"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 25 - 27
1. bis 15. März 1928


25

Des jungen Bismarck Verlobung - Das Äußere der drei Bismarck - Amanullah und die Republikaner - Die "Schwestern der Königin" - Staatsanwaltsdämmerung - Galeries Lafayette am Potsdamer Platz - Immer noch Carneval.

Also er hat sich verlobt. Genau so wie der Großvater, der tolle Junker Otto v.Bismarck, im Alter von 31 Jahren. Der junge Bräutigam, der Reichstagsabgeordnete und angehende Diplomat Otto v.Bismarck, ist auch genau so ein Herzenbrecher gewesen, wie es sein berühmter Ahn in seinen tollen Jahren war. Nur daß der Enkel nicht so vulkanisch ist, nicht eine so überschäumende Kraftnatur. Er hat eine gewisse bezwingende Liebenswürdigkeit. In Wien sind zahlreiche Komtessen "einfach hin" gewesen, als er dort weilte; fast warfen sie sich ihm an den Hals. Dann war er ein halbes Jahr in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, auf Studienreisen natürlich, während andere sagten: auf der Erkundung nach einem Millionengirl. Dieser Gedanke liegt ja an sich nahe. Friedrichsruh mit seinem Laubwald trägt nicht viel, ist eigentlich nur Herrensitz, außerdem Fideikommiß, so daß es die Haushaltungen der ganzen Familie zahlen muß. Die Bredows und die Keyserlingks kriegen natürlich ihr Teil; auch als Grandseigneur und Durchlaucht hat man es heute, wenn das Bargeld in der Inflation verschwunden ist, nicht leicht. Außerdem wird man, wenn man das Unglück hat, Bismarck zu heißen, natürlich nach Strich und Faden angebettelt und kann sich nicht immer entziehen. Aber Fürst Otto v.Bismarck hat, entgegen den Gerüchten, eine Dollarprinzessin entweder nicht gesucht oder nicht gefunden, ist jedenfalls von drüben völlig unverlobt heimgekehrt. Um so gespannter war die Berliner Gesellschaft. Alle Gothaischen Kalender wurden nach präsumptiven Bismarckbräuten durchgeblättert. Der Kreis war groß, denn nach dem Vorgang des Vaters, des Grafen Herbert Bismarck, doch auch der ausländische Adel erschlossen. Des jungen Fürsten Otto v.Bismarck Mutter, die zarte, schöne, ist doch eine magyarische Gräfin Hoyos, hat eine englische Mutter Whitehead und führt den Ursprung der Familie auf Spanien zurück. Aber der junge Bismarck enttäuschte wiederum die Gesellschaft. Keine Wiener Komtesse, keine Londoner Lady. In Genf, während der letzten Tagung des Völkerbundes, lernte Fürst Otto v.Bismarck eine junge Schwedin kennen, die Tochter eines berühmten schwedischen Architekten, der dort gerade die Pläne zum Völkerbundpalast zu begutachten hatte. Fräulein Tengbom ist nicht einmal "von" oder "de", aber bildhübsch, blond, kerngesund, hochgebildet, 19 Jahre alt.

Sie oder er - das weiß man noch nicht so genau - kam, sah, siegte. Die reine Liebesheirat also. Daß der Schwiegervater, der übrigens erst im April 50 Jahre alt wird, als bedeutendster Baumeister Schwedens nicht gerade unbemittelt ist, tut nichts zur Sache. Im vorigen Sommer habe ich mir in Stockholm, dem "nordischen Venedig", etliche seiner Schöpfungen angesehen. Ich dachte, auch das neue Stadthaus gehöre dazu, das in seiner ruhigen Backsteingotik ganz dem Norden angepaßt ist, aber zum Wasser zu einen an den Dogenpalast erinnernden wundervollen Säulengang, in seinem goldenen Saal byzantinische Anklänge an die Markuskirche enthält. Aber gerade das hat ein anderer gebaut. Eine schöne Kirche von seiner Meisterhand habe ich mir dann angesehen und noch mehrere Profanbauten. Auf den Schwiegersohn ist er sehr stolz, zumal da er selbst aus kleinbürgerlichen Schichten stammt. Durch die Heirat knüpft Fürst Otto v.Bismarck wieder an die Tradition aus Urgroßvaters Zeit an. Die Mutter des eisernen Kanzlers war ja eine geborene Mencken, auch ohne "von" und ohne "de". Wo das junge Paar sich sein erstes Heim schaffen wird, ist wohl noch nicht bestimmt. Eigentlich sollte der angehende Diplomat, der seit dem vorigen Sommer der Gesandtschaft in Stockholm zugeteilt ist, jetzt nach Rom oder London gehen.

Der Kanzler hatte als 31jähriger junger Mensch welliges kastanienbraunes Haar. Das wissen wir natürlich nur von dem Bilde aus damaliger Zeit her, das im Rathaus zu Brandenburg hängt. Als wir den Eisernen in seinen letzten Lebensjahren sahen, da hatte er nur noch einen spärlichen silberweißen Kranz um das Löwenhaupt. Auch Graf Herbert Bismarck hatte noch denselben Vierkantschädel, nur dunkelblond. Der junge Fürst Otto v.Bismarck, ganz brünett, hat Lockenhaar wie der Großvater, aber nicht das gewaltige Format; er ist mehr schlank und elegant, aber hinter der Intelligenzbrille funkelt bisweilen das alte Bismarcksche Auge. Als der Junker Otto v.Bismarck zwei Jahre älter war, gründete er die Kreuzzeitung und kam seinem König zu Hilfe. Nicht jedes Jahrhundert gebiert einen Bismarck, einen Moltke, einen Goethe, einen Zeppelin aus derselben Familie: weh dir, daß du ein Enkel bist. Aber der heutige Bismarck ist noch jung. Und vielleicht erkämpft auch er einmal einem jungen Hohenzollern gegen Parlament und öffentliche Meinung den Königsthron.

Einstweilen müssen die Berliner sich mit einer braunen Majestät begnügen. Die Woche Afghanistan hat die ganze Reichshauptstadt aufgewühlt. Ungeheure Menschenmassen haben gegafft und gaffen immer noch, und die aufrechtesten Republikaner haben die tiefsten Bücklinge geübt. Rund eine halbe Million Mark haben die Feste und Geschenke dem Reiche und dem Staate gekostet, aber das macht nichts, man hätte gern noch mehr gegeben, um sich einmal vor einer Majestät zu sonnen. Nur die überragende historische Persönlichkeit Hindenburgs gab den Festen Stil. Das übrige war parvenumäßig, am steifsten und langweiligsten, wenn auch luxuriös genug, das Königsessen beim sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Löbe, der sich sozusagen die Beine um den erlauchten Gast ausriß. Als der Präsident von Mexiko, Calles, hier war, hat man lange nicht so viel Wesens gemacht. Die roten und rötlichen Herrschaften sind nun wegen ihres "Byzantinismus" natürlich weidlich geneckt worden. "Erlauben Sie mal, gegen fremde Könige haben wir ja auch gar nichts!", sagte ein demokratischer Würdenträger zu einem Deutschnationalen. Und der preußische Ministerpräsident Braun meinte: "Die Republik ist so fest verankert, daß wir uns das leisten können". Die Massen draußen verstehen das nicht ganz, zumal die rote Presse die ganze Angelegenheit fast lächerlich macht und die demokratischen Blätter mit einer heimlichen Träne im Auge feststellen, der König von Afghanistan habe in "korrekter Weise" in Berlin keine Orden ausgeteilt, da die Weimarer Verfassung sie verbiete. Die Massen draußen in der Wilhelmstraße vor dem gemieteten Palais Prinz Albrecht - der Freistaat Preußen konnte nichts zur Verfügung stellen - verstehen also den Zauber nicht ganz, vor allem nicht die rücksichtslosen Sperrungen des gesamten Verkehrs. Wie hätte man da früher geschimpft! Ein nachdenklicher Arbeiter im Publikum sagt: "Den eignen König hamse weggejagt und nu managen sie den fremden!" Eine besondere Augenweide für alle ist die elegante Königin von Afghanistan. Dazu - die Schwestern der Königin. Das ist aber keine Verwandtschaftsbezeichnung, sondern ein Titel, sagen uns die Orientkenner. Mit diesem Titel würden in mohammedanischen Reichen die Nebenfrauen benannt. In Rom, beim Kardinal-Staatssekretär im Vatikan, sei der Besuch in das Meldebuch denn auch als "Le Roi d'Afghanistan avec la Reine et deux concubines" eingetragen worden. Woraufhin der Papst sehr entsetzt gewesen sei. Andere Länder, andere Sitten; andere Zeiten, andere Sitten. Auch die alten Germanenfürsten hatten mehrere Frauen, wie Tacitus berichtet. Freilich nicht aus Haremslaune, sondern aus Pflicht, um mit den ersten Familien des Stammes verschwägert zu sein und sie für sich zu haben. Also um der Politik willen. So ist es noch heute im Orient. Jetzt ist der König nur noch incognito in Berlin. Er hat die offiziellen Empfänge und Festreden satt, zumal da er sich wegen Versagens der Heizung im deutschen Extrazuge einen scheußlichen Dauerschnupfen geholt hat, und will nur noch Tourist sein. Dieser Tage fuhr er, selber am Steuer seines Wagens, über die Avus, die Automobil-Rennstraße, nach Potsdam. Am Eingang der Bahn erwartete ihn der Direktor mit der ledergepunzten Ehrenurkunde, die Frau des Direktors mit dem Riesenblumenstrauß, aber im 100-Kilometer-Tempo brauste der König an ihnen vorüber.

Er ist im republikanischen Paris mit noch größerem Gepränge empfangen worden. Im republikanischen Amerika hat man für solche Herrschaften, wenn sie nicht, wie die Königin von Rumänien oder die Großfürstin Kyrill, betteln kommen, noch viel mehr übrig. Seine sonstige Demokratie versenkt man dann zutiefst im Hosenboden. Man hat immer noch eine Ahnung davon, wieviel besser es ein Volk hat, in dem nicht Parteien regieren, sondern ein unparteiischer König.

Ich stelle immer wieder fest, daß die Menschen nicht schlechter und nicht besser werden, daß die ganze Weltgeschichte sich in Wellenbewegungen vollzieht, einem Ab immer wieder ein Auf folgen muß. Aber das ist schon richtig, daß das Beamtentum in einem Parteistaat allmählich anders wird als in dem Obrigkeitsstaat mit monarchischer Spitze. Früher war die Staatsanwaltschaft I Berlin sozusagen Garde. Da kamen nur die Begabtesten, die Bestempfohlenen, die Untadeligsten hin. Jetzt kommen vor allem blaurasierte Republikaner hin, betrübend mangelhaft getaufte Neuchristen, und die Untadeligkeit ist nicht immer verbürgt. Da sitzt nun der Staatsanwalt Jacoby in Untersuchungshaft, der sich nebenamtlich als hochbezahlter Syndikus und Zutreiber für den Lombardschwindler Sally Bergmann betätigte. Da haben sie jetzt auch den Staatsanwalt Flindt am Kragen gekriegt, der unliebsam in die Spritschieber-Affäre verwickelt sein soll. Aber nicht einmal alle solche Fälle kommen an die Öffentlichkeit; manchmal werden sie unter der Hand beigelegt. Da hatte einmal ein Berliner Staatsanwalt, einer von der neuen Sorte, den Fall eines Einbrechers zu behandeln und erstand auf der nicht ganz zweifelsfreien Versteigerung das corpus delicti unbekannter Herkunft, einen kostbaren Brillantring, sehr billig für sich. Der Besitzerin, die sich wochenlang später meldete, erklärte er, der Ersteigerer sei nicht bekannt. Daraufhin wurde ihm nun nicht etwa der Prozeß gemacht, sondern er wurde bloß "abgebaut", bezieht also vier Fünftel seines Gehalts weiter und hat nebenbei eine sehr einträgliche Zivilanstellung. Aber der Staatsanwaltsschaftsassessor Kußmann, der es gewagt hatte, mit den schärfsten Mitteln gegen Judko Barmat vorzugehen, den Millionenschlucker und Freund der sozialdemokratischen Koryphäen, der wurde - ohne Erfolg freilich - durch zwei Strafprozesse hindurch verfolgt und gehetzt; der mußte zur Strecke gebracht werden. Solche Dinge, das sagt sich auch der einfache Mann, wären früher denn doch nicht möglich gewesen. Sie brauchen nicht unbedingt mit einer Republik verbunden zu sein, denn es hat auch sehr sittenstrenge Republiken gegeben, Rom in seinen Anfängen, Amerika in seinen Anfängen, aber mit dem Parteienstaat sind sie anscheinend unentrinnbar verbunden. Man sehnt sich wieder zurück nach dem alten sauberen Deutschland von ehedem.

Die Gedankenlosen freilich finden keinen großen Unterschied heraus. Man lebt doch. Man amüsiert sich. Vielfach wird es einem sogar leichter als früher gemacht, leichtsinnnig zu sein, denn man kann schon fast alles "auf Stottern kaufen", auf Abzahlung, sogar in gewissen großen Warenhäusern, die früher nur Barzahlung kannten. Jetzt soll der Potsdamer Platz erweitert werden. An der Bellevue-Ecke will man verschiedene Häuser niederreißen, und ein Teil des neugewonnenen Geländes wird dann - die sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit der Stadtverordneten ist dafür - wieder bebaut, und zwar mit einer Filiale der Pariser Galeries Lafayette, also einem französischen Kaufhaus. Ein deutscher Hausfrauenverband nur fand sich, der öffentlich Widerspruch erhob. Also wir kriegen Hern Lafayette, wir können ihm dann allen Pariser Tand, vom Lippenstifte bis zum Abendkleid, direkt ohne die Kosten einer Reise nach Paris abkaufen. Nicht doch, nicht Lafayette; die Inhaber heißen allerdings Baader und Cahn. Und da umgekehrt der reichsdeutsche Herr Tietz auch in Brüssel ein Warenhaus hat, ist das vielleicht nur recht und billig, nicht wahr ?

Mit den auf Abzahlung gekauften Köstlichkeiten aber wird weiter Karneval gefeiert. Der Verein der Drogenhändler, der Verein der Gleiwitzer, der Verein der Sexualforscher, der Verein der Laternenanzünder, der Verein der Reklamezeichner und die anderen alle wollen doch ihren Kostümball haben. Nur die Rheinländer haben mit Aschermittwoch abgestoppt. Sie singen immer noch ihr

Ja, wat hät he denn, wat will he denn,
De Kleine muß en Nüggel hän,

aber sie tanzen nicht mehr vermummt. Auch die Süddeutschen halten sich zurück. Die finden die Berliner Maskenbälle sowieso stumpfsinnig, so wie wir die ihrigen, soweit uns der "Simplizissimus" darüber unterrichtet, wüst finden. Auch das Ausland entnimmt da aus Bilder und Text wohl eine ganz falsche Auffassung; etwa die, daß die Karnevalszeit in München und da herum das reinste Astartefest mit vorbedachter Opferung von Jungfrauen wäre. Ach, zu allen Jahreszeiten gibt es, und bei allen Völkern, Tragödien, die in zwei Fragen aus herbem Mädchenmunde beschlossen sind, dem "Liebst du mich ?" zu Anfang und dem "Verachtest du mich ?" am Ende. Aber weder wir Deutschen noch die Berliner oder die Münchener im Besonderen liefern dazu mehr Stoff als andere. Und in Berlin ist die Ballzeit im Februar und im März auch nicht etwa die große Gelegenheitsmacherin, denn in den übrigen Monaten sind wir auch nicht gerade sauertöpfisch. Wir schlagern uns so durchs Leben. Alle vierzehn Tage mit einem neuen Schlager. "Gott sei Dank, heut bin ich ledig, meine Frau ist in Venedig", kommt uns heute, kaum geboren, schon antiquiert vor; morgen schon gibt es vielleicht einen Reim auf Amanullah. Ein Tanzgirl aus sogenannter guter Familie, das in einem hiesigen Hotel brillant zu unterhalten weiß und in allen Züchten und Ehren von den gern gespendeten Tischgeldern der Herren lebt, hat mir dieser Tage an die vierzig "modernsten" Schlager vorgesummt und schon einen Amanullah dabei gehabt. Zum Dank gab ich ihr fünf Mark für die zwanzig Minuten. Sagte sie: "Kommt in die Reichsbanknebenstelle!" Sprachs und steckte sich den Schein in den Strumpf.
1. März 1928 (Donnerstag)


26

Amanullahs Sorgen - Der "taktlose" Kronprinz - Liebe Sonderlinge - Tänzerinnen auf Engagement.

Ullemulle - so nennen die Berliner bequem den König Amanullah - ist abgereist. Noch einmal staunten die Berliner die drei Lastautos mit den vielleicht zweihundert Koffern an. "Royal Afghan Party" lauten die Klebezettel, die überall bevorzugte und zollfreie Behandlung verbürgen. Die Koffer sind aber nicht voll von Brillanten, Rubinen, Saphiren, Smaragden; man soll sich bloß keine Märchen vorstellen. Als der König kurz vor seiner Abfahrt im großen Schinkelsaal des Palais Albrecht die letzten Dankesworte an das gastliche Deutschland sprach, ganz leise, fast tonlos, meinten etliche Vertreter der Weltpresse, die ihn da zum ersten Mal hörten, er sei befangen. Nein, das war er nicht; er hat den Ullsteinern und anderen deutschen Republikanern, die nach einem Händedruck von ihm haschten, sehr frisch und jovial den Wunsch erfüllt. Mir scheint aber, daß er - sorgenvoll ist. Unten im Vestibul werden dauernd Nachnahmepakete, die mit der Post kommen, abgewiesen; ebenso die Einkassierer mancher großen deutschen Firmen, die quittierte Rechnungen vorweisen. Mit unserem Finanzminister und unseren Großbanken hat der König in den letzten Tagen Fühlung genommen, ob er nicht eine größere Anleihe bekommen könne, aber es war vergeblich. Afghanistan mag fabelhafte Bodenschätze bergen. Nur die Afghanen sind vorerst ein armes Bergvolk mitten in Asien, die Kopfsteuer erbringt nicht viel, die Zölle sind unergiebig, und England zahlt seit dem afghanischen Befreiungskampf keine Subvention mehr an Amanullah. Er ist eine prachtvoll energische Erscheinung, ganz Soldat auch in Zivil. Aber der Scheitel wird vor Sorgen schon licht; ein paar lange, wirre Haare wehen über die beginnende Glatze. Er war in Rom und Paris, er kommt noch nach London, Warschau, Moskau. Es wird ihm schwer fallen, in England zu bitten. Vielleicht kommt es doch darauf hinaus. In jener Zeit vor dem Kriege, in der unser Auswärtiges Amt Mühe hatte, vom Reichstag 500 000 Mark für seinen Geheimfond bewilligt zu erhalten, verfügte das Londoner Foreign Office schon über geheime 50 Millionen Mark jährlich.

Der Königsbesuch ist von unseren Patentrepublikanern natürlich, weil sie ihre eigene Beflissenheit und Vordringlichkeit nicht besprochen sehen wollen, zu einer Verdächtigung unserer Hohenzollern benutzt worden. Der Kronprinz habe sich in taktloser Weise in die Begrüßungsfeier eingedrängt! Das ist dann telephonisch und funkentelegraphisch von den Urhebern dieses Schwindels selbst nach außerhalb gemeldet worden, und nun wird dem deutschen Leser wieder "das abfällige Urteil des Auslandes" vorgesetzt. So machen es die Herrschaften immer: ihre Parteipolitik mit Hilfe der von ihnen falsch informierten Fremden.

"Dir piekt et woll ?", sagen zu dieser Meldung die Berliner, die den tatsächlichen Vorgang erlebt haben. Also tags zuvor läßt der Kronprinz bei der Polizei fragen, wann die Absperrung aufgehoben werde, da er nicht in den Trubel geraten und kein Aufsehen erregen will; er gedenkt aber, wie alle Tage, zur Königlichen Schatullverwaltung Unter den Linden zu fahren, um dort zu arbeiten. Die genaue Stunde wird ihm angegeben. Er legt sicherheitshalber noch drei Viertel Stunden zu und kommt dann erst angefahren; er am Steuer seines Wagens, neben ihm als Begleitmann der Wagenlenker, der Fond des Wagens leer. Daß das durch den ersten Königsbesuch seit 14 Jahren sehr aufgemöbelte Berliner Volk immer noch in dichtem Gewimmel da sein würde, konnte man nicht ahnen. Am "Kleinen Stern" gibt es die erste Stockung, das große Auto ist eingekeilt zwischen Droschken und einem Bierwagen. Es entspinnt sich eine allgemeine Unterhaltung zwischen den Wartenden. Der Rollkutscher sagt: "Det hätte bei Willem ooch nich anders sein können!" Der Kronprinz: "Und wir hatten bessere Requisiten." Der Rollkutscher: "Wat heeßt hier Requisiten ?" Der Kronprinz: "Na, was man so Aufmachung nennt!" Der Rollkutscher: "Det stimmt, da war een bessera Zuch drin." Endlich am Pariser Platz. Von beiden Seiten stürzen Wogen des Publikums über das Auto, man erkennt den Kronprinzen trotz seines unauffälligen Zivils wie immer an der Überschlankheit und dem Profil: Augen strahlen, Hände strecken sich aus, Taschentücher winken, Hüte fliegen vom Kopf, Rufe erschallen, - es ist äußerlich ganz so wie im August 1914 bei der Abfahrt ins Feld. Jeder Verkehr stockt. Zwei Schutzleute kämpfen sich durch, steigen aufs Trittbrett, klopfen den Kronprinzen auf die Schulter und rufen ihm zu: "Immer Vorsicht, Herr Kronprinz, niemand umfahren!" Gleichzeitig aber klettern vier dufte Berliner aus dem Volke, aus dem Volke in des Wortes engster Bedeutung, in den Wagen selbst und machen es sich darin bequem und sagen: "Herr Kronprinz, fahn se uns man nach'm Alex!" Dahin, zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz, will er ja gar nicht, sondern zum Niederländischen Palais Unter den Linden, dem kleinen Amtsgebäude der Schatullverwaltung. Er sagt es den vier Ballonmützen und fügt hinzu: "Übrigens wäre es für Euch vielleicht gar nicht gut, in die Nähe des Alex zu kommen!" Verständnisinniges Gelächter. "Na denn man los mang de Linden!" Am Ziel wieder viel Publikum, die übliche freudige Erregung, aber auch das übliche "Nieda! Nieda! Nieda!" von drei Rotfrontradlern. Die kriegen es da mit den vier Autoinsassen zu tun, die sich nun, während der Kronprinz schnell in dem kleinen Hause verschwindet, herauswickeln. "Det is een feina Kerl, der hat uns vom Brannenburjer Dor hierher jefahn! Een Wort noch un wir haun Eich uff de Kappe!" Die Rotfrontler murren. Da hält der stärkste der Vier einem von ihnen die Faust unter die Nase und sagt: "Du hast woll lang keene Knospe jerochen ?" Aus. Die Rotfrontler verdrücken sich. Das Publikum verläuft sich. Der Kronprinz sitzt schon lange über Rechnungen und Wirtschaftsbüchern und denkt kaum mehr an das Erlebnis. Inzwischen aber rasseln schon die Rotationsmaschinen der taktvollen republikanischen Zeitungen und berichten über den taktlosen Hohenzollern, der, um selber von dem Königsprunk noch etwas zu erhaschen, sich in den Amanullah-Empfang gedrängt habe.

Ich glaube nicht, daß es in England oder Frankreich oder Amerika ähnliche Plebejer gibt. Auch der Berliner "ist gar nicht so" wie seine Presse. Er ist sogar noch nicht einmal großstädtisch nivelliert. Es gibt hier noch manchen eigenartigen und lieben Sonderling, bei dem man sich von den Plebejern ausruhen kann; es ist nicht wahr, daß die Originale ausgestorben sind. Aber die haben eine mimosenhafte Scheu vor jeder Öffentlichkeit, haben geradezu Angst vor ihr. Man trifft sie selten; und dann zittern sie um ihr Incognito. Das ist zuweilen nicht unverständlich.

Es ist unangenehm, wenn man in Berlin auf zeitgeschichtlich Charakteristisches pürscht und dann jemand mit dem Finger auf einen zeigt und sagt: "Ja, das ist er, Ihr könnt's mir glauben!" Daher auch meine Flucht vor Einladungen und vor Festtafeln. Ich gehöre als stiller Beobachter auf die Galerie oder in den Menschenauflauf. Zum Glück ist man in der Großstadt für 20 Pfennige Straßenbahn schon in einer ganz anderen Welt. Da kennt einen keiner. Also wenn ich zum Beispiel die Anzeige lese "Tänzerinnen f. Tournee, 1,68 gr., sucht Roeder-Revue, vorzustellen (Badeanzug) Montag 11 Casino, Brunnenstr. 154", so kann ich ruhig hin. Es ist ein großer Vorstadt-Kientopp, eine bessere kalte Scheune. Eimerweise werden die Apfelsinenschalen zusammengekehrt, die vom Abend zuvor noch auf dem Boden zwischen den Sitzreihen liegen. Pünktlich wie ich ist nur ein schüchternes kleines Mädel da. Hat drei Monate, zwei Stunden wöchentlich, Preis 15 Mark monatlich, bei Frau Mangelsdorff Ballett gelernt, möchte jetzt ins Engagement. Ist bisher nur Haustochter gewesen; Mutti wartet draußen. Dann kommen zwei vom Bau, keß, frech, erprobt. Ziehen sich vor der Scheuerfrau und mir und der entsetzten Kleinen aus und um, üben Spagat im Gang zwischen den Sitzreihen. Die eine kommt vom Wintergarten in Nürnberg, ist seit wenigen Tagen engagementslos, was gegenwärtig eine Seltenheit ist; Tänzerinnen sind stark gefragt. Allmählich sind es 11 junge Damen, von denen 2 in Tanz-Arbeitskittel, 8 in Badeanzug, 1 in Hemdhöschen sich auf der Bühne vor dem Direktor der Tournee, dem Komponisten, dem Klavierspieler, der Ballettmeisterin aufbauen. Diese ist eine Fettkugel. Aber ihre Beinchen zucken und steppen und wedeln fabelhaft, wenn sie etwas vormacht. "Bitte nachmachen!" Ein paar geschwungene Battements, zwei Charlestonschritte, Rond de jambe, noch ein paar Figuren. Hintereinander weg. Da hapert es schon. Die hübsche Kleine, deren Bekanntschaft ich eben gemacht habe, beherrscht alles Handwerkliche, tanzt gut, hat aber kein tänzerisches Gedächtnis. Sie behält nicht gleich alles Vorgemachte. Ab. Die nächste. Schließlich werden 3 engagiert. Für - 5 Mark den Tag! Kostüme werden gestellt, nicht aber Puder und Schminke, was allein an die 40 Mark monatlich kostet. Da bleibt nicht viel nach. Es ist - für brave Haustöchter - ein glänzendes Elend. Man wird dann eben, wenn der Aufstieg zu einer großen Oper ausbleibt, schließlich Animiermädchen im Kabarett, mit dem Tischgeld der Besucher als Basis. "Aber draußen in der Provinz kostet Ihnen das Zimmer doch höchstens 30 Mark monatlich!", sagt die Ballettmmeisterin. Wer's glaubt. Die Engagierten - eine hat bei der Baronin Engelhardt, einer Baltin, in Berlin gelernt, zweie sind von Gudrun Hildebrand ausgebildet - bleiben gleich darnach zu der ersten Probe da. Die Schlager aus der neuen Revue werden gespielt. "Also die sechs, die als Mädels gekleidet sind, machen drei Schritte vorwärts an die Rampe, die sechs Jungens drei Schritte zurück, dann Kehrt, den Umhang aufgeknöpft, er fällt runter, so müssen Sie sich das vorstellen!" Nochmal. Nochmal. Nochmal. "Eins, zwei, drei, vier, - hoch - und - stehn!" Immer wieder geprobt; und für die Proben gibt es kein Gehalt, nur Fahrgeld. Etwa zehn Tage dauern die Proben. Dann hat man für drei Monate den festen Vertrag. Zwei von den Schmaltierchen begleite ich nachher zum Äsen. Zwei Eier im Glas, eine Tasse Kaffee, sonst nichts; erstaunlich bescheiden.

Für Mädchen, denen das Tanzen nicht Gelegenheitsmacherei ist, sondern ein wirklicher Beruf, für die ist es ein harter und entbehrungsreicher Beruf. Überdies für nahezu alle an eine sehr kurze Jugend gebunden. Nur wenn man Pawlowa heißt, drückt das Publikum ein Auge zu, ohne der zaundürren alten Dame Vorwürfe zu machen. Die meisten übrigen Tänzerinnen enden in einer Spießerehe oder im Krankenhaus oder als Garderobefrau.
8. März 1928 (Donnerstag)


27

Im Vorfrühling - Das Ende der Ballsaison - Die Suahelinegerin in Steglitz - Mogelei für proletarische Jugendheime - Unruh und Jeßner - Ein aufrichtiger sozialistischer Kritiker - "Lächle, Berliner" - Die letzten Pferdedroschkenkutscher.

Ein neuer Kälteeinbruch hat uns wieder begreiflich gemacht, daß der Müggelsee nicht der Gardasee ist, aber davor hat es schon einen herrlichen Vorfrühling gegeben. Der hat die Ballsaison auf einmal weggewischt. Wenn man sich auf Sonntag früh zu einem Ausflug verabredet, verbringt man die Nacht zum Sonntag nicht im Tanzsaal. Am Sonnabend voriger Woche hat es nur noch ein Kostümfest von großer Aufmachung in ganz Berlin gegeben, aber das war schon ganz schwach besucht. Der Faserschurz der Hawai-Mädchen, eine der beliebtesten Trachten dieses Festjahres, ist schon ganz ausgefranst und dünn, das Temperament weicht nun der seligen Frühjahrsmüdigkeit, und wenn auch irgend ein Mädel, das eine Wilde von den Südseeinseln markiert, uns sagt: "Die Neger tanzen immer mit den Naenlöchern!" und das nachzumachen versucht, so täuscht alles das doch nicht mehr über Winters Abschied hinweg. Die Lichtungen im Berliner Tiergarten zeigen grünen Schimmer; das Gräschen sprießt. Am vorigen Sonntag setzte mit Macht der Ausflugsverkehr ein, auch im Freibad Wannsee, das nach vollendetem Ausbau in diesem Sommer gleichzeitig 100 000 Besucher aufnehmen kann, sonnten sich die ersten Gäste am Strande. Es war so wohlig und warm. Und in Beelitzhof saß ein Fecht- und Pennbruder blinzelnd auf einem Prellstein, rauchte die aufgelesenen Zigarrenstummel sorglich zu Ende, nahm in Gnaden eine kleine ganze Zigarre von mir an und schnurrte behaglich:

"Heute ruh' ick mir mal aus, heute dhu' ick mal jarnischt; ick dhu' ja wochentags ooch nischt, aba heute nehm' ick mir nich mal wat vor!"

Man läßt sich das Fell bescheinen. Man taut auf, man lebt auf, der Winterdunst verfliegt, die Wanderlust erwacht. In der Großstadt und um die Großstadt kommt alles wieder in Bewegung; mehr denn je kläffen beim Bauern die Hunde, denn die Kunden der Landstraße sind wieder auf der Walze und brandschatzen die Gutmütigen. In Berlin selbst macht jedermann, der noch eins hat, sein Gaststübchen zurecht und läßt die Betten frisch beziehen, denn die lieben Verwandten aus aller Welt kriegen es mit dem Reisefieber und wollen sich wieder einmal in der Hauptstadt "bilden". Manchmal gibt es da auch ganz unerwarteten Besuch. Draußen in Steglitz wohnt ein alter Pionier aus Deutschostafrika, der sich jetzt schon seinem 70. Lebensjahr nähert, in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er hat wie alle ehedem vermögenden Kolonial- und Auslandsdeutschen fast alles verloren; daß einer von ihnen, dem Verhungern nahe und des ewigen Antichambrierens im Reichsentschädigungsamt satt, neulich mit Pistole und Pulverkiste dort den letzten verzweifelten Schritt unternahm, ist gar nicht so verwunderlich. Man schickt die armen Leute von Pontius zu Pilatus, bald sind die Akten in der Hedemannstraße, bald in Berlin-Schöneberg, bald in Breslau, die Bureaukratie weiß selber nicht mehr aus noch ein. Unser Afrikaner gehört nicht zu denen, die verzweifelt hadern, er lebt still in mannhafter Beschränkung dahin; kann sich natürlich nichts besonderes leisten. Da klingelt es dieser Tage an der Tür, herein kommt eine reinblütig kaffeebraune Suahelinegerin, breitet die Arme aus und sagt: "Vater, lieber Vater, hier bin ich, deine älteste Tochter!" Auch ihr hat es der Frühling angetan. Verdutzt mustert der alte Herr die Negerin, eine gut aussehende, kräftige Person von etwa 40 Jahren, die geläufig Deutsch spricht. Richtig, richtig: die hat er mal, als sie noch ein Säugling war, als junger empfindsamer Deutscher gerettet. Es waren damals noch etwas unkultivierte Zeiten in Deutschostafrika. Die Eltern des kleinen Negerkindes waren gestorben, da sei es das beste, meinte die Dorfgemeinschaft, wenn man das Kind auch totschlüge. Der junge Amtmann machte aber 100 Rupien locker, gab die Kleine in Pflege, später wurde sie bei dem österreichischen Konsul in Daressalaam großgezogen, kam nach Europa, war in verschiedenen Familien in Österreich und Deutschland Haushälterin. Zur Zeit ist sie stellenlos, hat aber noch ein paar Spargroschen, kaufte sich auch gleich am ersten Tage in Berlin ein Buch über den Kaiser und Bismarck, das sie in einer Auslage gesehen hatte und das sie interessierte. Aber ein Unterkommen, selbstverständlich, suchte sie bei ihrem "Vater". Dessen Untermieter - er lebt zum Teil vom Abgeben von Zimmern - wundern sich. Da sagt sie: "Ihr Deutschen seid komisch, Ihr habt mich doch losgekauft und erzogen, ich habe doch immer an Euch festgehalten, da müßt Ihr mich doch durchbringen!" Sie glaubt felsenfest an deutsche Treue. Nun macht sie sich ein Lager im Korridor zurecht, nimmt mit der Grandezza einer alten Freundin des Hauses den Unterhalt entgegen und wartet darauf, daß sie von hier aus eine neue Stellung als Haushälterin bekommt. Sie sieht nicht aus wie eine alte Negerin, man gibt ihr höchstens 30 Jahre, österreichische und deutsche Küche kann sie und sagt gläubig und zuversichtlich: "Na also!"

Die Unrast des Frühlings packt vor allem unsere Jugend. Sie hat nicht viel Geld, aber ein frohes Herz und leichten Sinn; Staat und Gemeinde und - Parteien nehmen sich ihrer an; was sie zu Wanderleben und Unterhaltung braucht, wird ihr verbilligt, kurz, sie merkt noch nicht allzuviel von der allgemeinen deutschen Not. Am wenigsten vielleicht merkt sie es, wie man sie als Werkzeug der Parteipolitik benutzt. "Frei Heil!" Nicht wahr, das klingt als Gruß der Jugendbewegung nicht übel ? Daß es auch der Schlachtruf des sozialistischen Reichsbanners Schwarzrotgold ist, das schiert die Jugendgruppen des Zentralverbandes der Angestellten wenig. Und wenn sie zu Pfingsten den "Reichsjugendtag" in Frankfurt a.M. abhalten und "Staatsminister Severing" ihnen dabei díe Festrede hält, ihnen sagt, wie man "seine soziale und wirtschaftliche Lage verbessern" könne, so freuen sie sich natürlich und sehen den Pferdefuß nicht. Es ist außerordentlich, wie die Sozialdemokratie es versteht, für diese ihre Parteizwecke Gelder der Steuerzahler heranzuziehen. Im Bezirk Berlin-Kreuzberg sollen 8000 Mark monatlich in den Etat "zur Unterhaltung jugendlicher Arbeitsloser" eingestellt werden. Ein deutschnationaler Bezirksverordneter fragt an, wieviel jugendliche Arbeitslose man denn habe. Man hat - keinen einzigen! Trotzdem bewilligt die rote Mehrheit aus den Taschen aller Parteien, vornehmlich des bürgerlichen Mittelstandes, die annähernd 100 000 Mark für das Jahr. Dafür werden proletarisch-sozialistische Jugendheime unterhalten!

Genau so geht es den Erwachsenen, die die Staatstheater unterhalten müssen, über 12 Millionen Mark für den Umbau der Staatsoper hergeben, dafür aber sozialistische Propagandainstitute erhalten, nicht Bildungsstätten reiner Kunst. Überall im Reiche ist es darin besser bestellt als in Berlin. Wenn wir jetzt Kleinstadtbesuch oder Besuch vom Lande bekommen und wenn die Gäste dann etwas sehen möchten, so kann ich ihnen das Wellenbad oder das Planetarium empfehlen, aber kaum ein Theater. Im staatlichen Schauspielhause wird jetzt sogar der seit 1919 "republikanische" Dichter v.Unruh, der jetzt nur noch Kleists Unruhe hat, aber nicht Kleists grandiosen Schwung, ins Asthmatische zerhackt, bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen. Man hat in einer Neueinstudierung seinen "Prinz Louis Ferdinand" gegeben. Das Stück stammt noch von 1913, noch aus der Zeit, wo Unruh aktiver Offizier war und seine Kaste noch nicht verloren hatte; und wo er vielleicht noch mehr Dichter war - seine Begabung kann ja niemand leugnen - als heute. Auch heute ist er ja noch nicht, trotz alles aufopfernden Bemühens, ein "Republikaner" im Sinne der Parteispießer, weil er immer noch zu sehr Dichter ist. In seinem Prinzen Louis Ferdinand aber quillt der alte preußische Idealismus noch rein und voll, und der darf natürlich nicht zu Wort kommen. "Unser König ist nicht schuld", "Er ist ein blutechter Hohenzoller", "Ein Heer, das nur nach Ehre und edlem Ruhme strebt", - alle solche Stellen hat der sozialdemokratische Intendant Jeßner gestrichen. Das ist so arg und so unkünstlerisch parteipolitisch, daß es sogar dem Kritiker des Vorwärts-Abends, dem Genossen Hochdorf, wider den Strich geht. Er schreibt:

"Jeßner will den Ton bis zur Nüchternheit dämpfen, von allem soll das Heldenpathos abgeschabt werden. Man soll selbst beim Kasinomahl oder beim Kronrat nur Konversation machen. Höchstens, daß ein wenig karikiert wird, etwa beim Wettrennen der Pagen, die für einen höfischen Gast Spalier bilden. Sinnfällige Einschnitte, Höhepunkte und Pausen des Geschehens, alles das will der Regisseur verwischen. Diese Art Regie, die auch den Rest des Heroentums aus dem Drama herauslaugt, entsprang eher einer witzigen Idee als einer sachlichen Notwendigkeit. Der Prinz Louis Ferdinand soll dann innerhalb dieser höfischen Bourgeoisie ein hamletisch angekränkelter Ästhet sein, der seine temperamentvolle Wut auf Napoleon mit dem Tode bezahlt. Derartig geht in der Jeßnerschen Inszenierung das dramatische Rechenexempel auf; diese Interpretation stimmt aber nicht zu den Absichten des Dramatikers."

Vernichtender ist Jeßner auch von keinem bürgerlichen Kritiker bisher beurteilt worden. Tut nichts. Er ist eingeschriebenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei, folglich bleibt er Intendant des Staatstheaters. Wir müssen fressen, was wir vorgesetzt kriegen; und müssen zahlen. Das ganze Geheimnis der roten Erfolge des letzten Jahres beruht darauf, daß ein großer Teil des durch Steuern uns allen erpreßten Geldes dazu benutzt wird, die sozialistische Agitation zu bezahlen und immer mehr Genossen, auch wenn sie nichts vom Fach verstehen, überall auf die fettesten Posten zu setzen. In anderen parlamentarisch regierten Ländern ist es ja auch wohl so; nur wir waren früher das nicht gewohnt, was wir, wenn es aus Frankreich oder den Vereinigten Staaten von Nordamerika uns gemeldet wurde, Korruption zu nennen pflegten. Das Gros der Bevölkerung in diesen Staaten, auch bei uns, läßt alles stumpf über sich ergehen, statt einmal bei Neuwahlen endgültig mit allem Unrat aufzuräumen. An dieser Gleichgültigkeit und Verdummung ist zum wesentlichen Teile die bürgerlich-internationalistische Demokratenpresse schuld, die mit ihrem "Lächle, Berliner!", mit ihrem Wettbewerb für den am freundlichsten ins Leben blickenden Großstädter und ähnlichen Kinkerlitzchen den kleinen Mann davon abhält, sich um das versinkende Volk und Vaterland zu kümmern. So etwas verschlingt der Kleinbürger in der Werkstatt, das Ladenfräulein in der Verkaufspause, der Kutscher auf dem Bock. Die sind gar nicht alle rot oder rötlich gefärbt. Die wären unter einer anderen Obrigkeit und einer anderen Presse ganz anders, aber sie wissen es nicht besser, denn in der Hetze der Erwerbsarbeit kommt die Besinnung an sie nicht heran.

Allenfalls unsere "letzten Mohikaner", die Lenker der allmählich aussterbenden Pferdedroscheken, haben jetzt die Zeit dazu. Einst waren das Grobiane; sie konnten weidlicher schimpfen als Marktweiber, wenn sie auf ihren Holzklotzen am Stand einherstampften. Heute sind sie still, sehr still geworden, fast melancholisch, denn es gibt nur noch selten eine Fuhre, wenn ein Sonderling sich naht oder eine alte Tante aus der Provinz, die vor den Autos noch Angst hat. Es gibt auch keine jungen Kutscher mehr; fast nur noch eisgraue. Es ist eine ehrenfeste Innung, auf deren Biederkeit man sich man sich durchweg verlassen kann. Neulich vergißt eine Berliner Ärztin, die im Umzuge begriffen ist und in einer Pferdedroschke langsam dem Möbelwagen folgt, in der Droschke eine Kassette, in der sich außer dem Mietskontrakt, der Approbation, den Prüfungszeugnissen, den Versicherungspolizen und sämtlichen sonstigen wichtigen Papieren auch rund 700 Mark Bargeld befinden, die für die erste Miete bestimmt sind. Welche Nummer die Droschke hatte ? Keine Ahnung. Wie der Kutscher aussah ? Keine Ahnung. Von welchem Stand er geholt war ? Keine Ahnung; irgendwo von unterwegs. Da ist guter Rat teuer. Die einen sagen: in den Rauch schreiben! Die anderen sagen: dem heiligen Antonius ein Licht geloben, dem Schutzpatron der ehrlichen Finder! Aber siehe da, am nächsten Tage meldet die Polizei, die Kassette sei von dem Kutscher im Fundbureau abgegeben. Ausländer staunen Bauklötze. Das ehrliche Berlin erstrahlt.

Es gibt viele liebe, besinnliche Leute unter unseren alten Rosselenkern. Neulich verfrachtet ein Berliner seine greise Schwiegermutter in solch ein Gefährt, gibt dem Kutscher nachher ein Trinkgeld und sagt: "Da, mein Sohn!" Der dankt, bemerkt nur, daß er als Sohn wohl schon zu alt wäre und fügt dann freundlich hinzu: "Aber et sollte mir sehr angenehm sind!"
15. März 1928 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts