. Und wenn etwas seine absolut monarchische Einstellung befestigt hat, so sind es wohl die letzten zehn Jahre jämmerlichster deutscher Politik gewesen. Auch die deutschnationale Volkspartei sah er wegsinken. Jetzt soll sie wieder empor, aber nicht etwa, wie Jungdeutsche und Ullsteiner vorgeben, als Büttel des "Kapitalismus", der für Hugenberg nur Waffe für die Befreiung des deutschen Menschen von der Plutokratie ist, sondern als Kämpfer für ein wieder starkes, sauberes, wohlregiertes Reich, in dem Arbeiter und Unternehmer, Bauer und Beamter, Kaufmann und Akademiker gesichert und glücklich und stolz sich und der Familie und der Nation leben können. Auch andere Parteien haben zur Zeit ihre Führerkrisen. Marx tritt von der Leitung des Zentrums zurück. Koch-Weser hat von seinen Demokraten kein Vertrauensvotum mehr bekommen. Das alles sind Leute, die nicht begriffen haben, daß dem deutschen Volke der ganze Parlamentarismus der letzten Jahre zum Halse heraushängt, und die sich damit begnügen, die "laufenden Geschäfte zu erledigen" wie ein Feldwebel in der Kompganie, statt vaterländischer Führer zu sein. So viel ist klar: Hugenberg ist kein Feldwebel; er wird in seinem neuen Amte nicht etwa Aktennummern abarbeiten und mit Unterschriftenmappen hantieren. Er ist auch sein Lebtag mehr Stratege denn Taktiker gewesen. Sicherlich hat er manchen taktischen Fehler begangen, der ihm die Gegnerschaft sogar von Gesinnungsgenossen zuzog. Daß manche Deutschnationalen jetzt ein bedenkliches Gesicht machen, ist da ganz verständlich. Die Deutschnationalen sind kein Orden, keine Zunft, kein Wehrbund, sondern eine Arbeitsgemeinschaft von vier ehedem selbständigen Gruppen, die sich vor 1918 deutschkonservativ, freikonservativ, christlich-sozial, deutschsozial nannten. Verschmelzungsprozesse baruchen Zeit. Sie werden aber beschleunigt, wenn eine Persönlichkeit an der Retorte steht.

Jedenfalls horcht das Ausland hoch auf. Jenseits unserer Grenzen hat man das Gefühl, daß die Wahl des neuen Parteiführers, die bei uns nicht so gewertet wird, eine kulturgeschichtliche Epoche für uns bedeuten kann. Vielleicht beginne jetzt die Wende in Deutschland, komme allmählich das Erwachen zu nationalem Selbstbewußtsein. Mit einem Engländer war ich dieser Tage in einer Ausstellung von drei riesigen, 50, 80 und 60 Quadratmeter großen Reliefs der Kriegsschauplätze von - um nur die Hauptorte des weiten Geländes zu bezeichnen - Arras, Verdun und Ypern, genau in dem Zustand von 1914, mit über 100 000 kleinen Häuschen, mit Kirchen und Wäldern und Forts und Kanälen, topographisch von äußerster Genauigkeit und dazu mit sehr bequemer elektrischer Orientierung. Ich erzähle gerade, daß mein Ältester seine erste schwere Verwundung am Toten Mann vor Verdun erhielt. Wo ist das ? Druck auf den Knopf "Toter Mann", der seitlich auf einem Pult neben vielen anderen angebracht ist: da leuchtet hinten links auf dem Berge das Lämpchen auf. Ja, und als das Regiment 201 an mir nach Langemark vorübermarschierte, - da, da! Und nun wollen wir uns Béthune ansehen. Und den Kemmel. Und da: das Tuchhaus von Ypern! Und hier südlich von Verdun an der Schleife, da sind die Amerikaner durchgebrochen. Ein Münchener Professor soll diese Relief-Idee gehabt und mit mehreren Mitarbeitern durchgeführt haben; die Reliefs sind jetzt, erstmalig, im Europahaus am Askanischen Platz ausgestellt, sollen dann von Ostpreußen an durch das ganze Reich wandern und im kommenden Jahr, zur Kyffhäuserverbandstagung, für längere Zeit in München landen. Mein Engländer ist so begeistert, so etwas Schönes und Instruktives hat er nicht einmal im War-Museum in London gesehen, aber er ist erstaunt, daß wir nur zu zweit da sind, daß nicht Massen kommen. Und dann sieht er die Nummer seiner 50-Pfennig-Eintrittskarte an und ist erschüttert: also vom 7. bis zum 23. Oktober sind im ganzen - nur 161 zahlende Besucher dagewesen!

Das ist wirklich erschütternd. Ich habe noch einige Male jemand da hingebracht. Niemand hat bisher von der Sache gehört. Ja, wenn ein neues Kabarett eröffnet wäre! Das wüßte jedermann in Berlin.

Und manche Leute, die von Kabaretts und Tanzdielen nichts hören wollen, sogenannte "tiefer angelegte" Naturen, verschreiben sich dafür der Mystik. Ich sitze mit zwei jungen Leuten und deren lieber, mütterlicher Freundin zusammen, mit der ich mich über die Irrwege der hochbegabten jetzigen Frau Ludendorff unterhalte. Und da bin ich denn doch betroffen, mit welcher Gläubigkeit diese Gräfin, diese ruhige evangelische Christin, die da neben mir sitzt, von der Zahlenmagie der jüdischen Kabbala spricht. Ganz ernst. Und nachher sehe ich in der Kleiststraße vor der "Okkultistischen Buchhandlung" an den Schaufenstern sich wie üblich ganze Gruppen drängen. Was es doch für merkwürdige Bücher gibt! "Ebbe und Flut im Blute". "Das Schicksal der Herbstmenschen in den Jahren 1928 bis 1931". "Astrologie und Börse". "Wir vom dritten Geschlecht". Dann sind da Monatssteinchen ausgestellt, zwölf an der Zahl, von denen man je eines immer als Amulett tragen soll. Alles, was es an Kabbala-Aberglauben um das Jahr 1400 gab, wiederholt sich heute in moderner Aufmachung. In der Mitte des Schaufensters eine Anzahl kleiner Flacons mit den verschiedenen Zeichen des Tierkreises: "Das suggestive Parfüm Sympathie, zusammengestellt nach okkulten wissenschaftlichen Grundsätzen." Das wäre so was für mich. Eine weitere Inschrift besagt: "Siehe unter welchem Stern Du geboren bist, dann findest Du das Parfüm Deiner Persönlichkeit und magischen Wirkung." Das müßte man wirklich versuchen.

Auf natürliche Parfüms fliege ich. In duftendes aufgelöstes Frauenhaar habe ich, das bekenne ich offen, stets gern meine Nase gesteckt. Vielleicht deshalb mag ich Bubiköpfe nur selten, weil sie fast immer nach Brennschere riechen; und im Mittelalter war die Vorstellung vom Teufel immer mit dem Gestank von Schwefel und verbranntem Haar verbunden. Ich selber bin nie abergläubisch gewesen, habe an die Heilmittel aus Wiedehopfblut und Menschengalle nie geglaubt, auch nicht an die Kraft pulverisierter Augen von Krähen, die bei Vollmond in einer Neujahrsnacht geschossen sein mußten; die Frau des Altreichskanzlers Fürsten Bismarck glaubte noch daran und sammelte solche Krähenaugen. Das war auch eine "tiefer angelegte" Natur. Aber mit Parfüms, ja, das ist eine andere Sache. Wir wissen ja alle, was es bedeutet, wenn jemand in gutem Geruche steht, haben auch von aufreizenden Salben und Essenzen aller großen Amoureusen viel gehört.

Also hineinspaziert in die Okkultistische Buchhandlung in der Kleiststraße. Ich möchte suggestives Parfüm haben. Ich nenne auch gleich meinen Geburtstag. Nein, darauf komme es weniger an, belehrt mich milde lächelnd der alte Ladeninhaber; den Geburtstag meiner Freundin müsse ich nennen, die Wirkung auf die würde ich nur erleben, wenn ich Duftstoffe von Pflanzen wählte, die in dem gleichen Monat gediehen seien, also unter Umständen exotische Pflanzen, wenn es ein Winterdatum sei. Nun gut. Ich nenne also den Geburtstag der Dame und bekomme das entsprechende Fläschchen von diesen Parfüms, die eine Freiburger Firma in Massen vertreibt. Vorschriftsmäßig betupfe ich damit ein reines Leinentaschentuch, atme den Duft, der mich etwas herbe dünkt, ein, und fahre eine halbe Stunde später bei der Dame vor. Und was sind ihre ersten Worte ?

"Wo bist Du eigentlich gewesen ? Du riechst so gräßlich!"

So, da haben wir den Salat. Ich bin aber gar nicht niedergeschmettert. Im Gegenteil. Ich freue mich, wieder einmal den abergläubischen Schwindel festgestellt zu haben. Also zurück zum Okkultisten. Eine schöne Geschichte habe er da angerichtet. Die Dame fände mich gräßlich. Und ich hätte doch richtig ihr Geburtstagsparfüm gekauft. Und da lächelt der Alte überlegen und sagt, das komme vor. Wahrscheinlich habe die Dame, das täten sie oft, ein falsches Datum angegeben.

Nein, mein Lieber, das stimmt nicht. Das Datum steht auf meinem amtlichen Trauschein. Die Dame ist meine Frau.
25. Oktober 1928 (Donnerstag)


8

Kaviar fürs Volk - Kempinski-Unger als Psychologen - "Et war wunnerscheen" - Der neue Oberlandforstmeister - Die kleine Pause - Bei meinem Trainer - Kai-hong-fi.

Der alte Kempinski hatte, als er aus Breslau nach Berlin kam, eine Idee: Kaviar fürs Volk! Was es bei Kommerzienrats in der Tiergartenstraße gab oder was der Rittmeister von den Gardekürassieren einmal bei Dressel seinen Freunden auftischen ließ, das sollte, nur in kleinen Portionen und ganz billig, auch bei Kempinski in der Leipziger Straße zu haben sein. Für alle. Bei Kempinski wurden die Austern, die man anderswo nur im Dutzend bekam, in das Dezimalsystem eingereiht. Man konnte sich fünf Stück bestellen; dazu eine Viertelflasche Schaumwein. Piefkes lernten Artischocken lutschen. Lehmanns erkannten, daß es plebejisch sei, auf den Kaviar Zwiebel zu streuen, als sei er ein Tatar-Beefsteak. Jedes Tippfräulein wußte fortan mit der Hummergabel umzugehen. Diese Demokratisierung der kulinarischen Genüsse, die große Idee des wackeren Kempinski, durch die er zum Millionär wurde, hat, auch noch nach seinem Tode, immer wieder Nachahmer gefunden. Nur hatten alle die neuen Lokale eine Eigentümlichkeit und haben sie noch, die manchen lästig ist, viele aber erst recht anzieht: man tut da feiner, als man ist.

Kommerzienrat Unger, des alten Kempinski Schwiegersohn und Erbe, hat das Unternehmen nun noch weiter assortiert. Der Betrieb Kempinski im Haus Vaterland am Potsdamer Platz, dem "Haus der Nationen", von dem ich schon einmal erzählte, hat "viele Wohnungen", wie man es biblisch ausdrücken könnte. Jeder Besucher kann je nach Stimmung, Kleidung, Erziehung das wählen, was ihm paßt: den "feinen Benimm" in der Tanzdiele des Palmensaales oder das Juhu und Duliöh in Oberbayern oder den Dämmer der Knutsch-Ecken im türkischen Café oder die Wein- und Walzerseligkeit in Wien-Grinzing oder die edle Zecherfreude auf der Rheinterrasse oder das Sichaustoben in der Wild-West-Bar; kann irgendeiner Dolores oder Concepcion beim Kastagnettentanz zwischen den Fässern der spanischen Bodega eine Rose zuwerfen oder sich an seinem Tisch in der ungarischen Pußta bei feurigem Szamorodner von Zigeunern etwas vorfiedeln lassen. Dann geht man in dem Palazzo mt dem fürstlichen Treppenhaus eine Tür weiter und ist in einem anderen Lande, in einem anderen Publikum. Um Mitternacht herum ist schon das demokratische Durcheinander da. Im türkischen Café dienert einer der Nigger vor einem Tischchen, an dem im Smoking ein italienischer Conte und ein russischer Fürst und im Abendkleid dessen junge Gattin sitzen; sie unterhalten sich über Graf Gobineaus Rassentheorien. Aus der Nische nebenan aber leuchtet nur ein weißer Mädchenarm, der um den Hals eines jungen Mannes geschlungen ist und sich minutenlang, ewigkeitenlang nicht löst: Kostümchen und Sportanzug. Lärmend nahen andere, die allzulange drüben von bayrischen Madln - leider den knochigsten, derbsten, die aufzutreiben waren - sich helles Münchener haben kredenzen lassen, nachdem sie vorher angesichts des nächtlichen Wiens mit dem Stephansdom und den über die Donaubrücke fahrenden erleuchteten Trambahnen den Heurigen reichlich erprobt haben. "Wissens", sagt der Ferdl, einer der Kellner, zu ihnen, während er den Weinheber aus Glas in das Gestell setzt und ihnen zeigt, wie man unten an der Röhre den Becher füllt, "wissens, der Heirige, dös wird mit eu geschriebn, aber der würklich Feirige, auch mit eu geschriebn, dös is nit der Heirige, sondern der Olte, den solltens nemman!" Also gut, einen ganzen Heber vom Alten; der geht ins Geblüt, da ist man sehr bald für den "Anschluß" begeistert; ich meine natürlich den von Österreich an Deutschland. Schon das fünfte Mal in diesen zwei Monaten bin ich im Betrieb Kempinski im Haus Vaterland, denn jeder Besucher, der aus dem Reiche zu mir kommt, fragt sofort, indem er sich unbewußt und begehrlich die Lippen leckt, ob ich ihm das nicht zeigen möchte. Da ist wieder einer, der macht mich auf den Nebentisch aufmerksam, wo der "Anschluß" schon sehr weit vorgeschritten ist. Eine sehr stattliche Dame, man kann nur sagen, sie ist schlachtreif, gibt ihrem Begleiter, es sitzen drei augenscheinlich gut bekannte Paare da, einen herzhaften Kuß. Wir haben wohl zu auffällig uns umgedreht. Und da hebt sie ihr Glas und ruft herüber: "Ja, da schauen Sie her! Das ist wohl unmoralisch, nicht ? Aber es ist doch so schön!" Bewahre, es ist gar nicht unmoralisch. Vielleicht nicht gerade geschmackvoll. Aber jedenfalls dionysisch in Volksausgabe. Das Geschlecht der Kempinski gehört zu den besten Psychologen, die es in Neuberlin gibt, soviel ist jedem Besucher schon klar. "Das Geschäft ist richtig."

Sogar unsere alte Waschfrau, die freilich selber noch nie bei Kempinski war, weiß, wie es da zugeht, denn ihr Sohn war da, der Chauffeur, und ihre Schwiegertochter, die früher Dienstmädchen war, jetzt aber bis vormittags 11 Uhr im Bett sich räkelt. Außerdem hat die Alte den großen Delikatessenkorb gesehen, "mit Spickjans un so", der am vorigen Sonnabend, bei Kempinski gekauft, als Geschenk zu dem Jubelpaar kam, den goldenen Hochzeitern drüben im Kohlenkeller. Der alte Lindner ist ein Prachtkerl, knorrig und aufrecht, hat während des Krieges bei jedem Siege seinen Keller als erster beflaggt, dann auch noch beim Einzug von Ehrhardts Marinebrigade. Er schultert seine Kiepen mit Briketts wie ein Junger und gibt wie ein unbekümmerter Junger auch politisch Bescheid, ohne jede für Geschäftsleute angeblich so nötige Leisetreterei. Unsere ganze Straße richtet sich an ihm empor und bekommt durch ihn Halt. Als in der Dreifaltigkeitskirche die Einsegnung stattfand, war das Gotteshaus gepfropft voll. "Et war wunnerscheen, det reene Trauerspiel!", sagt unsere alte Waschfrau und schneuzt sich gerührt. Zu der großen Kaffeetafel beim Kohlenmann und seiner gelähmten Gattin, die er mit vorbildlicher Sorgfalt betreut, bin ich nicht hingegangen, aber ich habe ihm wie so viele andere, die er unmöglich alle aufnehmen konnte, ein herzliches Telegramm geschickt, in dem auch ein Wunsch für unser Vaterkand angebracht war; und als es vorgelesen wurde, da sagte er laut und deutlich: "Gerade so denke ich!" Und gerade so denkt sein Sohn, der Helfer in dem Kohlengeschäft des Vaters, und alle die anderen Kinder und Schwiegerkinder. Es wird einem ganz warm vor Freude. Mit uns paar alten Leuten vom alten System aus sogenannten "besseren" Ständen hätte November-Deutschland verhältnismäßig leichtes Spiel. Aber die Gesinnungstreue dieser Menschen "aus dem Volk", das ist eine Mauer, die man nicht durchbrechen kann. Ich habe schon manche vornehme Damenhand an die Lippen geführt, manche Hand bedeutender Männer geschüttelt, aber kaum je ist mir so wohl, als wenn dieser alte Kohlenhändler mir seine geschwärzte Rechte entgegenstreckt.

Darum kann man auch zu allen Versuchen der Neuregierer, uns eine "moderne" Gesinnung aufzuoktroyieren, so mitleidig lächeln. Es gelingt ihnen nicht. Auch wenn sie alle Ämter besetzen und nur in ihrem Sinn "zuverlässigen" Nachwuchs an die Ämter heranlassen. Wie sagte doch einmal einer dieser Minister ? "An meiner derzeit republikanischen Gesinnung ist kein Zweifel!" Derzeit. Es kann einmal auch anders kommen. Für das Amt des Oberlandforstmeisters, das bisher der rechtsstehende v.d.Bussche innehatte, hat man jetzt nach mühseligem Suchen endlich einen Demokraten aufgegabelt, den Oberforstrat Dörr in Kassel. "Unser Herr Dörr" kommt also nun nach Berlin, denn, so wurde dem völlig verblüfften Herrn v.d.Bussche vom Minister mitgeteilt, die Sozialdemokraten bestünden auf seiner Ablösung durch Dörr. Der hat alsbald den Mitgliedern seiner alten Studentenverbindung "Freya" in Hannöversch-Münden mitgeteilt, daß er jederzeit für sie zu sprechen sei, auch im Ministerium in Berlin; wenn sie ihre Karte hereinschickten, sollten sie sie durch den Zirkel kenntlich machen. Hieß es nicht früher, in der Kaiserzeit, in demokratischen Blättern stets, die Vetternwirtschaft in den studentischen Korps sei ein Skandal ? Aber natürlich kann "unser Herr Dörr" nur Gesinnungsgenossen brauchen. Seine Spezialität - die ist übrigens für alle Demokraten bezeichnend - war bisher das Entwerfen von Uniformänderungen und Titeländerungen, während er jetzt auch dafür zu sorgen bestrebt ist, daß die jungen Kommilitonen des Forstfaches die vorschriftsmäßige Gesinnung haben. In der "Freya" in Hannöversch-Münden hängt auf der Diele, als Ersatz für ein minderwertiges altes, ein neugestiftetes gutes Bild des Kaisers, das ein Alter Herr der Verbindung ihr geschenkt hat. Dörr sieht es und sagt: "Sorgt dafür, daß das Bild schnell wieder verschwindet!" Antwortet ihm da sein Begleiter, ein junger Student: "Ich wäre der letzte, dazu die Hand zu bieten, dazu hat meine Familie zu viel Gutes vom Königshause erfahren." Worauf ihn Dörr groß ansieht und mit Betonung erklärt: "Mit einer solchen Gesinnung machen Sie sich aber für den Staatsdienst unmöglich!" Das ist also sozusagen die Aufforderung zur Gesinnungslumperei, zu einem "Derzeit"-Bekenntnis, das in vielen Fällen ja wohl auch abgegeben wird. Der neue Oberlandforstmeister, dem übrigens der altmodische Meistertitel nicht gefällt und der lieber Ministerialforstdirektor heißen möchte, wird schon dafür sorgen, daß es an dem Bekenntnis nicht fehlt; und im übrigen zusehen, daß er auf keinen Fall die Sympathien der Waldarbeiter-Gewerkschaften verliert, die von "unserem Herrn Dörr" sehr viel erwarten.

Nur Geduld. Es wird alles schon kommen, wenn die Zeit so weit ist. Wir sind mit der Liquidierung des alten Kapitalismus noch beschäftigt, sagen die Sozialdemokraten immer, wenn man sie fragt, wann nun endlich der glückhafte sozialistische Zukunftsstaat komme. Es ist nur eine natürliche vorschriftsmäßige Pause. So wie beim Wäffelchenbacken: schnell ein Vaterunser beten, dann erst umdrehen, sagt die rheinische Hausfrau ihren Töchtern, sonst würden die Wäffelchen nicht richtig. Oder wie es früher beim Militär hieß: "Nach dem Kommando 'Helm ab zum Gebet' zählt jeder still bis 30 und setzt dann den Helm wieder auf!" Auch bei "Das Gewehr - über!" muß man ja, wenn man das Gewehr übergenommen hat, einen Moment pausieren und dann erst wieder mit dem rechten Arm zur Hüfte abhauen. Zum Markieren der Pause gehören nur drei in Gedanken gesprochene Worte. Die Tempi lauten also: "1, 2, 3, Urlaub gibts nicht, 4!" Wir leben in dieser Pause. Achtung, Achtung: gleich ist das goldene Zeitalter da. Schade, daß es so viele Leute nicht erwarten können. In Berlin hat es wieder - diesmal an einem einzigen Tage - sieben Selbstmorde und acht Selbstmordversuche gegeben.

Wohl dem, der noch einen Ausweg findet, irgendeine Arbeit. Der Beruf des Trainers vor allem ist im Anstieg. Diesen Beruf habe ich früher nur von der Morgenarbeit der Rennpferde her gekannt. Ich selbst bin eine Zeit lang dann, aber nur als Amateur, Trainer in einem Ruderklub gewesen. Später erfuhren wir, daß jeder Meisterboxer seinen Trainer habe, der ihm probeweise ins Gesicht hiebe; und nach Möglichkeit sei das ein Neger, der seinerseits einen Eisenschädel habe. Auch Tennis-Trainer gibt es in hellen Haufen. Selbstverständlich hat die Mondäne ihren Tanz-Trainer noch neben ihrem Partner. "Heute muß ich den Generaldirektor X arbeiten und dann trainiere ich die Filmschauspielerin Y!", sagt sogar der Masseur. Greise werden trainiert, Säuglinge werden trainiert; neulich sitzt eine junge Komteß aus Pommern bei mir, die von der Pension des Vaters oder der Landwirtschaft des Onkels nicht mehr ausreichend genährt werden kann und daher ihren Lebensunterhalt aus dem Säuglingsturnen bezieht. Bei den Sängern sagt man, glaube ich, noch nicht Trainer, sondern Korrepetitor; aber ich habe einmal zugehört, wie die ebenfalls hochmusikalische Frau eines Operettentenors ihn stundenlang drillte, und das war ein sehr scharfes Training. Begegnet man heute in Berlin einem Bekannten, so sagt der einem manchmal: "Ich bin gerade unterwegs zu meinem Trainer!" Was für einem, weiß man nicht gleich; vielleicht ist der Bekannte an einem Rennstall beteiligt, vielleicht will er an dem nächsten Bundeskegeln teilnehmen, vielleicht läßt er sich auch nur seine Glatze behandeln. Früher sagte der Mann von Welt in Berlin: "Ich muß mal an meinen Makler telephonieren!" Heute gibt es nicht mehr diese täglichen Aufträge an die Börse, die übrigens nur die ganz Großen ihrem Makler gaben, die vielen anderen ihrem kleinen Bankier. Aber wenn man keinen Trainer hat, muß man sich eigentlich schämen. Also nun habe ich mir endlich auch einen zugelegt. Ich werde zwar nie auf das hohe C hin trainieren oder auf einen Weitsprung von 7,95 Metern, aber - ich habe jetzt meinen Billardtrainer. Zuerst habe ich ein paar Probestöße machen müssen. "Schön!", sagte er. "Bauernlackl!", dachte er. Dann mußte ich die drei Bälle im Winkel von 67,5 Grad oder in irgendeinem anderen Winkel zueinander aufstellen. "Hm!", sagte er. "Kein Augenmaß!", dachte er. Dann führte er mich in die Theorie und Mathematik des Spieles ein und ließ mich verschiedene direkte Bälle spielen, aber sie nur dann gelten, wenn zwei und drei nach dem Stoße ganz nah zueinander liefen. Schließlich erklärte er, nach ein paar Monaten würde ich so weit sein, anstandslos eine Bandenserie, ja vielleicht sogar schon eine Strichserie von 100 Points hintereinander machen zu können. Vor mir hatten ein Studienrat und seine Frau denselben Fortbildungsunterricht gehabt. Mein Trainer heißt Robert Zielka und wohnt in einer unmöglichen Gegend vier Treppen hoch, aber ist man erst oben, so ist man erstaunt über die sieben trefflichen Billards verschiedener Größen in zwei weiten Zimmern. Mir tut dieser Zielka, einer der ersten deutschen Spieler, mit seinen schon gichtischen und trotzdem so sicheren Fingern von Herzen leid; er war einmal Besitzer eines der größten Billardcafés von Berlin, eines Millionenobjektes, das ihm durch sehr üble Machenschaften entrissen worden ist. Sein Schwiegersohn ist der Billardweltmeister Hagenlocher in New York. Zielka selbst hat zuletzt von Erwerbslosenunterstützung leben müssen; jetzt hofft er, durch seine Billardschule wieder hoch zu kommen. Mein Trainer! Er meint, er habe Aussichten. Ping-Pong schafften die Leute ab und legten sich dafür einen Billardtisch zu. Bitte sehr. Aber manche meiner Bekannten schütteln doch den Kopf. Sie trainieren lieber Bridge bei einer der vielen Damen des Westens, die Gesellschaftsabende mit Kartenspiel veranstalten.

Nach der Stunde bei meinem Trainer (es werden ihr nicht allzuviele folgen, denn erstens habe ich wenig Zeit, zweitens erlahmt mein Interesse meist nach der ausgeführten Erkundung) rufe ich eine Autodroschke an. Unter den Berliner Autolenkern gibt es den tollsten Menschensalat. Mich hat schon ein Sohn des Landrats v.Etzdorf, ein Sohn Kutiskers, ein kaiserlich russischer Oberst, ein deutscher Assistenzarzt im Taxi durch Berlin gefahren. Diesmal grinst ein Gelber, wie aus dem Film geschnitten, vom Bock. Wie er heiße ? Kai-hong-fi! Und woher ? Aus Tsinanfu! Nachher Landarbeiter in Irkutsk und Kiew. Hausdiener in der Schweiz. Seit 1915 in Berlin, zuerst auch in einer Familie bedienstet, jetzt seit Jahren Chauffeur. Spricht chinesisch, russisch, deutsch, ein wenig französisch. "Is gut, wenn Arbeit hat." Recht so. Nur solange in Deutschland Hunderttausende vergeblich nach Arbeit suchen, wünsche ich Herrn Kai-hong-fi wieder einen guten Hausdienerposten in der Schweiz oder in Irkutsk oder irgendwo in Schantung.
1. November 1928 (Donnerstag)


9

Schiller und wir - Mädchen von heute - Kameradschaftsehe als Keinkindsystem - Weltgeschichte erst seit dem November - Die Geselligkeit beginnt - Benvenuto Hauptmann - Für Misdroy im Kaiserhof - Die neugebackene Gräfin Arbato.

"Wie ein Gebild aus Himmelshöh'n, mit züchtigen, verschämten Wangen, sieht er die Jungfrau vor sich steh'n."

Natürlich war auch er knallrot, als er die ersten Worte stammelte, die eine Werbung sein sollten. Es war die Erregung eines guten Herzens. Er schwor sich innerlich, wenn Gott ihn mit diesem Mädchen begnade, sein Lebtag den Dank dafür abtragen zu wollen. Ich sehe den Jüngling noch deutlich vor mir. Ich bin es selber gewesen. Aber selbstverständlich waren Jüngling und Jungfrau im vorigen Jahrhundert geboren. Heute, und noch dazu in Berlin, wirkt Schiller mit seinem Gebild aus Himmelshöh'n geradezu lächerlich altmodisch, wenn man sich dazu eine moderne Knäbin mit Herrenschnitt, Monokel, Sportbeinen und schwefelgelben Zigarettenfingern vorstellt. So eine, die sich auch über die Männer gar keine Illusionen mehr macht; denn sie hat sie in des Wortes verwegenster Bedeutung erprobt. Natürlich weiß sie eine Menge mehr als ihre Schwestern aus dem vorigen Jahrhundert. Und wenn sie bloß Kochlehrerin werden will, muß sie Kollegs über experimentelle Psychologie und soziologische Pädagogik hören. Auch von der Krankenpflegerin wird man nächstens, ehe ihre eigentliche Ausbildung beginnt, mindestens Obersekundareife verlangen. Ich denke nicht daran, mich den Notwendigkeiten zu verschließen, die Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich gebracht haben, es lohnt auch gar nicht, etwa dagegen zu eifern, daß heute so gut wie jedes junge Mädchen einen Beruf im Erwerbsleben ergreifen muß - und ihn womöglich, Gott sei's geklagt, auch noch als Frau und Mutter beibehalten muß. Ich habe einen Bekannten in Berlin, einen ehemaligen Offizier, der vor einigen Jahren sehr stolz darauf war, ein Fräulein Referendar heimzuführen. Im Assessorexamen stand die Dame, glaube ich, nach dem ersten Kinde. Heute ist sie Amtsrichter, der erste weibliche Amtsrichter in Deutschland, und kommt abends nach den Gerichtsverhandlungen totmüde nach Hause; es fehlt nur noch, daß sie ihren Mann früge, was er derweil gekocht habe. Das geht durch alle Stände. Hinter dem Durchgang zum zweiten Hof bei uns steht einsam ein Kinderwagen, darin quäkt ein Baby: die junge Mutter geht, zur Zeit als einzige Verdienerin, in die Fabrik, während der Mann als Arbeitsloser vor dem Hause auf der Straße seine Zigarette raucht und die Vorübergehenden mustert. Das stille Erblühen der jungen Mädchen am heimischen Herde gibt es kaum mehr, so wie wir es früher kannten; sie werden in Schule und frühem Beruf zur Schnellreife gebracht und entblättern. Auch sonst paßt der gute Schiller gar nicht mehr. "Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe." So ein Unsinn! Umgekehrt ist es richtig: bis zum 16. oder 17. Jahre balgen sie sich gemeinsam, rudern, sporten, tanzen, büffeln, rauchen, dann wird das liebe kleine Mädel plötzlich etwas schnippisch, etwas herablassend gegenüber dem "Jugendgespielen", dem Kameraden, und reißt sich los von ihm, um sich einem älteren jungen Mann mit Segeljacht oder Hanomag anzuschließen, ohne diesen Beau aber etwa heiraten zu wollen, - er ist "nur" ihr "Freund".

Daß die Ehe alter Art "sich überlebt" habe, davon ist heute schon in jedem Berliner Kaffeeklatsch die Rede, denn auch die Frauen von vorgestern wollen doch "mit der Zeit" gehen. In Berlin findet dieser althergebrachte Klatsch aber nur noch selten daheim und reihum statt, sondern man trifft sich dazu auf irgendeiner sogenannten Diele zum Fünfuhrtee. So sind die beiden besten runden Tische im Faun in der Friedrichstraße immer von je sieben oder acht oder neun Frauen mittleren Alters besetzt, die, jede für sich, einen Taler und fünf Groschen für das Gedeck springen lassen und sich etwa über die Lehre des Dr. van de Velde, die Ehe durch gesteigerte und verfeinerte Liebestechnik zu reparieren, unterhalten. Ähnliche Gruppen von Kaffeeschwestern findet man in allen Kabaretts. Den Mut zu ihren Unterhaltungsthemen gibt den Damen der jeweilige Konferenzier, der allerlei Gewagtes witzelt, oder die eine oder andere Tänzerin auf der Bühne, deren Gage nur zu einem Flitterfetzchen reicht, das 20 Zentimeter breit über Brust und Hüften liegt. Und selbst Damen, die noch Tortenfrisur und eben erst fußfreies Kleid tragen, lächeln verständnisvoll, wenn der Tanzschlager gesungen wird:

"Ich will von der Lilly nichts wissen,
  Ich fall' auf die Lilly nicht rein,
  Die läßt sich ja nicht einmal küssen,
  Die will gleich geheiratet sein!"

Das alles ginge ja noch an. Aber ein Verbrechen ist es, wenn das modernste Thema, "die Kameradschaftsehe" - auf deutsch: die legitimierte wilde Ehe unter bewußtem Verzicht auf Kinder und auf Dauer - vor Zwölfjährigen, Dreizehnjährigen, Vierzehnjährigen beider Geschlechter in öffentlichen Versammlungen erörtert wird, wie wir es in diesen Wochen dreimal in Berlin erlebt haben. Natürlich redete da auch der Genosse Dr.med. Magnus Hirschfeld, der "berühmte Sexualforscher", der, wie ein Zuhörer berichtet, mit teuflischem Ernst den Schulbuben empfahl, den Schulmädchen zu sagen: "Nimm mich an der Hand und führe mich in die geheimen Dinge!" Hirschfeld selbst gibt freilich eine etwas andere Lesart für diesen Passus an. Von allen Ländern der Welt hat bisher nur Mexiko, unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Calles, die Zeitehe gesetzlich eingeführt. Praktisch besteht sie außerdem in Sowjetrußland. Und empfohlen wird sie - im Deutschen Reiche der Nachnovemberzeit. Die wenigsten von uns aber sind im klaren darüber, daß dies nicht etwa eine Folge irgendeiner von innen heraus kommenden "Entsittlichung" ist, sondern eine ökonomische Folge des politischen Novemberirrsinns mit seiner Waffenstreckung und seinem Versaillesfrieden und Dawesdiktat im Anschluß daran; das Gerede von der "Kameradschaftsehe" ist nur der Ausdruck der Verzweiflung eines zum Sterben verurteilten Volkes, das Kinder nicht mehr ernähren zu können glaubt, eines Volkes, in dem nach Clemenceaus Wort "20 Millionen Deutsche zu viel" noch heute leben. Frankreich ist nicht aus wirklicher Not, sondern aus ökonomischer Feigheit, weil es Kinder nicht ohne Rente in die Welt setzen wollte, zu dem einst berüchtigten "Zweikindersystem" gekommen und infolgedessen seit Jahrzehnten ohne Bevölkerungszuwachs. Wir aber sind jetzt bereits auf dem Wege über das Einkindsystem zum Keinkindsystem, also zum organisierten Selbstmord, unter gesetzlicher Entfesselung aller medizinischen Eingriffe zum Morden der Ungeborenen. Berlin geht natürlich voran, Berlin ist schon längst ein Zuschußbezirk, der sich nur durch Einwanderung erhält, während die Todesfälle in ihm die Geburten übersteigen. Wenn jetzt in ganz Deutschland die "Errungenschaften" jenes 9. Novembers 1918 gefeiert werden sollen, sollten Besinnliche aller Stände, bis zur ärmsten braven Arbeiterfrau herunter, die noch gern ihren Kindern segnend die Hand auf den Scheitel legt, dieses schauerliche Zeitbild nicht vergessen. Gewiß, wir haben es "herrlich weit gebracht" in der Ausbildung unserer jungen Mädchen, die überall im Berufsjoch schuften, und sie alle "wissen Bescheid" und sind uns Männern bald über, aber das deutsche Haus, die deutsche Familie existiert nur noch in wenigen glücklichen Ausnahmen, sozusagen im Naturschutzpark.

Als ich im vorigen Jahr Mussolini besuchte und im Palazzo Chigi und im Palazzo Viminale nur Männer, nur arbeitende Männer sah, nicht einmal eine einzige "Edeltipse", wurde mir ganz neidvoll zu Mut. In Berlin sieht man etwas annähernd Ähnliches nur noch in der Reichsbank. Neulich führte mich da einer der hohen Herren herum, deren Namenszüge man auf den Reichsbanknoten lesen kann, und ich war erstaunt, unter den rund 3000 Beamten und Angestellten in dem riesigen Häuserblock so wenige Damen zu finden. Nur in der Zählerei sind so gut wie ausschließlich weibliche Kräfte beschäftigt. Sie haben ein feineres Gefühl in den Fingerspitzen. Sie verzählen sich kaum beim Blättern.

Geht es so weiter wie bisher, empört sich nicht der Rest der Männlichkeit in unserer Nation dagegen, daß Erfüllungspolitik und Sklavendemut uns als Ideal gepriesen werden, dann ist schon die nächste Generation beider Geschlechter bei uns nur noch Arbeitstier für Ententebüttel und für amerikanische Auto-, Kino- und Eisenmagnaten, ohne Ahnung mehr von dem freien und glücklichen Schaffen des früheren Zeitalters. Es gehört der ganze Heldenmut vieler schlichter und tüchtiger Volksschullehrer, die dank ihrer historischen und politischen Bildung den Abgrund erkennen, dazu, um da gegen den Strom zu schwimmen und den Kindern noch die Erinnerung an frühere Freiheit und Größe zu übermitteln. Eigentlich sollen sie es nicht. Eigentlich dürfen sie erst mit dem 9. November 1918 die Weltgeschichte beginnen lassen. Was vorher war, ist finsteres Mittelalter, ist Zuchthaus. Nicht wahr, bis zum 9. November 1918 haben wir doch alle die Knute der Junker zu spüren bekommen ? Da saß jeder edle Mensch im Gefängnis ? Es ist schon das Beste, man spricht nicht davon. Bilder aus der vergangenen Zeit sind ganz und gar verpönt. Die Frau eines alten Generalleutnants a.D. in Berlin nimmt neulich eine Haushilfe an, ein gerade der Schule entwachsenes Berliner Mädel. Das sieht an der Wand ein großes Bild des Feldmarschalls Moltke hängen. Wer das ist ? Keine Ahnung! Auch von Bismarck, auch vom Kriege 1870/71, auch vom alten Kaiser, auch von der Gründung des Deutschen Reiches hat das junge Dienstmädchen nie etwas gehört.

Solange wir in Gedankenlosigkeit dahinleben, kann die Entente mit uns zufrieden sein. In der Berliner sogenannten beseren Gesellschaft - eine gute gibt es kaum mehr - wird wieder diniert wie in den Zeiten der Wohlhabenheit; und natürlich unter Vorantritt und unter Teilnahme der Neuregierenden, die dies als einziges vom alten Sytem übernommen haben. Man seufzt renommistisch über die Fülle der Einladungen. Immer wieder dieselbe Poularde, dasselbe Pücklereis, dieselben Menschen, dieselben Gespräche! Haben Sie schon gehört, daß Benvenuto Hauptmann, des großen Dichters Sohn, 23 Jahre alt, der am 31. Juli, nachdem er von seiner ersten Gattin geschieden war, in zweiter Ehe eine Prinzessin von Schaumburg-Lippe heiratete, am 15. November mit ihr wieder vor dem Scheidungsrichter steht ? O, es gibt heute so viele interessante Themen, trotz Poularde und Pücklereis. Übrigens, was habt Ihr gegen das althergebrachte Menu ? Man kann doch nicht gleich Krokodilschwanz in Aspic oder gefüllten Aasgeier von dem Traiteur verlangen. Also die Berliner Geselligkeit ist wieder im Schwung, es ist fast ganz wie anno Dazumal, und es werden nach Möglichkeit auch ein paar Namen und Persönlichkeiten serviert, mal eine Durchlaucht, mal ein Afrikareisender, mal ein Jazzbanddirigent, mal ein Pourlemeritter, mal eine Filmdiva. Dazu die bereits einsetzende Hochflut der Bälle, auf denen unsere Mondänen wie ein gerupfter großer Vogel erscheinen: vorne dürr bis übers Knie kahle Beine und hinten ein zerschlissener langer Schwanz bis zur Erde. Diese Mode ist ebenso unkleidsam wie einst die Tournure oder der Schinkenärmel, aber anscheinen ebenso unausweichlich, obwohl ein rundherum kurzes oder rund herum langes oder nur an beiden Seiten verlängertes Kleid viel besser aussieht. Nur auf den Balten-, Kolonial-, Adels-, Offiziers-, Auslandsdeutschen-, Skagerrak- und Korpsstudentenbällen, auf denen der Kurfürstendamm nichts zu sagen hat, findet man zwar sehr geschmackvolle, aber keine extravaganten Toiletten. Dieser Tage fand im Kaiserhof ein Wohltätigkeitsfest zu Gunsten des Stipendienfonds des von flüchtigen Balten 1919 gegründeten Gymnasiums in Misdroy statt. Heute werden dort neben 110 deutsch-baltischen schon 265 reichsdeutsche und auslandsdeutsche Kinder in christlich-nationalem Geiste bis zum Abiturium erzogen und auch sportlich in dem schönen und waldbekränzten Strandort so gefördert, daß die Misdroyer Gymnasiasten beispielsweise eine der allerbesten Handballmannschaften in ganz Deutschland stellen. Auf dem netten Tanzfest im Kaiserhof gab es keine "reiche" Tombola, gab es nicht Prunk und Pracht, aber nach alter Sitte vorher allerlei nette Aufführungen, darunter einfach hinreißend den Vortrag eines koketten Benatzky-Liedchens durch die blutjunge Frau v.Lilienfeld, die reichsdeutsche Gattin eines baltischen Edelmannes. Dazu viele Arnim, Goltz, Schwerin unter den Besuchern, viel alte Namen aus Pommern und der Mark und Ostpreußen, überall daher, wo während des Krieges flüchtende oder verdrängte Auslandsdeutsche gastliche Aufnahme fanden.

Als Angehörige des europäischen Adels präsentiert sich uns Berlinern jetzt auch - Josefine Baker, die Mulattin vom Tanzbrettl. Sie hat einen italienischen Grafen Arbato geheiratet und mit ihm eine Villa in Berlin-Grunewald bezogen. Weiß der Kuckuck, wo sie ihn aufgegabelt hat. Weiß der Kuckuck, wo er den Conte-Titel her hat. Jedenfalls hat er X-Beine und eine Art Wasserkopf, so daß er für den Beruf des Tauchers prädestiniert erscheint; in Paris war er Kellner im Lokal der Josefine Baker. Sieht überhaupt sehr wenig gräflich aus; vielleicht, aber ich weiß es nicht, hat Josefine Baker die Gebühren für den Conte-Titel beim Vatikan bezahlt. Sie hat in der Behrenstraße eine eigene Tanzdiele, wo die Flasche Champagner 40 Mark kostet. Dafür ist sie bereit, höchstpersönlich mit jedem Gast einmal zu foxtrotten. Dann langt sie sich einen dicken Provinzler, und das Publikum wälzt sich vor Lachen. Außerdem tritt sie allabendlich in einer Revue im Theater des Westens auf, hier nach Urwaldmanier so gut wie gar nicht bekleidet. Sie ist, nicht nur im Gesicht, nicht ganz so pausbäckig mehr wie früher, aber noch immer von einer für Niggermädchen seltenen Wohlgestalt. Die Zuschauer haben die Revue, einschließlich der Bakerschen Gesten von äffischer Unanständigkeit, erstaunlicher- und erfreulicherweise einmütig abgelehnt. Nicht einmal die Kunst Josefine Bakers, mit dem Bauch Grimassen zu schneiden und mit dem Gesäß gleichzeitig darüber zu lachen, konnte den Abend retten. Das Unerwartetste wird in Berlin bisweilen doch noch Ereignis.
8. November 1928 (Donnerstag.)



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© Karlheinz Everts