"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 31 - 33
16. bis 30. April 1925


31

Die letzte Venus - Lauter Garçonnes - Die rasierte Dame - Strauß' "Intermezzo" - Kein Herold, nur Spielmann - Der Emigrant - Steuerfreiheit für Ententehunde

Seine Göttin, die angebetete, sein Modell, das vieltausendfach konterfeite, ist Lutz Ehrenbergers Frau, die schöne Italienerin; nur daß er, der urgermanische stämmige Steiermärker, ihr meist eine blonde Perücke andichtet, wenn er sie in hundert Gestalten durch die Lustigen Blätter oder durch von ihm illustrierte Bücher schweben läßt. Als die Krone der Schöpfung; als - in Gutem oder Bösem - das Weib schlechthin. Wohl ihm, daß er es hat. Andere müssen es suchen und finden es nicht mehr. In einem Theater des Westens brauchte man neulich bei der Neuinszenierung eines Stückes, in dessen erstem Akt "antike Plastiken" als lebendes Bild auf der Bühne stehen, ein paar Figurantinnen von klassischem Wuchs. Fast scheiterte die Aufführung daran, daß sie nicht aufzutreiben waren. Die wenigen Überlebenden dieses Genres haben ihr Jahres-Engagement für Revuen und Variétés. Alles andere ist Garçonne. Was jahrelang als schwer erreichbares Ideal für die mondäne Frauenwelt galt, ist zwar heute noch nicht erreicht, das vollkommen Jungenhafte, weil "der kleine Unterschied" eben nicht zu erjagen ist, aber dafür ist das Andere um so gründlicher verpfuscht. Nach einer Venus von Milo kann man wirklich mit dem Scheinwerfer suchen. Vor einem Menschenalter wurde sie durch das Korsett entstellt, heute wird sie durch andere Mittel glattgehobelt und dann gaminmäßig konfektioniert.

Auf dem letzten Gesellschaftsabend dieser Saison, in den schönen Räumen des Aero-Klubs, in die die Wissenschaftliche Gesellschaft für Luftfahrt eingeladen hatte, wollte ich neulich eine alte Bekanntschaft erneuern. An einem Ecktisch im großen Saal saß nämlich Major v.Tschudi. Aber ich prallte zurück, denn zwei Stühle weiter saß eine Garçonne, wie ich sie bisher nur in exzentrischen Blättern gesehen hatte: mit - ausrasierten Schläfen! Ein weißgetünchtes Gesicht, blaue Schläfen, angestriegeltes rotes Haar - vollkommen die Entente-Kokarde, wie wir sie so oft im Kriege auf den feindlichen Flugzeugen erblickt haben. Da wendet sich der Gast mit Grausen.

Ich glaube, daß man sogar in Paris über diese Verirrung der Mode bereits hinaus ist. Ich weiß es nicht bestimmt. Es ist so lange her, daß man nicht mehr drüben gewesen ist; und man sagt sich doch heute in tiefer Verbitterung wieder: "Nach Paris gehe ich nur mit dem Helm auf dem Kopf." Aber man weiß doch aus Erfahrung, daß unsere Verwelschten von der Rue de Tauentzien immer ein halbes Jahr später atemlos hinter Poiret dreinwatscheln. Natürlich hat es gelegentlich hier und da entzückende Garçonnes gegeben, aber das waren dann Frauen von einer pastellartigen Jungenhaftigkeit, keine eckigen Mannweiber mit vorgetäuschter Härte, auch keine ausdruckslosen Puppen mit gestrichenem Geschlecht. Das ganze Geheimnis ist doch auch hier das durchschimmernde Versteckspiel: einem Mädchen steht nur dann die Garçonne gut, wenn man sagen kann, es sei köstlich als Page verkleidet; und wenn hier und da Knospendes und Schwellendes sich verrät. Das ist dann ein Reiz mehr. Daher auch das Drängen junger und hübscher Schauspielerinnen nach Fidelio-Rollen. Ist aber die Täuschung in Kleidung, Haltung, Aussehen, Gehaben so vollkommen, daß man nur noch den Schnurrbart und den Bariton vermißt, so ist jeder Reiz dahin. In Berliner großen Premièren trifft man zuweilen im Foyer neben extravagant Weiblichem so ausgesucht Vermännlichtes, weil die Leutchen nicht mehr wissen, wodurch sie sonst etwa noch Aufsehen erregen könnten. Das Auffallen-Wollen allein verrät sie als Weiber. Auch unter wirklichen Männern gibt es natürlich solche Exemplare. Trotz seines Kranzbartes gibt es unter unserem Premièrenpublikum kaum eine so auffallend weibische Erscheinung als die des Kritikers Kerr vom Hause Mosse.

Als neulich das "Intermezzo" von Richard Strauß - für Berlin neu - zur Erstaufführung im Opernahuse kam, konnte man diese ganze ausgefallene Gesellschaft wieder zu Hauf beieinander sehen. Es ist ja längst nicht mehr die Berliner Gesellschaft; sondern es sind diejenigen, die es sich noch leisten können, Gesellschaft zu markieren. Richard Strauß hat für sie nie viel übrig gehabt. Mit den künstlerisch-höfischen Sachwaltern der wirklichen Gesellschaft, die es vor zwanzig Jahren noch gab, geriet er aber erst recht häufig in Differenzen. In Dresden und Wien einigte man sich schneller; dort gab es seine Uraufführungen. Nicht etwa, daß man in Berlin nicht stolz auf "seinen" Richard Strauß gewesen wäre, nicht erkannt hätte, daß er der universalste Musiker des beginnenden Jahrhunderts sei, Aber er ist den Leuten, für die auch die Musik eine wuchtige Haupt- und Staatsaktion ist, zu tändelnd, zu glückhaft spielerisch gewesen, zu unheroisch. Auch in der Kunst ruft der norddeutsche Kolonist, dem nie ein Phäaken-Zeitalter winkte, nach dem Führer und Erlöser, nicht nach dem Spielmann. Wer den Ring des Nibelungen inszeniert, der schüttelt sich, wenn tags darauf "Schlagobers", das Wiener Pralinen- und Schlagsahne-Ballett Straußens, auf die Bühne soll. Seine Lieder, ja; seine Sinfonien, ja; das ist Ergreifendes und Hinreißendes, - auch für die Koketterie allenfalls des "Rosenkavaliers" hat man noch Sinn, weil ihr Rokoko historische Erinnerungen weckt, und die ungeheure Talentprobe der "Salome" mit der musikalischen Unzucht des Juden-Quintetts und der Einfühlung in Wildesche Perversität erweckt gespanntestes Interesse, aber was bleibt, ist schließlich immer nur die Anerkennung der Virtuosität. Natürlich könnte dieser fabelhafte Mensch auch die Logarithmentafel oder Hammurabis Gesetze oder einen Maibock mit Weißwürscht komponieren. Im "Intermezzo" komponiert er - eine Skatpartie. Natürlich schmunzelt man. Natürlich lacht auch dem studierten Musiker das Herz im Leibe, wenn er, mit der Partitur auf den Knieen, diese Fülle neckischer Einfälle und diese absolute Herrscherschaft im Reiche der Töne verfolgt; aber wir leben nun mal in den Nachjahren des Weltkrieges, in einer Zeit, die Ungeheures an Größe und an Leid gebar, und da darf Richard Strauß es uns nicht übel nehmen, wenn uns deucht: von ihm, dem Allmächtigen, hatten wir in dieser Zeit Mächtigeres erwartet. Brauchte ihm im Jahre 1923, dem Jahr des Ruhreinbruchs, wirklich nur "Schlagobers" einzufallen ? Es ist die gleiche leise Wehmut, die uns 1913 ergriff, als Gerhart Hauptmann sein blutloses Jahrhundertgedicht - wir gedachten der Befreiung von Napoleon - schrieb. Wir kämpfen im brennenden und stürzenden Troja. Unsere Großen aber leben auf der Insel der Phäaken. Nun, bitte, ein paar Textproben aus dieser Oper:

Der Justizrat:

 

Wer spielt aus ?

Stroh:

 

Ich! Bei Grand die Asse auf den Tisch.

Der Justizrat:

 

Er soll die Frau riesig gern haben -

Der Kammersänger:

 

Schneider! Neunundzwanzig haben Sie! Sechzig Gute für mich!

Der Kommerzienrat:

 

Achtzehn! Achtzehn, Herr Kammersänger!

Der Kammersänger:

 

Einen Moment, ich bin noch nicht auf dem Kontor, halte ich -

Der Kommerzienrat:

 

Vierundzwanzig!

Der Justizrat:

 

Für Sie, mein Herr!

Stroh:

 

Neunundfünfzig. Haben Sie denn keinen König mehr zum Reinschmeißen ?

Also Stabreime sind das jedenfalls nicht, aber philiströs echt ist die Geschichte, und das ganze Intermezzo überhaupt "dem Leben augelauscht", wie nur etwas abgelauscht sein kann. Sieht man von der Enttäuschung ab, so kann man wieder nur sagen, der musikalisch leise untermalte Sprechgesang, fast schon reiner Schauspieldialog, ist wieder etwas so verblüffend Neues, daß man hier bekennen muß: so etwas macht dem Staruß keiner vor. Und dann: das ganze Stückchen, ein Ausschnitt aus Straußens eigener Ehe-Tragikomödie, im Mittelpunkt seine Frau, dieses zum Prügeln und Küssen entzückende mollig-kapriziöse Biest von einer Frau, mit Humor und Güte gesehen, ist auch ohne Musik ein Lustspiel für sich. So was fürs Herz. Für Liebhabertheater. Man kriegt ordentlich Lust, bei Straußens in Garmisch aus- und eingegangen zu sein. Damals, als er und seine Frau noch so jung waren und sich noch kabbelten. Es sind noch heute die liebsten Menschen auf zehn Meilen im Umkreis. Aber sie müssen es auch uns nachfühlen, wie uns zumute ist, die wir mitten in ungeheurem Weltgeschehen Umschau halten, ob nicht ein Herold uns ersteht. Wir sehen nur einen Spielmann. Wenn auch den wundersamsten und begnadetsten aller Zeiten.

Aber vielleicht hat er Recht ? Vielleicht ist das Heroische schon vorbei ? Vielleicht tönt nach "Brot und Spielen" nur noch der Ruf ?

Manches deutet darauf hin. Auch die Garçonne-Mode, von der ich sprach, hat damit zu tun. Sie bedeutet doch (aller Dinge Urheber, auch der schlechten, ist der Mann), daß die Frau auf das "Rührende" in ihrer Erscheinung verzichtet, weil der Held fehlt, der es dann schützen will. "Gebt dem Manne wenigstens die Illusion, daß er der Starke ist!" möchte man rufen. Aber der Ruf verhallt. Stark wollen heute die Frauen sein. Und den Mann - wünschen sie interessant. Es ist nahezu die verkehrte Welt. Daher steigt aber auch in diesem Nachkriegs-Berlin der exotisch angehauchte Mann so sehr in der öffentlichen Wertschätzung. Kein wirklich mondäner Nachmittagstee mehr, auf dem nicht irgendein "Flüchtling" herumgereicht wird, vom baltischen Oberförster bis zum ägyptischen Verschwörer. Es sind gutgekleidete Leute, diese Emigranten im Cutaway oder der Tanzjacke, nicht die wirklich armen Vertriebenen; sie säen nicht, sie ernten nicht, und irgend jemand nährt und kleidet sie doch - und sie finden immer "was fürs Herz" unter den Damen der Reichshauptstadt, die sie einander weitergeben.

"Wie int'ressant:
Ein Emigrant!
Ein bißchen arrogant,
Gelegentlich mokant,
Doch sonst recht tolerant,
Im Ganzen amüsant,
Wie int'ressant:
Ein Emigrant!"

Sie haben alle etwas Gemeinsames. Sie haben nämlich alle "ihre Güter verloren". Entweder Lenin oder Juri Jaakson oder Horty oder Kemal Pascha oder sonstwer hat sie ihnen angeblich oder wirklich konfisziert. Früher kannte man diese Spezies nur in der Schweiz. Allenfalls auch in London gab es außer Peter Krapotkin noch ein Paar von der Sorte. Sie mußten sich ruhig verhalten und konnten im übrigen nach ihrem Gusto leben, wilde Broschüren schreiben, schimpfen oder nächtelang debattieren; man kümmerte sich nicht um sie. In Berlin werden sie aber verhätschelt. Da sind sie At-Home-Bereicherung. Ihnen zu Ehren veranstaltet selbst der Rundfunk russische Abende, von deren Texten kein normaler Berliner ein Wort versteht; nächstens wohl auch turkestanische oder siamesische Abende. Es befinden sich darunter sogar - mein Gott, wie interessant! - zum Tode Verurteilte. Nämlich Fahnenflüchtige oder Landesverräter aus Ententegebiet.

Es scheint aber nicht, daß sie alle Brücken zu dem "Früher" abgebrochen haben. Mitunter sieht man sie auch in der Gesellschaft von Landsleuten, die offiziell honett geblieben sind. Da wird denn gemeinsam geschimpft. Ich traute meinen Ohren kaum, als ich solch eine Gruppe sagen hörte: "Derr Lumpe! Derr Brigante! Derr Rauber!" Wer denn, wer denn, was denn ? Ja, ihr eigener Botschafter; der Hund sollte ihnen doch zollfrei guten Wein besorgen und habe es noch immer nicht getan. Da spitzt die Tauentzien-Gesellschaft die Ohren: ja, richtig, die schönen zollfreien Sachen. Noch immer kommt auf dem Wege über die Schnüffelkommission ungeheuer viel nach Deutschland herein. Und auch sonst ist Deutschland fabelhaft generös. Ein belgischer Überwachungsoffizier hat sich in Berlin eine ganze Zucht deutscher Schäferhunde angelegt und macht damit Geschäfte. Jeder Hund hat die vorschriftsmäßige Steuermarke. Aber die Steuermarken muß Deutschland umsonst liefern.

Im vorigen Herbst dachten die jüngeren Herren und Damen der Kommission betrübt an das Packen. Dem Personal war kurzfristig gekündigt. Jetzt haben sie sich alle wieder behaglich installiert. Der Chef hat gesagt: "Mesdames et messieurs, bis 1930 ist Ihr Dasein in Berlin gesichert!"
16. April 1925 (Donnerstag)


32

Wen unsere Waschfrau wählt - Die sieben Pfannkuchen - Wer besser schießt - "Kannst du noch brüllen?" - Aug' in Auge mit Hindenburg - Der Helm von Königgrätz - Moltke-Erinnerungen - "Meinem König" - Treue ist das Mark der Ehre

"Denn wähl' ick ihm!", sagt unsere alte Waschfrau.

Das hat sehr lange gedauert, bis sie zu dem Entschluß gekommen ist. Zum ersten Male in ihrem Leben trennt sie sich dadurch von ihrer Familie. Bisher hat immer ihr Sohn, der Chauffeur, das Kreuzchen für sie gemacht. "Der Leopold, ihr Sohn, ihre einzige Passion." Von Kind auf hat sie ihn verwöhnt, für ihn sich jeden Groschen abgedarbt. Nun hat er geheiratet, die Schwiegertochter hat von allem Besitz ergriffen, für die Mutter ist nur ein Plätzchen in der Küche geblieben; und auch da wird sie geschubst und angeknurrt. Manchmal weint die Alte sich bei uns aus; das reine Hundeleben, sagt sie, habe sie jetzt. Ihren Sohn schwärmt sie nur noch von weitem an und hält ihn immer noch für den besten und klügsten Menschen, obwohl er ihr nur das Geld abnimmt und ihr kaum das Butterbrot gönnt. Er wählt Thälmann. Sie aber will nun für Hindenburg stimmen.

Eine gute Stunde lang habe ich ihr erzählen müssen. Dabei durfte ich auch die Wringmaschine drehen. Ich habe an beiden Händen Schwielen, aber dafür auch die Genugtuung, die alte Frau überzeugt zu haben. Und wodurch ? Zuerst redete ich sichtlich an ihr vorbei. Schließlich kamen wir auf das Alltagsleben des Generalfeldmarschalls zu sprechen. Wie er in aller Herrgottsfrühe, ehe Hannover erwacht, schon mit mächtigen weit ausholenden Schritten durch den Wald, die Eilenriede, marschiert, dann in angespannter Arbeit am Schreibtisch sitzt. Was er sonst noch tut und läßt. Und dabei erzähle ich auch, schier achtlos, von einem Besuch, den er neulich nachmittags bei einer bekannten Familie gemacht hat; wie er da bei Kaffee und Zigarre saß und schließlich, ohne es zu merken, zum Kaffee sieben Berliner Pfannkuchen verzehrt hatte. Da fingen unserer alten Waschfrau die Augen zu leuchten an. Und während sie bisher höchstens etwas von dem "juten alten Herrn" gemurmelt hatte, platzte sie jetzt aus:

"Siem ausjewachsene Bealina Pfannkuchen ? Denn is a ja jar keen so'n ollen Knackstiebel!"

Damit war die Schlacht gewonnen. "Denn wähl' ick ihm!" Unsere ganze Straße spricht heute nur noch von den sieben Pfannkuchen. Nun ist man von Hindenburgs Leistungsfähigkeit überzeugt. "Denn wähl' ick ihm!", sagt auch der alte Portier von drüben. Die Volkstümlichkeit ist endlich da.

Soll man über so etwas lachen oder weinen ? ich habe in Wahlzeiten schon die merkwürdigsten Dinge erlebt. Im Jahre 1898 traf ich einmal auf einer Radpartie im Siegerland einen alten Bergmann, der sich durch eine Art Gottesgericht geholfen hatte. Er hatte in ein Bohrloch als Pfropfen alle Wahlaufrufe für den Nationalliberalen Kreutz, in ein anderes alle Wahlaufrufe für den Christlich sozialen Stöcker gestopft und gesagt: "Wer besser schießt, den wähle ich!" Und dann ging die Sprengung los, und "Stöcker" schoß besser. Heute bringen die sieben Pfannkuchen sicherlich mindestens sieben Stimmen für Hindenburg ein. Umgekehrt wählt mancher Arbeiter Herrn Marx, weil er eben - Marx heißt. Es ist doch ein tolles Ding um unsere politische Reife. Man muß eigentlich gleichzeitig darüber lachen und weinen. Und dabei weiß man noch nicht einmal, wieviele Deutsche im letzten Augenblick auf irgendeine faustdicke Agitationslüge hereinfallen, die auf die Dümmsten der Dummen berechnet ist.

Aber denjenigen, die alles prüfen und das Beste behalten, denjenigen, die mit offenen Sinnen und hellen Augen sich selber die Mosaiksteinchen zusammensuchen, aus denen ein wahres Bild ersteht, will ich einige solche Steinchen herzutragen. Ein paar Beobachtungen und Erlebnisse aus dem Hannover dieser Tage.

Zu Bergen häufen sich dort die Briefe und Telegramme. Freund und Feind stürzen sich in unnütze Portokosten. Rund ein Drittel der vielen Tausende von Zuschriften sprechen über die Aufwertung. Ein stattlicher Haufen enthält - Anstellungsgesuche. Selbstverständlich melden sich auch die Erfinder des Perpetuum mobile bei dem künftigen Reichspräsidenten. Die rührendsten Briefe kommen von alten Kriegssoldaten, die vielfach ihre Photographie beilegen. Eine arme Witwe schickt 5 Mark zu den Wahlunkosten. Einer gibt "Seine Eminenz Hochwohlgeboren den Grafen Hindenburg" gute Ratschläge für seine Regierungstätigkeit. Auch Gegner kommen sehr zahlreich zu Wort und werden vom Feldmarschall mit gutem Humor aufgenommen.

Da schreibt einer:

"Wir brauchen keine Helden a.D., keine erledigten verkalkten Herren, die ohne Stock kaum noch gehen können. Wir brauchen Löwen, die noch brüllen können!! Kannst du noch brüllen ? Alter Papa . . ."

Und lachend wendet Hindenburg sich um: "Feldmann, depeschieren Sie: ich kann noch!"

Ja, das kann er. Er könnte noch auf dem Tempelhofer Felde eine Parade so kommandieren, daß man ihn in den letzten Reihen verstände. Er hat ein so kräftiges Organ wie ein junger Oberst. Diese ruhige Kraft ist so imponierend, daß auch die Ausländer in Hannover während Hindenburgs Rede einfach hingerissen waren. Der Vertreter des "Cri de Paris" schrie wie besessen Bravo. Andere Ausländer hielten an sich, aber schneuzten sich heftig, um ihre Rührung zu verbergen. Die glauben keinen Wahllügen mehr. Sie wissen, daß kein "hilfloser Greis" vor ihnen gesprochen hat. Sie wissen auch, bis zu dem Tschechoslowaken und dem Japaner, daß Hindenburg nicht etwa Sprachrohr irgendeiner Kamarilla ist, sondern das sagt, was er, er selber, sagen will. Ich habe das Manuskript seiner Rede gesehen. Selten habe ich so etwas durch und durch und um und um Korrigiertes gesehen; nein, dieser Mann braucht keinen Souffleur.

Unter den Telegrammen besonders viele von Auslandsdeutschen. "Im Namen aller wahrhaft Deutschen Amerikas" begrüßen die Mitglieder der teutonic Americans in Chicago den Entschluß Hindenburgs, für die Reichspräsidentschaft zu kandidieren. Aus Osorno, aus Valparaiso, aus Konstantinopel, von überallher kommen ähnliche Zurufe.

Stundenlang habe ich Blatt um Blatt umgeschlagen, stolz darauf, auch zu dieser Millionengemeinde zu gehören, die den größten lebenden Deutschen zum Führer will. Aber dann ist das herrlichste doch die Stunde gewesen, in der ich allein dem Feldmarschall in seinem Arbeitszimmer gegenübersaß.

Zum letzten Male sah ich ihn im Felde, als er mit dem Kaiser und mit Ludendorff an unsere Front gekommen war. Jeder Truppenteil hatte dazu ein paar Offiziere und ein paar Mann abkommandiert. Ich war darunter. Nun stand Hindenburg vor uns, der massige Riese, diese Vorwelterscheinung. Ich hatte, ich gestehe es offen, zunächst nur das Gefühl: "Wenn der dir auf die Füße tritt, dann bist du hin!" Jetzt ist er etwas schlanker geworden, menschlicher; fast möchte ich sagen: eleganter. Und ich muß es bekennen, denn es ist wahr: er hat etwas jugendlich Spannkräftiges, etwas unzerstörbar Gelenkiges an sich. Der kriegt es noch fertig, vor einer alten Dame in der Straßenbahn von seinem Platze aufzuspringen. Buchstäblich aufzuspringen. Alles an ihm atmet Kraft, Selbstbewußtsein, Ritterlichkeit, Güte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er je nervös werden könnte; und es stimmt ganz zu seinem Bilde, daß er den Herren vom Ausschuß, die ihn fragen, ob sie ihm am Sonntagabend Teilergebnisse der Abstimmung melden sollen, erwidert, sie möchten das ruhig bis auf den Montagvormittag verschieben.

Hindenburg hat nicht ein so faltenzersägtes Gesicht, wie Haeseler es hatte, sondern volle Wangen; das Haar, das dicht wie Jungwald steht, ist weiß, der Schnurrbart aber noch dunkelgrau. Man kann es kaum glauben, daß dieser Mann - schon 1866 für König und Vaterland als Offizier geblutet hat. Aber da steht ja an der Wand unter einem Glassturz sein Helm von damals, an der linken Schläfe aufgerissen von einer Kartätschenkugel. Es war bei Königgrätz.

"Nicht arg, ich konnte mich noch selbst mit dem Taschentuch verbinden. Die Nervenschmerzen waren freilich schlimm. Ich habe 1866 den Helm nicht mehr tragen könen, mußte in Mütze weiter fechten. Aber es ist dann wieder gut geworden; es verwächst sich alles."

Rundum dann die anderen Erinnerungen, an 1870/71, an 1914/18; die drei Fahnenspitzen des 3. Garde-Regiments zu Fuß; der eiserne Alte Fritz; ein Moltke von Lenbach; allerlei Familiengeschichtliches und verschiedene Widmungen und Geschenke. Unter diesen eingerahmt eine alte Handschrift von Josef Viktor v.Scheffel:

"Bedachtsam erst erwägen,
Sich ohne Zweck nicht regen,
Doch dann mit starken Schlägen
Den Feind zu Boden legen,
Das freut die alten Degen!"

Vor dem Moltkebilde kommen wir ins Plaudern. Schmunzelnd erzählt Hindenburg, wie er da einst als junger Hauptmann mit seinem Kameraden Perthes gewettet habe, Moltke werde in der "Großen Bude", im Generalstab, das Hoch an Kaisers Geburtstag in weniger als 11 Worten ausbringen. Und er habe die Wette gewonnen, denn Moltke erhob sein Glas nur mit den Worten: "Meine Herren, der Kaiser hurra, hurra, hurra!" Aber ausgesprochen wortkarg sei der große Schweiger nicht immer gewesen. Nun tauschen wir Erinnerungen aus, - die eine, die ich vorbringe, ist Hindenburg neu, und er, der ein gutes Kraut auch zu schätzen weiß, lacht darüber von Herzen. Nämlich in einer Gesellschaft wurde von der Intelligenz der Tiere gesprochen, man ereiferte sich, und schließlich wandte sich einer an Moltke mit der Frage, ob er überhaupt einen wesentlichen Unterschied, nicht nur einen Unterschied des Grades, zwischen Tier und Mensch anführen könnte; und da sagte Moltke gelassen nur die vier Worte:

"Das Tier raucht nicht!"

Hindenburg hat Verständnis für Humor und besitzt selber in seiner Urgesundheit eine gute Dosis davon. Bei vielen berühmten und umjubelten Menschen geht der Humor verloren, weil sie schließlich an ihre eigene Gottähnlichkeit glauben und in Weihrauchwolken verschwinden. Anders Hindenburg. Er freut sich - um des Vaterlandes willen - über jede ihm dargebrachte Huldigung, wird aber nichts weniger als eitel. Ich sah ihn die zwei Stunden an dem Sonntag des Vorbeimarsches der Zehntausende wie ein Monument vor seinem Hause stehen; aber nachher freute er sich wie ein Kind, daß ihm das alte Verschen einfiel:

"An schönen Sommertagen,
Wenn lau die Lüfte wehen,
Sieht man die Leute rennen und jagen,
Um das Rhinozeros zu sehen!"

und er fügte noch einiges hinzu, was von seiner herzlichen inneren Dankbarkeit zeugte, aber auch von seiner völligen Unberührbarkeit durch jegliche Ehrung der Person. Vor Menschen ein Adler, vor Gott ein Wurm, wie der alte Ernst Moritz Arndt gesagt hat; so ist Hindenburg. Und in seine tiefe stille Demut vor Gott dem Herrn mischt sich nur ein Jauchzen: wenn König und Vaterland, wenn Preußen und Deutschland genannt werden. In seiner Osterbotschaft hat Hindenburg bekannt, daß er an eine Wiederherstellung der Monarchie nicht denke, aber auch seine monarchische Überzeugung nie verleugnen werde. Wie wenig er das tut, dafür erlebe ich hier den schönsten Beweis - und das ist der überhaupt erhebendste, erschütterndste Augenblick des ganzen Beisammenseins, ein Augenblick, den ich Kind und Kindeskind bis an mein Lebensende zu schlidern nie vergessen werde, gerade weil das alles so schlicht und so natürlich und so gänzlich frei von jeglicher Pose war. Hinten neben dem Sofa steht die Marmorbüste Wilhelms II. von Bezner, ein Geschenk des Kaisers an den Feldmarschall zu dessen 70. Geburtstag. An dem Sockel hängt ein silberner Lorbeerkranz, den Hindenburg - ich glaube - von der Provinz Ostpreußen bekommen hat. Er zeigt darauf hin und sagt, ganz beiläufig, ohne jede Betonung, wie selbstverständlich:

"Den Kranz habe ich natürlich meinem König zu Füßen gelegt!"

Ixh weiß, ich weiß: nun werden die Leisetreter und die Bangbüchsen angelaufen kommen und sagen, das hätte ich unter keinen Umständen veröffentlichen dürfen. Das werde Hindenburg - schaden. Ich aber sage Euch: es gibt nichts, was man von und über Hindenburg nicht veröffentlichen dürfte, denn nichts in ihm ist ein Widerspruch. "Mein Leben liegt klar vor aller Welt", schreibt er in seiner Osterbotschaft. Sein Leben ist Treue. Und wenn diese Treue auch in einer ganz beiläufigen Äußerung so in die Erscheinung tritt, dem vielgeschmähten Verbannten in Doorn gegenüber, den jedermann heute für Freiwild hält, so ist das für mich ein so überwältigendes Zeichen ragender deutscher Größe, daß ich nur ganz still werden und innerlich hoffen kann: an dieser Treue Hindenburgs werden wir gesunden. "Treue ist das Mark der Ehre", hat er einmal gesagt; und wir wollen wieder Männer von Ehre werden.
23. April 1925 (Donnerstag)


33

Der Trance-Maler Mansfeld - Soll ich nach meinem Tode geistern? - Pariser Mannequins bei uns - Eva und der liebe Gott - Mein nächtlicher Marsch mit dem Reichsbanner - Haste Worte?

Je aufgeklärter wir uns dünken, desto abergläubischer werden wir. In der Lichtstadt Berlin glaubt jeder zweite Mensch an Mitteilungen von Geistern. Leider sind diese Geister meist ohne Geist, dazu technisch höchst unmodern; in der Zeit der drahtlosen Telephonie, für die ihnen der gesamte Äther zur Verfügung steht, in der Zeit des Fernschreibers und Fernsehers kaprizieren sie sich noch immer auf die Klopftöne von Tischbeinen, und auch da benutzen sie nicht einmal das Morse-Alphabet, sondern müssen, wenn sie beispielsweise "z" angeben, für diesen Buchstaben 25mal das Bein heben. Und wenn sie ihre Seele manifestieren, ist es kein überirdisches Leuchten, sondern geknautschter weißer Mull.

Nach dem letzten großen Hereinfall mit der ungarischen Sache, die der oberste Geistergläubige Schrenck-Notzing erlebt hat, sollte man doch wohl annehmen, daß kaum ein Zurechnungsfähiger noch Vertrauen zu irgendwelchen Medien haben könnte. Aber da braucht man bloß nach Berlin zu kommen und es sich einmal anzusehen, wie unsere großstädtische sogenannte Intelligenz zusammenläuft, wenn ihr angebliche Geisterarbeit geboten wird; dann ist man erschüttert genug.

In der stillen Achenbachstraße im Berliner Westen existiert ein Kunsthändler, dessen Ausstellungsräume aus zwei bescheidenen Zimmern bestehen. Die Konkurrenz ist groß, das Geschäft ist flau. Helfe, was helfen mag! Hier tun es - die Geister verstorbener Maler. Sie manifestieren sich durch die Hand eines Herrn Mansfeld, der im Haag in Holland lebt, 50 Jahre alt ist und als Dekorationsmaler und - Heilmagnetiseur schlecht und recht sein Brot erwirbt. Man muß schon Dekorationsmaler sagen. Der Impresario sagt freilich: Anstreicher. Je mehr man das eigene Kunstvermögen dieses Mannes herabsetzt, desto "erstaunlicher" sind natürlich die angeblich von Geistern durch ihn vollbrachten Leistungen. Es ist die alte Geschichte. Wenn ein tüchtiger Arzt heute von seiner Praxis nicht mehr leben kann, braucht er bloß den "Dr. med." auf dem Schildchen fortzulassen und sich als Kurpfuscher zu betätigen; dann hat er in der Lichtstadt Berlin in wenigen Jahren eine Grunewald-Villa. Die Masse muß es bringen, der Zulauf. Auch der "Anstreicher" Mansfeld - ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich in diesem Familiennamen einen ursprünglichen Ortsnamen sehe, wie in Löwenstein oder Wertheim - also der "Anstreicher" Mansfeld ist verhältnismäßig billig, läßt durch die Kunsthandlung seine Bilder schon für 100 oder 200 Mark verkaufen, und arbeitet schnell: in etwa 40 Minuten ist solch ein im "Trance-Zustand" angefertigtes Gemälde durchschnittlich fertig. Es befinden sich Sachen darunter, die nicht übel sind, leuchtend dekorative und, das ist für den Plafondmaler bezeichnend, besonders einer gewissen Symmetrie nicht entbehrende Pastellmalereien, die symbolische Themen anschlagen. Das Kruzifix wiederholt sich da häufig. Am eindrucksvollsten eines, das mitten in einem Rauchwald großer Fabrikschlote sich erhebt. Allerlei Holländisch-Landschaftliches kommt hinzu, auch Stilleben, am wenigsten Porträt; das liegt Herrn Mansfeld oder seinen Geistern nicht, da sieht man nur hingewischte Andeutungen. Aber ganz Berlin starrt diese "Offenbarungen" an, läßt sich gläubig erklären, daß insgesamt 120 tote Maler, darunter am lebhaftesten der Holländer Maris, von Mansfeld als ihrem Werkzeug, um nach ihrem Tode der Welt noch etwas geben zu können, Besitz ergriffen haben; daß ein "Kontrollgeist", der sich Lotos nennt, in das Gebalge der 120 Ordnung zu bringen versucht; und daß unser braver Anstreicher gelegentlich sogar damit bemüht wird, dem Geist irgendeines Verstorbenen, der in dichtem Waldnebel sich verlaufen hat, den richtigen Weg aus dem Dickicht zu zeigen! Fabelhaft, was ? Und dann hört man, daß Mansfeld stets nur zu "sieben Achteln", bitte, sieben Achteln, in Trance kommt, das verbleibende Achtel aber dazu benutzt wird, sich rechtzeitig und höchstpersönlich aus diesem Zustand wieder zu befreien.

Wenn doch die blöde Masse nur begriffe, was sie unseren Toten damit antut!

Für meine Person möchte ich es mir jedenfalls energisch verbitten, daß ich im jenseitigen Leben noch von späteren Geschlechtern belästigt werde. Eine Seligkeit ist für mich undenkbar, wenn jeder Fatzke mich zitieren kann; oder überhaupt, wenn ich dann noch imstande bin, in alle die Dummheiten hineinzusehen, die unten auf der Erde verbrochen werden, ohne daß ich sie verhindern kann. Sollen heimgegangene Mütter droben sich noch täglich um ein Kind hier unten abängstigen ? Wären sie dann überhaupt im ewigen Frieden ? Also entweder glaubt man an seiner Seelen Seligkeit, dann ist das irdische Leben nur ein Vorhof gewesen, und das Tor klappt zu, wenn wir in das herrliche Allerheiligste eintreten. Oder man glaubt an die weitere Herumtreiberei der Abgeschiedenen bei uns; dann gibt es keine Seligkeit, sondern nur eine ewige Hölle.

Ernst bei Seite: was soll ich so um 1980 herum hier noch tun ? Ist das noch ein Vergnügen, wenn ich ohne Fleisch und Blut erscheine ? Also ich schwebe zur Tauentzienstraße und folge einer entzückenden Kleinen, ungesehen natürlich als Geist, in eine Konditorei auf der Bonbonseite. Nun nähere ich meine kühle Geisternase dem Duft des Blondhaares und spitze die nicht existierenden Lippen. "Hatschi!" macht die Kleine und schimpft auf das Grippewetter. Oder soll ich irgendeinem Studienassessor von 1980 ein Berliner Allerlei in die Feder diktieren ? Kinder, laßt mir meine Ruhe! Ich habe genug davon, wenn ich meinen Zeitgenossen gedient habe - und wenn irgendein gutes Wort, das mir gelang, seine Wirkung auf sie gehabt hat. Man muß doch auch den kommenden Geschlechtern ihre eigenen Erfolge gönnen. Oder sollen Millionen von Geistern, bis zu der Zeit des Neanderthal-Menschen hinauf, uns immerdar ins Handwerk pfuschen ? Ich wollte selbst einem Goethe nicht raten, mir die Feder zu führen. Sein "Faust" und seine Gedichte sind nun einmal schon da; übertreffen kann er sich nicht mehr. Wenn er mir aber so etwas wie seinen Wilhelm Meister diktierte, würde man es heute doch für etwas umständlich, wenn nicht gar langweilig erklären. Dem Fürsten Bismarck ist es im Olymp sicher wohler, als wenn er gezwungen wäre, im jetzigen Auswärtigen Amt herumzugeistern. Und wenn man Lenbachs Geist in eine Kokoschka-Ausstellung brächte, so machte er sofort einen Hechtsprung hinaus durchs Fenster.

Fürs erste bin ich recht zufrieden damit, noch nicht als Geist, sondern leibhaftig in Berlin zu flanieren. Natürlich hat auch das seine Unannehmlichkeiten. Man stolpert hier neuerdings über so viele Franzosen beider Geschlechter, die an der guten deutschen Helfferich-Mark sich gesund machen wollen. Seit gestern treten sechs Pariser Mannequins, Mädelchen von ganz unwahrscheinlicher Schlankheit, in einem hiesigen Hotel mit ihrem Chef auf, um den Berliner Damen Pariser "Modelle" vorzuführen. Es quillt nur so von Zuschauern. Natürlich sind es fast ausschließlich Damen. Manch eine aber bringt sicherheitshalber gleich ihren Mann oder ihren Galan mit, damit er sich davon überzeuge, daß eine Dame von Welt ein Pariser Kostüm einfach haben "muß". Was, er zweifelt noch ? Wahrhaftig, er zweifelt. Ich auch. Ich finde nach liebevoller Versenkung in Hunderte von Berliner Schaufenstern und nach Besuch in Berliner Ateliers selbst, daß wir ebenso schick und erfinderisch sind wie die Pariser; nur das läßt sich freilich nicht leugnen, daß jede Kursänderung im - Material zuerst in Paris vorgenommen wird. Diejenigen unserer Damen, die es ihrer Stellung in der Gesellschaft schuldig zu sein glauben, in Modedingen Tete zu sein, werden es sich also nicht nehmen lassen, nach wie vor mit Pariser Hilfe als Erste in Berlin oder Hamburg oder Chemnitz oser sonstwo mit dem karrierten Stoff oder der Rosenholzfarbe oder der wiederum schweren Seide aufzutauchen.

Es lohnt nicht, Leitartikel dagegen zu schreiben. Mit Vernunftgründen kommt man keiner Dame hier bei. Das gehört zum Gebiet der Gefühlsdinge. Da sind die weiblichen Wesen uns über; und schließlich müssen sie es doch am besten wissen, womit sie uns betören.

Auf Diskussionen mit dem schönen Geschlecht hat schon der liebe Gott sich nicht eingelassen. Man sagt, er habe das Weib zuletzt geschaffen, weil es eben die Krone der Schöpfung sei, aber ich glaube, er hat nur deshalb so lange mit Eva gewartet, um ungestört zu sein. Sonst hätte sie doch immer alles besser gewußt. Zum mindesten hätte sie den lieben Gott alle fünf Minuten mit der Frage unterbrochen: "Liebst du mich ?" Trotzdem bleibt es wahr, daß es dem Manne nicht gut ist, wenn er allein ist, denn das Beste, was er schafft, schafft er doch nur im Hinblick auf den Siegespreis, das stolze und glückliche Lächeln einer Frau. Er ist, wenn er es auch leugnet, applausbedürftig. Der stärkste Biceps nützt nichts, wenn er nicht bewundert wird. Und das schönste Gedicht ist als Leistung wertlos, wenn man es nicht der Liebsten vordeklamieren kann. Dafür nimmt man allerlei Enttäuschungen gern in Kauf; wer sich in einer Frau nie getäuscht hat, der hat sie überhaupt nie kennen gelernt. Nur der liebe Gott kannte sie von vornherein. Und auch die Pariser Mannequins hat er lächelnd geschaffen.

Aber es ist nicht nett, nicht ritterlich von der Berliner Ullstein-Presse, die welschen Dämchen, ohne sie zu warnen, so in ihr Verderben rennen zu lassen. Wäre es nicht Pflicht gewesen, auch ihnen zu sagen, daß es in Deutschland für sie äußerst gefährlich sei ? Wo doch nicht erst die Wahl, sondern schon die bloße Aufstellung Hindenburgs - "den Krieg bedeutete"! Schade, daß die Welt so schnell vergißt; sonst müßte sich doch heute ein homerisches Gelächter über die Gutgläubigkeit jener Berliner erheben, die in den vergangenen Wochen auf jeden Ullstein-Schwindel hereingefallen sind. Berlin hat in diesem Sinne am ängstlichsten unter allen deutschen Wahlkreisen gewählt, hat sich also als die dümmste Stadt des Reiches erwiesen. Das haben wir nicht irgendeiner Lässigkeit der Rechten, sondern ausschließlich der "B.Z. am Mittag" zu verdanken, die dieses Anerkenntnis wohl mit Vergnügen quittieren wird. In bewegten Zeiten kauft sich jeder Berliner dieses Blatt, um, schon ehe die Abendzeitungen erscheinen, zu erfahren, was in der Welt los ist. Und wenn ihm da täglich vorgelogen wird, daß die Amerikaner um Hindenburgs willen jede Geschäftsverbindung mit uns aufgeben oder daß Ludendorff "seine" Villa in München-Ludwigshöhe (er besitzt gar keine) verkaufe, um als Generalstabschef Hindenburgs nach Berlin überzusiedeln, oder daß eine Art Familientag der Hohenzollern nach Hannover einberufen sei, oder daß der Feldmarschall depeschiert habe, er verzichte endgültig auf seine Aufstellung, da er dem Amte sich nicht gewachsen fühle, so haftet dies und jenes schließlich doch.

Auf der anderen Seite half man sich nur mit dem Farbenbekenntnis. Das hat schließlich das Äußerste verhindert. Das Meer von schwarzweißroten Flaggen hat doch noch auf die Masse gewirkt. Mancher Schwankende fand so wieder seinen Halt.

Es war ein richtiger Kampf der Fahnen. Um genug liefern zu können, mußten die Fabriken Nachtschichten einlegen. Selbst in "rein proletarischen Stadtvierteln", so klagt das sozialdemokratische Zentralorgan, hätte Schwarz-Weiß-Rot vorgeherrscht. Bei Minuth in der Beuthstraße drängten sich schlichte Arbeiter und erstanden sich alle ihre Hindenburg-Flagge. Hunderttausende von Arbeitern in ganz Deutschland haben ihren alten Feldmarschall gewählt und dies auch trotzig bekannt, selbst wenn sie sonst stets sozialistisch abgestimmt hatten. Fahnen besaßen die wenigsten mehr. In der Zeit, in der unsere Neugeborenen in Ermangelung von Windeln in Zeitungspapier eingeschlagen wurden, hatte man das letzte Flaggentuch verbraucht: zu weißen Hemden, zu schwarzen und roten Unterröcken. Gegen die stündlich wachsende schwarzweißrote Beflaggung am Tage vor der Wahl kam Schwarz-Rot-Gelb nicht auf. Mit umso größerem Trara zog das "Reichsbanner" umher, und warb mit "Hoch" und "Nieder" bis in die späte Nacht für Marx.

Ich habe mich einer solchen Hundertschaft angeschlossen und bin mitmarschiert. Bei Nacht sind alle Katzen grau. Daß ich kein Abzeichen trug, wurde nicht bemerkt. Zunächst habe ich festgestellt, daß kaum einer dieser Umzügler sich in wahlfähigem Alter befand; das gilt übrigens auch von den anderen Gruppen. Sodann, daß das Reichsbanner in Berlin sich so gut wie ausschließlich aus Sozialdemokraten zusammensetzt, denn jeder Mann in unserem Zuge wurde als "Genosse" angeredet. Zum Reden hatte man freilich nur wenig Zeit, da die offiziellen Responsorien dauernd die Stimmbänder in Schwung setzten. Irgendein Vorsänger stimmte an, der Chorus fiel dann mit dreimaligem Stichwort ein.

"Nieder mit dem schwarzweißroten Lappen!"
Nieder! Nieder! Nieder!
"Jedermann wählt morgen Marx!"
Marx! Marx! Marx
"Hoch die deutsche Republik!"
Hoch! Hoch! Hoch!
"Rache für unseren ermordeten Kameraden!"
Rache! Rache! Rache!

So sind wir bis 1 Uhr nachts durch die Straßen des Westens gezogen und haben derart gebrüllt, daß sicherlich ein paar tausend Leute vor Wut über diesen Radau am Sonntag darauf - Marx nicht gewählt haben. Ich habe fabelhaft mitgebrüllt. Hoch und Nieder, rauf und runter, auch bloß so unartikuliert vor mich hin gebrüllt - und beiläufig auf die Klingelknöpfe gedrückt, daß mir einer der roten Jungamnnen begeistert auf die Schulter hieb und heiser krächzte: "Recht so, Genosse!" Es war erhebend. Am liebsten hätte ich den Leuten am Kurfürstendamm auch noch die Fenster eingeschmissen. Immer feste schwarzrotgelb. Zum Glück darf ich, als Zivilist, das sagen. Wenn ich der Reichswehr angehörte, würde ich bestraft werden, denn ein Erlaß des Ministers Geßler vom ersten April dieses Jahres ordnet ausdrücklich an, daß gelb nicht gelb genannt werden darf, sondern daß die Angehörigen unserer Wehrmacht "schwarzrotgold" sagen müssen. Das begreift unser Muschko natürlich nicht, denn gelb ist doch gelb, aber es gibt ja heutzutage noch vieles Unbegreifliche. Das Unbegreiflichste ist für die vielen vonder Ullstein-Presse Dummgemachten freilich die Wahl Hindenburgs gewesen. Am Morgen nach der Wahl stehe ich vor einem Zeitungsaushang, wo man bereits das endgültige Ergebnis lesen kann. Ein Berliner Ehepaar, Typ Weißbierphilister, steht lange und stumm davor und starrt und starrt, bis die Frau schließlich sagt:

"Un det zwee Monate nach Eberten! Haste Wort ?"
30. April 1925 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

Jahresinhalt

Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts