"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 37 - 39
28. Mai bis 11. Juni 1925


37

Mit Tante Malchen im Fahrstuhl - "Schokoladenkinder" im Admiralspalast - Was ist Niggermusik? - Die kleine Gelbe - Günstigere Kriminalstatistik - "Burschen heraus" - Auf der Suche nach Führerpersönlichkeiten - Von der weiblichen Psyche - Das Reichsbanner beim Kronprinzen

Tante Malchen aus Ostpreußen macht immer vergnügte Kulleraugen, wenn sie von den Herrlichkeiten Berlins erzählt. Was ich umgekehrt von ihrem Berliner Auftreten gelegentlich erzähle, kriegt sie zum Glück nicht zu Gesicht; sonst würde sie in ihrem Testament den Fuchspelz, die alten Ohrringe und das Ludwig-Richter-Bild für uns streichen. Wenn sie hier ist, besucht Tante Malchen begeistert diejenigen Neffen und Nichten vierten bis fünften Grades, die im obersten Stock wohnen und Fahrstuhl haben. Am liebsten führe die Tante den ganzen Tag hinauf und herunter. Das sei ja so fabelhaft bequem: man dreht an einem Rad oder drückt auf einen Knopf, es kostet nichts, man schwebt nach oben und wird vor seiner Wohnungstür abgeladen.

Jawohl. Also fahren wir.

Am letzten Dienstag, nachts um ½1 Uhr - Tante Malchen ist in Berlin erstaunlich genußfreudig - kehrt sie mit mir heim, nachdem wir uns in der Schloßkonditorei Unter den Linden die letzte Eisschokolade gegönnt haben, und nimmt mit verträumtem Lächeln auf dem Bänkchen im Fahrstuhl Platz. Im nächsten Augenblick könnte man mit Schiller deklamieren: sie bewegt sich, schwebt! Da, auf einmal, im vierten Stock, krack, bumm, hält der Fahrstuhl unter Übergehen der Bremse zwei Handbreit zu hoch.

Die Tür läßt sich nicht öffnen. Wir sind Gefangene. Auch der Versuch, wieder abwärts zu fahren, mißlingt. Der Fahrstuhl rückt und rührt sich nicht. Offenbar sind die Sicherungen durchgebrannt. Ich mühe mich an dem Türschloß ab, aber schwarze Pfoten sind die einzige sichtbare Quittung. Nun drücke ich einmal, zweimal, fünfzigmal auf die Alarmklingel. Im zweiten Hinterhof schlägt ein Hund an; sonst Stille wie auf dem Friedhof. Unaufhörlich redet Tante Malchen, der allmählich der Angstschweiß ausbricht, auf mich ein, so daß ich in meinem Bemühen gestört werde, etwa sich nahende Schritte zu hören und Lärm zu schlagen. Und einer Erbtante mit drei Kostbarkeiten kann man doch nicht "Halts Maul!" sagen. Schon sieht sie im Geiste uns zerschmettert unten im Schacht liegen. Ich solle bloß die Finger von Rad und Riegel lassen, das gebe sicher ein Unglück; wir sollten lieber gemeinsam Gottes Hilfe erbitten.

Ich gestehe, die Lage war nicht angenehm. Mit einer etwas jüngeren Dame hätte ich das Gefängnis lieber geteilt. Außerdem durfte ich, da nur 3½ Kubikmeter Luftraum verfügbar war, nicht rauchen. Immerhin: so überzeugt tief innerlich religiös ich auch bin, die Aufforderung zum Beten kam mir in diesem Augenblick geschmacklos vor.

"Tantchen", sagte ich, "man soll doch wegen einer durchgebrannten Sicherung nicht gleich den lieben Gott bemühen, zumal bei nachtschlafender Zeit; außerdem hast Du, glaube ich, Dein Konto beim lieben Gott bereits stark überzogen."

Von da an schwieg Tante Malchen entrüstet still. Ich weiß, ich weiß, ich bin ein Rabenvater. Auf die Ohrringe der Tante hatte unsere jüngere Tochter sich schon so gefreut.

Ich eröffne nun erneut ein Trommelfeuer auf den Klingelknopf. Um 2 Uhr hört man endlich etwas im Kellerloch. Ich rufe. Es ist der Kleine vom Portier. Wo sein Vater sei, frage ich. "Vata, Mutta un Schwesta sind zu Besuch bein Onkel ins Krankenhaus!"   "Junge, Du bist verrückt, um zwei Uhr nachts ist keine Besuchsstunde!"   "Weeß ick nich, aba a hat et doch jesaacht!" Dann ist es wieder still; kein Rufen hilft, der Junge ist weg. Aber ich nehme heute alles zurück, was ich je in Gedanken, Worten und Werken wider ihn gesündigt habe, - in Hemd und Hose, barfuß, hat sich der Junge aufs Rad gesetzt und ist losgesaust, die Eltern zu suchen. Das wußte ich aber um 2 Uhr nachts noch nicht. Auf dem Holzbänkchen wachsen mir von Minute zu Minute die Gesäßschwielen wie einem Mandrill. Tante Malchen hat ergeben ihren Kapotthut abgesetzt und auf eine ausgebreitete Zeitung gelegt, damit wenigstens er nicht zerdrückt werde, wenn wir abstürzen. Draußen in der Welt, die uns verschlossen ist, tutet ein Auto. Über unserem Hause hört man Motorgebrumm. Aha, das Nachtflugzeug aus Stockholm kommt von Norden her. Aber sehen können wir nichts. Es ist wie in Tutanchammons Grabkammer vor der Erschließung.

Da, um ¾4 Uhr, verworrenes Geräusch im Schacht. Die Portiersfamilie ist da. Sie hat bei einer anderen Portiersfamilie gefeiert. Endlich hat der Junge sie gefunden. Wir werden vom Keller aus zwei Handbreit tiefer gehaspelt. Die Tür geht auf - ah - Freiheit, Bewegung, Menschen! Zwei dicke Tränen purzeln Tante aufs Jabotchen.

Sie ist von Berlin geheilt. Sie schwärmt seit drei Tagen für Städte mit einstöckigen Villen. Ich auch. Ich möchte gleich zu Pfingsten welche aufsuchen. Aber nicht in Tante Malchens Begleitung.

Vielleicht fahre ich zu Professors nach Rostock und gehe in Warnemünde baden.

Nur raus aus Berlin. Raus! Raus!

Trotz aller Anziehungsversuche. Die Theaterleiter reißen sich Arme und Beine aus, um uns heranzukriegen, um uns unerhörte Sensationen zu bieten; und doch ist die größte Sensation außerhalb ihrer Häuser zu finden, nämlich die, daß es in diesem Mai keine Eisheiligen gegeben hat, sondern drei Wochen lang schönste Prallsonne. Da bleibe, wer Lust hat . . . Aber die 45 "Schokoladenkinder", die Newyorker Negertruppe im Admiralspalst, habe ich mir doch angesehen. Berufsmäßig natürlich. Privatim weiß ich mir besseres. Nun lesen wir in den Zeitungen Interviews mit den sehr ehrenwerten Kolorierten und "tiefschürfende"Essais über Niggerkunst und Niggerkultur und den glutheißen Steppengeist ihrer Musik. Keine Ahnung. Ich habe an Ort und Stelle außerhalb Europas genug von den Herrschaften gesehen, um das beurteilen zu können. Richtige Negermusik reizt durch ihre Eintönigkeit die Nerven, durch ihr ewiges "La i alla lallala! La i alla lallala!", das die ganze exaltierte Gesellschaft tausend und abertausendmal hintereinander singt, während die orchestrale Begleitung nur aus ein paar Trommeln zu bestehen braucht, die mit den Handflächen wie rasend bearbeitet werden. Der einzige Zweck ist Steigerung des Rhythmus bis zum tierischen "moment suprème". Was die Newyorker Gentlemen und Ladies uns bieten, ist nicht Niggermusik, sondern - meschuggene Musik; wobei man freilich einfügen muß, daß sie nicht ganz so meschugge ist wie die mancher europäischen Jazzband. Zu diese Musik aber, die pausenlos 2½> Stunden daherquäkt, wird unaufhörlich getanzt. Der Neger mit seinen dünnen, aber sehnigen Beinen ist der geborene Steptänzer, überhaupt der geborene Akrobat. Bitte nicht an Onestep und Twostep zu denken. Man stelle sich vor, daß die Bühne, immer schneller, immer schneller, unter den Leuten weggezogen wird, und daß sie daher, obwohl sie so schnell steppen, wie die Nadel der Nähmaschine, doch nicht vom Fleck kommen: so sieht es aus. Dazu trillern sie gelegentlich mit den Beinen, hakeln mit den Füßen, immer den Rhythmus stampfend, bis zu Sechzehnteltakt. Es ist ein tolles Geknatter. Oberkörper und Arme sind fast immer unbeweglich oder machen bestenfalls ein paar angelernte Bewegungen. Ursprüngliches Leben ist im Nigger nur in der Körperhälfte vom Bauchnabel abwärts.

Das kann man auch hier bei diesen Artisten feststellen. Es ist völkerpsychologisch und -physiologisch recht interessant. Man mag allen diesen zähnefletschenden Boys und half-cast-Mädels auch höflich Beifall spenden. Aber die Berliner sind durch die Vorberichte der Zeitungen verrückt gemacht: sie rasen Beifall. Wirklich schokoladen sind übrigens nur drei oder vier der Leute. Die übrigen sind Bastards, zum Teil mit Blutmischung aus dem Chinesenquartier. Einige Mädchen fast weiß. Nur daran, daß die inneren Handflächen - noch heller sind (und die Nasenflügel ein wenig breiter als bei uns) erkennt man das Farbige. Wer auch nur 5 v.H. davon hat, ist drüben aus der Gemeinschaft der Weißen ausgeschlossen.

Abgesehen von Fräulein N'gami - mit Schnalzlaut im Anlaut - aus Berlin, Lothringer Straße, habe ich nie auch nur lose Tuchfühlung mit irgendeinem Neger oder Mulatten gehabt. Auch draußen nicht. Besonders jetzt, wo man an die Beester im Rheinlande denkt (der Berliner im Admiralspalast denkt überhaupt nicht), überläuft es einen. Aber - auch nach unseren Begriffen - entzückende Mädchen gibt es in der gelben Rasse. Im fernen Osten saß ich einmal beim Tee einem solchen zwölfjährigen Ding gegenüber, das mir in seinr Sprache ungefähr sagte: "Alles kannst Du von mir haben, bloß das Eine nicht!", womit sie - das Photographieren meinte; sie war nämlich Mohammedanerin und scheute die Todsünde, laut zweitem Gebot, von einem Ebenbilde Gottes ein Bildnis machen zu lassen. Unsere Ostafrikaner, die unter Lettow-Vorbeck jahrelang mit den braven schwarzen Askari dem übermächtigen Feinde unbesiegt zu schaffen machten, bitten immer, man solle doch nicht alle Neger in einen Topf werfen. Sie seien keine Beester. Auch verübele ich es weder unseren Missionaren noch Erzberger, daß sie uns allerlei Herrliches von der Negerseele erzählen.

Der Neger ist unter Disziplin gut. Der losgelassene Neger aber ist doch ein Vieh.

Womit nicht gesagt sein soll, daß dasselbe nicht auch für die weiße Menschheit gilt. Wir haben nur eben eine ganze Menge diziplinarer Hemmungen in uns, die uns vor dem allzu häufigen Sprung in das Tierische bewahren. Herkunft, Tradition, Erziehung, Strafgesetzbuch wirken mit. In Notzeiten werden die Hemmungen schwächer. Jetzt sind wir auch in der Reichshauptstadt über das Ärgste schon hinaus. Es sind hier zwar im letzten Vierteljahr nicht weniger als 11 744 Strafanzeigen gegen Autolenker und Autobesitzer ergangen, die kleineren Vergehen und Übertretungen auf allen Gebieten ("da Jeschgurun fett ward, ward er übermütig") nehmen zu, auch die Betrugsanzeigen namentlich gegen die östlichen Zuwanderer, aber die schweren Verbrechen seit der Revolution sichtlich ab. Im Jahre 1919 war die Berliner Kriminalpolizei mit 36 539 Einbrüchen befaßt, im Jahre 1924 nur noch mit 14 652; dazwischen im Jahre der größten Inflationsnot war die Ziffer wieder angeschwollen, sonst aber regelmäßig heruntergegangen. Selbstverständlich hat das äußere Gründe; innerlich besser wird der Berliner ebensowenig wie die übrige Menschheit. Im Jahre 1919 habe ich es in einer kleinen Kneipe in Berlin  erlebt, daß ein Gast für ein paar Pfennige Mostrich sich erbat und aufs Markenbrodschnittchen strich, um auf meinen fragenden Blick dann verschämt zu bemerken: "Man kann sich so schön Wiener Würstchen bei denken!" Nun haben wir die Wurst wieder und - die Arbeit, die sie schafft; und die Zahl der Kriminellen sinkt. Man sage nicht, daß damit eine rein materialistische Auffassung begründet werde. Ganz übersehen darf man materielle Ursachen auch nicht.

Jedenfalls sehe ich mit Genugtuung, daß auch der studentische Frohsinn wieder erwacht. Es gibt zwar auch in Berlin, wo man so bequem in der Masse verschwindet, noch Hunderte von "Werkstudenten", die mit ihrer Hände Arbeit sich die Möglichkeit geistiger Arbeit verschaffen, aber das wird über kurz oder lang die Normalzahl sein, die es auch früher schon gab, bis in vergangene Jahrhunderte hinein. In einer Riesenstadt fallen 12 000 Studenten kaum auf, zumal da nur ein kleiner Teil von ihnen die Farbenmütze trägt. Aber immer mehr Väter können ihren Söhnen wieder das Verbindungsleben gönnen. Nur sind es zum Teil andere Väter als ehedem. Weniger Geheimräte, mehr Feinkosthändler. Unter den Linden gibt es wieder den "Renommierbummel". Und im Zoo, draußen vor dem Hauptrestaurant, sah ich am Sonntag wieder Landsmannschafter und farbentragende Turnerschafter an langen Tischen, wie Tulpenbeete in Holland, beim Frühschoppen, das "Burschen heraus! Lasset es schallen von Haus zu Haus!" ertönte im Chorgesang, und bei der Vaterlandsstrophe erhob sich die ganze Gesellschaft mit einem Ruck und sang die Strophe stehend und entblößten Hauptes. Natürlich ist das bewußte Propaganda. Die stille wirkliche Poesie findet sich weit eher auf kleinen Universitäten.

Auch dort ist man schon freilich auf das Züchten aus. Es sollen "Führerpersönlichkeiten" herangebildet werden, heißt das große Schlagwort. Die werden nicht herangebildet, die werden geboren. Man versucht, mit allerlei psychomechanischem Handwerkszeug festzustellen, wer dazu gehört. Aus dem Bergmann-Haus der Universität Kiel kommt sonderbare Kunde: unter seinen Insassen seien rund 60 v.H. "Führerpersönlichkeiten" entdeckt worden. Na dann Prost.

Nächstens besorge ich mir auch die nötigen Instrumente. Ich werde mich aber auf die Prüfung der Berliner Damenwelt spezialisieren. Da hat man vielleicht noch überraschendere Ergebnisse.

Die Berlinerin ist keß, sagt sie von sich selbst.

Das soll heißen, sie sei eine freche Rübe, aber voll Schick. Du liebe Güte, das ist nicht die Berlinerin, sondern die Großstädterin überhaupt. Im übrigen sind die weiblichen Wesen, vom äußeren Behang abgesehen, in Stärke und Schwäche doch wohl überall gleich. Eine Frau glaubt den Gipfel des Mutes erklommen zu haben, wenn sie den Entschluß gefaßt hat: "Ich werde ihm einen anonymen Brief schreiben!" In Fällen wirklicher Gefahr handelt sie nicht, sondern schließt die Augen und wartet auf das Wunder. Aber gerade diese Schwäche ist oft ihre Stärke; denn sonst könnte doch der Mann sich nicht einbilden, ein Held zu sein, in welcher Pose man ihn am leichtesten um den Finger wickelt.

Wirklich zum Schieflachen ist der Heldennachwuchs. Der vom republikanischen Reichsbanner. Seine Gruppenführer sehen alle so nach Großkonfektion, nach Hausvogteiplatz aus. Einige schlesische Ableger, mit Berlin untermischt, haben ja neulich sogar in Schloß Oels "demonstrieren" wollen. Die Hauptsache war der Reklamebericht nachher in den Zeitungen. Die Heldenjünglinge hätten dem Kronprinz ordentlich die Wahrheit gesagt, und er habe zugeben müssen, daß allerdings vieles bei uns reformbedürftig gewesen sei. Ich vermute, daß das "gewesen" nachträgliche Einfügung ist. Einerlei. Jedenfalls hat die "machtvolle" Kundgebung in Wahrheit sich sehr friedlich abgespielt. Als die Bannerleute anmarschierten, trat der Kronprinz schmunzelnd heraus und auf sie zu, worauf der führende Jüngling seinerseits vortrat und die Worte sprach

"Herr Kronprinz - wir - tun Ihnen nischt!"

Da konnte sich der das Lachen natürlich kaum verbeißen. Er habe, sagte er, im Kriege oft genug, soweit sein Dienst als Armeekommandeur es zuließ, den vordersten Schützengraben aufgesucht. Wer da gewesen sei, der habe keine Angst davor, daß die jungen Leute vom Reichsbanner Schwarzrotgold ihm was tun könnten.

Sprachs und lud sie zu einer Besichtigung des Schlosses ein.

Sie kamen sich sehr dumm vor.
28. Mai 1925 (Donnerstag)


38

Massenverkehr ins Grüne - Mein Ausflug nach Kopenhagen - Vom neuen Polizeipräsidenten - Hindenburg und die verkürzte Rente - Dienstmädchen und Tanztage - Kein Adel mehr - Der deutsche Rundflug - An der Einsamen Pappel

"Vater, Mutter, Mann und Maus - ziehen froh in't Jriene raus", heißt es zu Pfingsten seit altersher, und so hat denn Berlin auch diesmal die Umgegend bevölkert: zwischen Müritzsee und Spreewald war kein Entkommen. Um eine Ahnung von der Bewegung der Menschenmassen zu erhalten, braucht man sich bloß sagen zu lassen, daß allein die Straßenbahn an den zwei Pfingsttagen 4,3 Millionen Fahrscheine verausgabt hat. Die Eisenbahnen, Autobusse, Dampfer weisen entsprechende Ziffern auf. Die acht großen Freibäder an den Gewässern rund um Berlin hatten dabei nicht einmal den erwarteten Riesenbesuch. Wer es irgendwie konnte, der fuhr noch weiter hinaus, um wirklich gänzlich unverberlinerte, garantiert frische extraprima Landluft zu genießen. Bis in die mecklenburgischen Seen ging die Reise vieler Tourenruderer, die aber auch dort noch auf Berliner Kommunisten stießen, die mit Gummiknütteln auf schwarzweißrote Flaggen lauerten.

Man muß wirklich schon noch weiter hinaus, um von Berlin ganz frei zu kommen, einmal ordentlich aufatmen zu können. Es ist mir beinahe ganz gelungen. An Bord des kleinen fixen "Großherzog", der seinen ersten Ausflug von Rostock nach Kopenhagen machte (im Vertrauen gesagt: lächerlich billig) dominierte Mecklenburg, nicht Berlin. Berlinisch waren nur zwei oder drei Pärchen, die den ewigen Irrtum begingen, durch öffentliche Zärtlichkeit ihre Legitimität vortäuschen zu können. Da legt sie ihm gleich den Kopf in den Schoß. Zum mindesten übt sie hingebenden Augenaufschlag. Eheleute haben das nicht nötig. Wenn sie stundenlang nebeneinander sitzen, ohne ein Wort zu sprechen, dann bin ich gewiß: sie sind glücklich verheiratet. Also abgesehen von den Berliner Pärchen und einem Tauentzien-Gent, der erster Klasse von Berlin nach Rostock fuhr und zurück dritter von Rostock nach Berlin, weil er sich wohl auf sozialen Studien in der letzten Kopenhagener Nacht etwas verausgabt hatte, herrschte Gott sei Dank Mecklenburg vor; neben einigen Levetzows, die man dort überall findet, in besonders starker Zahl der gemütliche Onkel-Bräsig-Typ, lauter geruhige und stattliche Leute, die es nicht nötig haben, im Auslande durch lautes Wesen unangenehm aufzufallen. Ich habe selten eine so gesittete Reisehorde getroffen, obwohl dem Köhm und Korn und Cognac nicht übel zugesprochen wurde.

"Ick bün en mecklenbörgisch Edelmann,
Wat geiht di, Düwel, min Supen an ?"

steht schon laut Treitschkes Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert auf dem Grabstein eines dortigen Trinkfesten. Ja, das Supen, das Saufen, das schon die alten Deutschen "auf beiden Ufern des Rheins" betrieben, ist auch an der Warnow noch nicht außer Mode gekommen, nur daß man es hier durch Essen mildert. Einen dieser kräftigen Männer vom Lande sah ich zum Frühstück zunächst 4 Eier und 7 Brötchen vertilgen, dann holte er sich aus der Reisetasche noch die heimische Schlackwurst hervor und säbelte sie sich viertelpfundweise in den Mund. Ich verüble es diesen Ausflüglern durchaus nicht, daß sie am zweiten Tage in Kopenhagen - am ersten waren wir in Helsingör und in Hilleröd zur Besichtigung der Kronborg und der Fredericksborg gewesen - in der Glyptothek, nachdem die griechische und römische und ägyptische Kunst überstanden waren, angstschwitzend den Führer fragten: "Sagen Sie mal, wo gibt es hier ein Bier ?" und dann ausrückten, obwohl die Gattin flehte: "Aber Liebling, wir sollen doch noch ins Thorwaldsen-Museum, wir müssen doch alles sehen!" Nein, Gnädigste, Ihr Mann hat Recht. Bloß nicht alles sehen! Ich habe nur eine halbe Stunde mit nach rechts schiefgelegtem Kopf vor Stephan Sindings "Gefangener Mutter" gestanden und habe in innerlicher Verzückung ihr auf die Marmorlippen gesehen, die so sehnsüchtig, so schmerzvoll und doch so glücklich gespitzt sind; und habe dann ebenso lange am Wasser - an der Langelinie - das erzene Nixchen auf dem Findlingsstein mir angeschaut. Das war für einen Tag Kunst genug. Im übrigen habe ich immer stille Vergleiche zwischen uns und den Dänen gezogen. In den Schaufenstern sehe ich das Schildchen "Dansk hat", dänischer Hut. In Berlin werden nie deutsche Hüte hervorgehoben; da steht statt dessen "Wiener Fasson" oder "echt englisch". Und die häufige Inschrift in dänischen Läden "hjemmelavet", daheim gearbeitet, suche ich bei uns auch vergeblich. Es ist doch etwas Schönes um diesen Stolz des kleinen Volkes auf das Eigene, von dem überall wehenden Danebrog bis zu der roten Grütze mit Sahne, und schier das Heulen kann man bekommen, wenn man draußen auf den fetten Wiesen an den Waldrändern immer wieder die Zelte der militärisch erzogenen Jugend erblickt, der uniformierten kleinen Pfadfinder, die hier ihre Fäustchen zum Winkerdienst recken oder in guter Disziplin sonstige Übungen machen. Das sind für uns seit Versailles verbotene Dinge. Aber es wird schon noch wiederkommen. Es wird alles wiederkommen. Solche Kerle, wie wir sie im Weltkrieg gehabt haben, den wir unbesiegt durch Feindeswaffen durchhielten, sterben nicht aus. Seht Euch doch nur den einen Mitreisenden an Bord des "Großherzog" an, den stämmigen, massigen, der so vergnügte Augen macht: das ist der Kapitän Lauterbach, auf den die Engländer 1914 einen Kopfpreis von 1000 Pfund setzten und der nachher, wie die Stewardeß uns zuwispert, als Navigationsoffizier auf der "Emden" ihnen noch manches Schnippchen schlug.

Das also war mein vorsommerlicher Probeversuch, den Berlinern zu entfliehen. Man hat mich wieder eingebracht. Ich kann nun umgekehrt noch zwei Monate lang wieder feststellen, daß das "weltberühmte" Kopenhagener Tivoli doch erheblich kleinstädtischer ist als unser Lunapark; oder daß unser Zoologischer Garten einen viel opulenteren Eindruck macht als der dortige; oder daß unsere Autos etwas ganz anderes sind als drüben die Ford-Wagen, diese kleinen Konservenbüchsen auf Rädern. Aber die Luft, die schöne frische Luft von der See und den Laubwäldern her, die fehlt bei uns. Der neue sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Grzesinski, sagt, er könne gegen die Verpestung nichts machen, denn es fehle an der "gesetzlichen Handhabe" gegen die Rauchgasstinker. Na, na. Bei Gott und der reitenden Artillerie ist nichts unmöglich, pflegte mein einstiger Abteilungsführer Heintze v.Krenski zu sagen, der nun schon seit grauen Zeiten Exzellenz und a.D. ist. Wenn die Berliner Polizei es fertig gebracht hat, uns - seit November 1918 wieder zum ersten Male - frische Brötchen zum Frühstück zu verschaffen, indem sie das Nachtbackverbot um eine Stunde abkürzte, die Ruhezeit von 10 Uhr bis 6 auf 9 bis 5 Uhr umsetzte, so wird sie in der Ära Hindenburg auch wohl der Verölung und des Auspuffs Herr werden.

Ja, Hindenburg. Alles Gute wird von ihm erhofft. Alles Schlechte wird ihm zugeschrieben. Ich möchte wahrhaftig in seiner Haut nicht stecken.

Dieser Tage geht die Frau eines Rittmeisters a.D., wie jeden Monat, auf die Rentenstelle im Hauptpostamt Berlin-Wilmersdorf in der Uhlandstraße. Statt der bisherigen 20,95 Mark erhält sie nur 20,45, also 50 Pfennig weniger. Warum ? Der Beamte zuckt die Achseln; das wisse er nicht. Eine Frau aus dem Volke, die mit in der Reihe steht, greift da aufklärend ein und sagt: "Det is Hindenburch!" Auf die Frage der Frau Rittmeister, was denn Hindenburg damit zu tun habe, sprudelt die Alte los:

"Det wissense nich ? Se lesen woll keene Zeitung ? Hindenburch braucht Soldaten, un die kosten Jeld! Det missen wa arme Rentner bezahlen! Na ibahaupt Hindenburch. Wer den jewählt hat, jleich uffjehangen mißte a wern!"

Es gibt so dumme Weibsbilder. Es gibt so schuftige Zeitungen. Was es aber nicht geben sollte, das sind solche Beamte, die - zu fünft - uniformiert in einem Hauptpostamt sitzen und kein Wort auf das Gekeife zu erwidern wissen. Es ist nicht nötig, daß sie die Alte hinauswerfen, weil man in einem Amtslokal keine Hetzreden halte. Dadurch würden sie nichts bessern. Aber wo bleibt der humorvolle Berliner Zuspruch ? Mit ein paar Sätzen hätten sie die Frau entwaffnen und vielleicht sogar zum Nachdenken bringen können. Und dabei ist diese Szene nur eine von tausenden, die sich täglich so oder ähnlich wiederholen. Am häufigsten in den Markthallen, wo "gutgekleidete ältere Herren" den Dienstmädchen erzählen, Hindenburg werde jetzt - ihren freien Ausgang abschaffen.

Wenn es an Ort und Stelle immer gleich auch ein paar gutgekleidete ältere Herren von der anderen Couleur gäbe, die nicht auf den Kopf gefallen sind, so könnten sie den Mädchen sagen: "Ganz im Gegenteil! Sogar alle Tage Tanzfreiheit wird es geben!" Noch wird ja, wenigsten offiziell, nur am Dienstag, Donnerstag, Sonnabend und Sonntag in Berlin getanzt. Und wenn die Gnädige selber alle diese Tage braucht, ihrem Mädchen bloß am Montag, Mittwoch oder Freitag den Ausgang gestattet ? Tragödien gibt es im Leben, Tragödien. sage ich Euch, die kann sich kein Außenstehender vorstellen. Aber auch das Tanzverbot wird ja sicher bald fallen müssen. Wie überhaupt alle in ruhigen Zeiten überflüssigen Einschränkungen aus Kriegs- und Revolutionsjahren.

Nur etliches müßte als Andenken bleiben, so die "Regelung" der Adelsverhältnisse. Ein gesetzliches Vorrecht gab der Adel ja auch früher nicht - und das gesellschaftliche ist gerade unter höchst demokratischen Republikanern nach wie vor geblieben. Ganz "abgeschafft" ist der Adel von der Revolution in Österreich, unter dem Präsidium Renner. Ein alter Wiener Aristokrat hat da den Humor besessen, seinen Namen auf der Visitenkarte vorschriftsmäßig bürgerlich zu drucken, darunter aber in Klammern setzen zu lassen: "Geadelt von Karl dem Großen, entadelt von Karl Renner." Ganz komisch ist es bei uns. Unsere Revolution hat sich damit geholfen, den Adel einfach für einen an sich belanglosen Familiennamen zu erklären, den also auch Ehefrau und Nachkommenschaft weiterführen dürfen, nur nicht als Adel. Die Gräfin Bassewitz, die Gattin des Prinzen Oskar, heißt also jetzt amtlich Frau Prinz von Preußen. Beileibe nicht Prinzessin; das wäre Adel. Da hat kurz vor Pfingsten eine junge Berliner Dame einen Freiherrn - sagen wir von Watter - geheiratet. Ist also nach bisherigem Sprachgebrauch nun Freifrau. Ich vergesse mein Lebtag ihr hilfloses Gesicht nicht, als sie nach der Eheschließung vor dem Standesbeamten die Urkunde aber "richtig" wie folgt unterschreiben mußte: Anna Elisabeth Freiherr von Watter. Es wäre zu nett, wenn so etwas zur Erinnerung an die Weltumstürzler von 1918 dauernd uns verbliebe. Übrigens wirklich abgeschafft ist nur die Neuadelung. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Es hat auch schon früher Leute gegeben, denen ihr Name auch ohne Partikel davor gut genug war. Ludendorff hat während des Krieges den ihm wiederholt angebotenen Adel ausdrücklich abgelehnt.

Unsere Aufgabe ist es jetzt, nicht Ahnen zu haben, sondern Ahnen zu werden. Von dem jetzt lebenden Geschlecht wird es abhängen, ob wir wieder zu einer geachteten Nation gesunden.

Trotz aller Klötze am Bein erheben wir uns wieder, - wenigstens buchstäblich, in die Lüfte. Wir sind gefesselt, und fliegen doch. Freilich nur zu rein sportlichen und zu Verkehrszwecken, aber so erziehen wir uns wenigstens den Fliegernachwuchs. Mehr nicht. Da uns nur Flugzeuge mit 170 Stundenkilometern Geschwindigkeit "gestattet" sind, während der Weltrekord schon vor mehreren Jahren über 330 Kilometer hianusging, sind wir praktisch von jeder internationalen Sportflugkonkurrenz ausgeschlossen; und die schwachmotorigen kleinen Einsitzer, an denen sich unser Erfindergeist abmüht, haben sich doch schon in den ersten Tagen des Rundflugs als zweifelhafter Notbehelf erwiesen. Trotzdem ist der ganze Wettbewerb natürlich erhebend. Auf dem Tempelhofer Felde starren jetzt täglich Tausende und Abertausende begeistert in die Lüfte. Nicht nur nachmittags, wo es Loopings - Purzelbäume - in der Luft gibt, wie sie Pégoud nicht besser konnte, Abtrudeln im "Korkzieher", Fallschirmabsprünge und allerlei Volkstümliches mehr, sondern auch morgens um 4 Uhr, wo die Flieger immer wieder zu neuen 1000-Kilometer-Schleifen im Deutschen Rundflug aufsteigen. Mancher kleine Berliner kommt wohl auch nur deshalb hinaus, um aus dem Füllhorn der Reklameflieger, die außer ihren Zetteln auch Tafeln Schokolade verstreuen, etwas zu erhaschen. Aber viele ahnen doch nur, um was es geht. Nur wird man traurig, wenn man so das Tempelhofer Feld wiedersieht, das, abgesehen vom Flugplatz, ein einziges großes Baugelände geworden ist.

Hier haben wir einst in der Kaiserparade im Herbst jeden Jahres gestanden. Hier wiegten sich zuletzt Militärflieger über den reisigen Geschwadern. Heute wird die "Einsame Pappel", vor der der Kaiser früher hielt, schon durch einen mächtigen Sandwall beengt, in dem die Fundamente zu irgendeinem großen Industriebau gelegt werden. Ein kleiner Rest des Feldes ist noch grün; da gibt es Laubenkolonien mit allerlei Fähnchen, auch roten, an den Holzbuden. Davor aber sitzt schon heute, sehr nachdenklich, mancher alte Arbeiter und erzählt den Seinen aus der Zeit, da die "Einsame Pappel" noch Wahrzeichen unserer Waffengewalt war; und ihm schwimmen dabei die Augen.
4. Juni 1925 (Donnerstag)


39

Meine Bierenkelin - Lücken im Zeughaus - Dürre - Das Sommerfest der ausländischen Presse - Wieder einmal der Hauptgewinn - Nasenloch und Lippenstift - Die erotischen Stilisten - Bronnen-Skandal - "tell a woman"

Man nennt das wohl Bierenkelin, was mir da auf ein paar Tage ins Haus geflogen ist, das kleine siebzehnjährige Mädel. Ich habe nämlich eine Zeitlang auch zwei Universitäten unsicher gemacht, wovon einige polizeiliche Strafmandate und die Existenz dieser Bierenkelin Zeugnis ablegen. Also es ist die Tochter von meinem Leibfux, der in einem pfälzischen Städtchen als Arzt wirkt; wie man sieht, ist er ein nützlicheres Mitglied der Gesellschaft geworden, als ich, sein Leibbursch. Und nun gar erst mein eigener Leibbursch: der ist sogar Landeshauptmann in Schlesien, und das Denkmal seines Urgroßvaters steht auf einem Platz in Berlin. Ich bin sehr stolz auf meine Bierfamilie. Und diesen weiblichen Sproß habe ich wirklich mit Rührung empfnagen, weil mit ihm in unsere stickige Großstadt auf einmal die unberührte Taufrische von weit da hinten in der Pfalz eingezogen ist. In der Stadt dort gibt es noch nicht einmal Droschken, nur eine einzige Straßenbahnlinie! Und das Kind trägt von Mutters Hand gestrickte dickwollene Strümpfe und doppeltgesohlte Stiefel! Und wenn unsere beiden Primaner der jungen Dame Gutenacht sagen, schnellt sie wie vor Respektspersonen von ihrem Stuhle auf! Sogar unsere alte Waschfrau ist gerührt und sagt:

"Jotte nee, is det Freilein schichtern! Jrad so wie icke, als ick so kleen war. Wenn man mir zu Besuch bei die Nachbarn schickte un ick drickte mit de Hand uff de Klinke un de Klinke knackte, da riß ick schon wieder aus. Nachher krichte ick Keile, weil ick so bleede war!"

Mit meiner Bierenkelin kann ich natürlich nicht ins Kabarett Größenwahn oder in den Pavillon Mascotte oder in eine andere Berliner Verderbtheit gehen, sondern solche Gelegenheiten sind dazu da, damit ich wieder einmal die Menzelbilder oder die Böcklins in der Nationalgalerie oder das Mausoleum der Königin Luise zu Gesicht bekomme. Ich fasse also die Kleine sorglich an der Hand und geh zuerst - das tue ich immer zuerst - mit ihr in die preußisch-deutsche Ruhmeshalle im ersten Stock des Zeughauses. Da blicken aus den riesigen Wandgemälden zweihundert Jahre unserer herzerhebenden Geschichte auf uns hernieder. Aber neben dem Zeughaus und in ihm selbst spricht sie demütigend aus vielen Lücken. Das große 1870 eroberte Fetungsgeschütz vom Mont Valérien vor Paris, von den Berlinern irrtümlich "Faule Grete" genannt. ist weg. Die Postamente im Lichthof des Zeughauses, auf denen Mitrailleusen und Kanonen standen, sind leer. Alle Fahnen, die wir jemals in Jahrhunderten unserem ewigen Bedränger in siegreichem Kampfe abgenommen haben, sind verschwunden, zum Teil freilich nicht in die Hände der Franzosen gefallen, sondern rechtzeitig 1919 von Berliner Studenten und Frontsoldaten verbrannt. Nur eine - neue Fahne hängt da. Eine blaue mit gelbem Kreuz. Die ist im vorigen Jahre von einer Abordnung des königlich schwedischen Offizierkorps uns als Ehrengeschenk überbracht worden, weil dieses germanische Brudervolk sich gedrängt fühlte, uns seine Bewunderung für unsere Leistungen im Weltkriege auszudrücken. An den großen Krieg selbst erinnert fast nichts. Nur ein Flugzeug des gefallenen Hauptmanns Boelcke ist da, eines aus der ersten Zeit, und mutet uns ganz altertümlich an, so ein Gestellchen aus Draht und Leinewand ist es. Von den unsäglichen Verblüffungen für unsere Feinde, den furchtbaren Kruppgeschützen, durften wir nicht ein einziges auch nur als Museumsgegenstand behalten, damit wir nicht davor Belehrung über Deutschlands Größe und Fall empfangen. Nur sechs leichtere Stücke sind uns im Lichthof gnädig belassen, darunter als "höchstes der Gefühle" ein 13-cm-Langrohr, wo wir lieber die "Dicke Bertha" mit ihren 42 Zentimetern Seelendurchmesser oder eines der Ferngeschütze sähen, aus denen Paris aus 180 Kilometern Entfernung beschossen wurde. Selbst diese sechs Kanonen aber sind unbrauchbar gemacht worden, damit wir damit nur ja nicht Krieg gegen die grande nation anfangen. Die Angst der Franzosen und zugleich ihre Lust an unserer Demütigung gebot, daß in jedes Rohr je vier große Luftlöcher gebohrt wurde.

Abgesehen von den Aufsichtsbeamten und einem Oberlehrer mit seinen zwei Söhnen waren wir an diesem Vormittag die einzigen lebenden Menschen im Zeughaus. Durch die früher nicht übliche Erhebung von Eintrittsgeldern und andere Maßregeln wird der Besuch von den republikanischen Behörden bewußt gedrosselt. Außerdem lockt natürlich das andauernd sonnig-warme Wetter ins Freie; es ist ein Frühsommer, wie wir ihn seit 1911 nicht mehr hatten. Nur sehen die Obstzüchter in Werder trübe darein, denn die Kirschen vertrocknen am Baume und das Gemüse bleibt zwergenhaft. Draußen aber auf den Feldern im Lande wird das Korn in der Dörrhitze schon weiß - und leise und doch schreckhaft läuft das Wort von der kommenden Mißernte um. Zur Dawes-Last und dem wirtschaftlichen Aderlaß durch die neue Entwaffnungsnote auch noch ein Fehlbetrag an Brot, das wäre mehr, als wir zur Zeit ertragen könnten.

Der Großstädter weiß von diesen Sorgen nichts, Le roi s'amuse. Und er ist dankbar, wenn etwas Neues, Unerhörtes - entweder in der Art oder in der Masse - von seinen Vergnügungskommissaren ihm geboten wird. Da hat der Verein der Ausländischen Presse ein Sommerfest auf dem Rennplatz Grunewald, vor und im Hauptrestaurant, veranstaltet, wie man es hier noch nicht erlebt hatte. Die goldene Sonne scheint über Baum und Rasen, drüben im Stadion sieht man die braungebrannten Leiber der Sportjünger in ihrem Lichte glänzen, Damenabteilungen der Hochschule für Leibesübungen turnen, Schwimmer steigen aus dem großen Becken empor und schauen zu uns herüber. Zu uns: zu dem modischen Damenflor und der berlinischen und internationalen Herrenwelt im Sommerdreß. Nicht ganz paßt zu diesem Bilde der Reichskanzler Dr. Luther als einer der Ehrengäste, der auf dem Abhang vor dem Hauptrestaurant sein bescheidenes Bäuchlein im grauen Rock spazieren führt und außerdem das Sprichwort illustriert: "Mit dem Hut in der Hand kommt man durchs ganze Land." Er bleibt fast unbeachtet, weil man nur Augen für die sogenannten mondänen Frauen aus der Gesellschaft und vom Film hat, die hier im Freien in wundervoller Folie ihre Toiletten zeigen. Lil Dagover, die schöne, zeigt ausnahmsweise nicht ihren bloßen Rücken, diese Hauptattraktion auf Winterbällen. Sie ist sehr einfach-vornehm gekleidet. Auf diesen Ton scheint, trotz aller Kostbarkeit, die Mode überhaupt gestimmt zu sein. Eine Menge "süßer", aber selbstbewußter Mannequins schwänzelt sie uns vor. Man sieht außer Complets (in Frankreich sagt man Ensemble) wieder Kleider mit langen Ärmeln, auch erneut wieder eigenwillig große Hüte neben den üblichen Bubitöpfchen, sehr viel Foulard und sonstige ganz leichte Seide, so daß gegen Sonne und Wind in diesen kurzen Röntgen-Kleidern die Damen fast transparent erscheinen. Neben der Modenschau und dem unvermeidlichen Tanz nach den Klängen dreier Kapellen draußen und drinnen füllt ein überreiches Programm die Stunden von 5 Uhr nachmittags bis 1 Uhr nachts, es gibt allerlei Reiterspiele (das Programm sagt natürlich: Gymkana) vom Berliner Poloklub, Stallmeister eines Tattersalls reiten eine vierfache Troika und exekutieren den Schleifenraub, Cilly Feindt, das blondlockige Wunderkind, führt uns die hohe Schule zu Pferde vor, Pony-, Esel- und Ziegenbock-Wägelchen des Zoologischen Gartens sind dazu da, damit die Konfektionäre in den Pausen ihre Mannequins und andere Menschenfreunde die hübschesten Statistinnen des Ufa-Films (es waren ihrer rund 80 gegen ein Tageshonorar von 5 Mark da) herumkutschieren lassen können, die Schauspielerin Trude Hesterberg und andere Damen zeigen uns die Mode zu Pferde, es gibt Schießbude, Karussel, Volkstänze von "Original-Bayern", eine Freiluft-Film-Uraufführung und allerlei sonst noch, am späten Abend die Chocolate Kiddies aus Newyork, die den wildesten Beifall ernten, so daß auch Mister Eyre, der hünenhafteste unter den fremden Pressevertretern in Berlin, befriedigt auf das Gewimmel herniederschauen kann, und zuletzt prasselt in die sterndunkle Nacht natürlich auch noch ein Brillantfeuerwerk.

Die stets übliche Tombola nicht zu vergessen. Ich habe so viel Glück in diesem Spiel, daß ich wirklich in den angenehmen Ruf kommen könnte, Unglück in der Liebe zu haben. Bei mir irrt sich der alte Spruch aber bestimmt. Sei es, wie es sei: ich habe nun schon dreimal auf diesen kleinen Sachlotterien einen Hauptgewinn gezogen. Vor zwei Jahren die Hermelinstola auf dem Presseball. Dann ein Fahrrad auf dem Gesellschaftsabend des Wissenschaftlichen Vereins für Luftfahrt. Jetzt auf dem Sommerfest im Grunewald eine freie Norwegenreise auf dem Luxusdampfer Peer Gynt. Mir geht es aber nachgerade wie König Midas, dem alles zu Gold wurde, auch das Essen, so daß er es nicht beißen konnte: genau die gleiche wunderschöne Reise habe ich mit meinen Damen doch schon im vorigen Jahre gemacht, und bis zum 18. Juni, wo es diesmal losgeht, kann ich mich gar nicht freimachen, denn meine Leser skalpieren mich doch, wenn ich mit dem Berliner Allerlei früher als Anfang August Ferien mache. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als die Fahrkarte für den halben Preis auszubieten. Mit ihrem Erlös will ich weniger Glückliche glücklich zu machen versuchen. Wer sie haben will, mag es meinem Verleger depeschieren; ich stifte als Reiselektüre dazu noch gern die vier ersten Rumpelstilzchen-Bände mit freundlichster Widmung.

Einen alten Doppelkameraden, von der Schule und von der Waffe, habe ich auf dem Fest getroffen und ihm meine Gewinne, von dem Teddybären und der Flasche Likör bis zur Norwegenreise, gezeigt. Der hat Bauklötze gestaunt. Wir waren den ganzen Abend beisammen, beide unbeweibt und abenteuerlos. Erst kurz vor Schluß des Festes ging der liebe Major a.D., der gelegentlich aus seinem holsteinischen Nest herkommt, mit dem älteren Bruder wieder weg - und ich mit gezücktem Bleistift und Notizbuch an die Arbeit. Aber der Teufel registriere heute die Damen! Ich sehe da eine in einem entzückenden Kleidchen, nach dessen Preis ich mich gern erkundigen möchte; vielleicht ist so eines für die verkloppte Norwegenreise zu erstehen. Die gutgemalte Dame ist totsicher Mannequin, hat ja sogar rotgetünchte Nasenlöcher, wozu diese kleinen Ferkelchen den Lippenstift zu benutzen pflegen. Also los.

"Mein Fräulein, darf ich fragen, welche Firma Sie vertreten ?"

Da reckt sich die Dame, zeigt ihre Nasenlöcher noch deutlicher als sonst und bemerkt spitz, sie vertrete eine südamerikanische Republik, deren Gesandter ihr Mann da drüben sei.

Au verflucht. Ich will dem Deutschen Reiche doch lieber keine diplomatischen Schwierigkeiten machen. Ich breche das Interview lieber ab.

Überhaupt können mir alle fremden Gesandten und Botschafter einschließlich des hochmögenden Herrn Schürmann von den Vereinigten Staaten gestohlen bleiben. Ich verkröche mich am liebsten irgendwohin, wo man das Wort Mächte oder Großmächte noch nie gehört hat. So denken viele, namentlich unter der deutschen Jugend. Ein Grüppchen gerät darob aber auf Abwege, will von Völkerringen nichts mehr hören, sondern spezielisiert sich auf den Kampf des Geschlechts. Je grüner die Herrschaften sind, desto abgebrühter tun sie. Der erst neunzehnjährige Klaus Mann, Thomas Manns Sohn, debutiert mit einem erotischen Drama. Von einem Siebzehnjährigen habe ich ein Büchlein voll beißender Aphorismen über das Thema "Weib" daheim. Und Arnolt Bronnen war achtzehn Jahre alt, als er seinen "Vatermord" schrieb. Heute ist er freilich schon neunundzwanzig, dieser junge unter uns lebende Steiermärker, und sein bereits licht werdender Scheitel wird bald so blinken wie sein Monocle. Ich mag das krampfige Zeug nicht. Vatermord, Inzest, Sodomie und wer weiß was sonst noch auf der Bühne sind mir zuwider. Freilich, die starken Ausdrücke über "gewagte" Dinge sind so die Art der Jugend; als Schiller im Alter von achtzehn Jahren seine "Räuber" anfing, tat er auch noch so krampfig, und wenn man die vollständige Originalausgabe liest - sie ist nicht einmal bei Cotta vollständig, denn der läßt z.B. aus dem Gespräch zwischen Karl Moor und Moritz Spiegelberg das saftigste weg, weil es so antisemitisch ist - der findet sehr viel Anstößiges. Aber für Schiller war das Saftige nicht die Hauptsache. Ein ungeheurer Idealismus lodert auch durch dieses Jugendwerk. Unsere heutigen Jungen aber sind nur Naturalisten, und Natur ist für sie nur das Geschlecht. So ist denn das auch jetzt zum ersten Male aufgeführte angebliche Lustspiel "Die Exzesse" von Bronnen weiter nichts als eine bissige Wedekindiade, in der gelegentlich allerdings ein scharfer Geistesblitz aufsprüht.

Ich habe das Skandälchen am vorigen Sonntag im Lessing-Theater miterlebt. In der zehnten Szene, wo die brünstige Hildegard von einem Ziegenbock sich beschnuppern läßt, nimmt der Ekel überhand. Aber nicht etwa die Vertreter der alten Ehrbarkeit (die verschwinden unter der Überzahl vom Kurfürstendamm) skandalieren, sondern zwei Cliquen von Voraussetzungslosen selber geraten sich in die Haare. Einer pfeift. Es ist der ganz links stehende Franz Pfemfert im Parkett. Ein zweiter hinter ihm pfeift auch. Es ist der Regisseur Moritz Kanehl, der für die Rotterbühnen bessere Schweinereien inszeniert und kommunistische Haßgesänge veröffentlicht. Zu diesem Hausschlüsselkonzert mitten während der Aufführung kommt am Schluß ein Höllenlärm noch weiterer Pfeifer. Es sind fabelhafte Talente darunter; der eine pfeift, auf dem Hausschlüssel, bitte, auf dem Hausschlüssel: "Du bist verrückt, mein Kind, du mußt nach Berlin!"

Ich habe nicht gepfiffen. Ich habe nicht Beifall geklatscht. Was geht's mich an. Wenn ein Arier wie Bronnen uns galizisch kommt, mag er's mit den Cliquen ausmachen. Ich schaue nur lächelnd auf die Erhitzten. Vorne kreischt ein bekannter Kabarettist einem Pfeifer zu: "Rotzbube! Rotzbubäh!" Und nachdem der Skandal schon etwa 20 Minuten gedauert, der abwehrende Beifallssturm immer wieder die Darsteller und den Dichtert vorgezerrt hat, springt Herr Moritz Seeler, der Spielleiter der "Jungen Bühne", die Bronnen protegiert, auf Herrn Moritz Kanehl zu und haut ihm eine runter. Nach dieser Knallschote verschwindet Herr Seeler wieder mit derselben affenartigen Geschwindigkeit. Endlich leert sich unter Beistand der Schutzleute der Saal. So etwas nennt man in Berlin ein Lustspiel. Das Eintrittsgeld lohnte sich. Ich habe wieder einmal Dusel gehabt.

Übrigens auch mit dem Billet für die Norwegenreise. Ihr braucht nicht zu depeschieren, meine Freunde. Während ich hier schrieb, hat mich schon einer angeklingelt.

"Gemacht!" sagt er.

So sagt man immer in Berlin. Wie das so flink kam ? Je nun, die Engländer (wer englisch kann, wird den phonetischen Witz verstehen), also die Engländer sagen, es gäbe drei Mittel, eine Nachricht schnell zu verbreiten: telegraph, telephon, tell a woman. Das letzte ist das sicherste: "Sag's einer Frau!" Heute vormittag habe ich einer Dame von meinem Gewinn erzählt. Seither rasselt fortgesetzt mein Fernsprecher. Ich muß überall absagen. Die Sache sei schon von einem Frühaufsteher "gemacht".
11. Juni 1925 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts