"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 46 - 47
17. bis 24. Juli 1924


46

Seppel auf Reisen - O diese Bureaukratie! - Das neue Reich - An der Oberspree - Bubikopf und Tituskopf - Berliner Modebilder - Im Zoo.

Wenn du noch einen Seppel hast, ich meine einen kleinen Dachshund, so ist das nicht so einfach, mit ihm aus Berlin zu entfliehen. Du verlangst also im Reisebureau eine Fahrkarte zweiter nach Lübben oder Eberswalde und eine Hundekarte. "Hamse Ausfuhrerlaubnis?", fragt man dich am Schalter. Was, für den Seppel? Ist die Ausfuhr von Hunden verboten? Ja, wenn sie tollwutverdächtig sind. Also du müßtest eine Bescheinigung vom Tierarzt haben. Du gehst nun mit Seppel zum nächsten Kriestierarzt. Der sagt, er sei nicht zuständig. Die Kreisgrenze schließe mit der Häuserreihe gegenüber ab. Nun fängt Seppel an, die Sache erheiternd zu finden und klopft dreimal mit dem Schwanz auf den Fußboden, wie Onkel Oberförster ans Glas, wenn er eine Rede halten will. Da zerrst du ihn aber schon hinaus. Ans andere Ende von Berlin W. zum anderen Doktor. Der hebt dem Seppel das Augenlid, guckt hin, hebt ihm die Oberlippe, guckt hin - und sagt: "Is jut, macht 8 Mark." Mit dem Zeugnis in der Tasche saust du nun zum Reisebureau. Die Bescheinigung müsse polizeilich beglaubigt werden, so genüge das nicht, wird dir gesagt. Im Schweiße deines Angesichts hin zur Polizei, treppauf, treppab, Zimmer 137b, nein, Seitenflügel 280a, jawohl, aber dann 44 übern Hof. Das Leben ist ganz einfach, du hast vorsichtshalber sogar die Hundesteuerquittung eingesteckt, schon fragt man dich: "Hamse de Steuermarke da?" Nein, die hat zu Hause der Seppel am Halsband. Aber bitte sehr, sagst du verzweifelt und wischst dir den Angstschweiß, auf der Quittung steht doch, daß die Steuermarke Nr. 12774 mir ausgehändigt sei. Da sei doch alles in Ordnung. Nun wendet der Beamte langsam sein Haupt. So wie ein Riesenkran im Hafen langsam herumschwenkt. Und seine Augen quellen hervor und werden immer größer und pressen dich an die Wand, während eine Stimme aus der Unterwelt grollt: "Die Steuermarke muß vorgewiesen werden; das ist Vorschrift!" Ein Glück, daß du noch die Türklinke zu fassen kriegst, ehe du ganz zerdrückt bist, und mit schlotternden Knien hinaus kannst. Du nestelst daheim die Blechmarke ab, fährst nochmals zur Polizei, aber erst am nächsten Tage, denn heute ist es schon zu spät, und bekommst den Stempelaufdruck samt Beglaubigung und kannst nun die Hundekarte nach Lübben oder Eberswalde erstehen. Du hast "nur" 22 Vorderleute, und der Schalterbeamte ist gerade weggegangen. Auch nach einer Viertelstunde ist es noch so. Nur hast du jetzt, zu deiner innigen Genugtuung, bereits 18 Hintermänner.

Ich breche ab. Ich fürchte, daß in der bloßen Erinnerung an derartiges der eine oder andere sonst einen Schlaganfall vor Wut kriegt. Warum wundern sich eigentlich unsere Behörden, daß man mal eine Reise ins Ausland machen möchte? Gute Unterkunft und schöne Gegend gibt es auch hierzulande. Aber aufatmen will man mal, versteht ihr wohl, aufatmen! Einmal irgendwo sein, wo alles mit Leichtigkeit und ohne Reibung sich vollzieht und wo die Bematen nicht dazu da sind, einen aufzuhalten, sondern einem behilflich zu sein. Ich platze sonst auch. Man hat früher gesagt, da bei uns sei eben der typische monarchische Obrigkeitsstaat. Ach was: es ist in der Republik noch viel schlimmer geworden! Das Pedantische, das Umständliche, das Knurrige ist wohl typisch deutsch, ein Erbteil unserer jahrhundertelangen kleinstaatlichen Wichtigtuerei. Und heute ist es am schlimmsten in den Großstädten. In Lübben oder Eberswalde kennt man den Tierarzt und den Polizeimeister persönlich und sagt's ihm beim Bier, und die Sache ist gemacht. In Berlin aber kostet es zwei volle Arbeitstage und ein Vermögen an Fahrgeld. Ich weiß nciht, warum. Wenn ich in Paris jemand aus Fouyères oder in London jemand aus Dalmellington stehen sehe, dann hat der Mensch meist ein glückliches Gesicht und sagt: "Nein, wie praktisch!" Berlin aber hat in der Beziehung so gut wie nichts aufzuweisen. Es ist eine Großstadt, aber seine Bewohner, vor allem die Beamten, werden in sich die Kleinstadtenge nie los.

Deswegen war doch Revolution, denke ich. Dann habe ich aber nie eine Revolution erlebt, die so ins Wasser gefallen ist. Es ist alles beim alten geblieben, nur sind in die höhere Beamtenschaft Leute eingerückt, die man da früher für unmöglich gehalten hätte. "Ganz Europa wundert sich nicht wenig, welch' ein neues Reich entstanden ist; wer am meisten saufen kann, wird König, wer am meisten randaliert, wird Polizist." Nun, der Genosse Hörsing ist zwar nicht König geworden, aber doch wenigstens Oberpräsident, obwohl er einmal als Betrunkener sogar aus dem Sitzungssaal des Reichstages abgeführt worden ist. Dafür ist der Genosse Lübbring nicht Polizist, sondern gleich Polizeipräsident geworden, obwohl er schon verschiedene Gefängnisstrafen hinter sich hat; insofern ist er ja freilich mehr Fachmann als seine Vorgänger unter dem alten System. Diese Neuen - und es gibt ihrer eine gewaltige Zahl - haben aber nichts neu gemacht. Die Revolution ist versickert. Die Herrgöttles am Schalter sind, nachdem die Flut sich verlaufen hat, wieder die Alten. Schlagen wir an unser Herz! Ein Stück solchen Beamtentums schlummert, leider, in jedem Deutschen, auch wenn er gar nicht einmal Beamter ist.

Es ist ein Wunder, daß trotzdem noch Gegenden ohne Verbotstafeln existieren und Freibäder von einer geradezu dionysischen Freiheit. Die Sehnsucht nach dem Auslande oder wenigstens nach deutschen Bergen und Meeren hat sich für das Gros der Berliner diesmal nicht erfüllen lassen. Zwar die billigen Ferienzüge waren besetzt, aber im ganzen sind rund 15 Prozent weniger Berliner verreist als im Juli vorigen Jahres; die großen Schnellzüge sind halbleer. Das Geld ist eben knapp. Um so stärker ist der Besuch der Freibäder rund um Berlin. Allein die vier größten von ihnen haben am heißen vorigen Sonntag eine Besucherzahl von 168 000 Menschen aufgewiesen. Insgesamt mag weit über eine Viertelmillion Berliner in den Spree- und Havelseen Kühlung gesucht haben. Und im Sande davor "det Amiesemang" in Zweisamkeit oder in ganzen Gruppen. Schon die Vorfreude der kleinen Berlinerin - oder der Berliner Kleinen - ist ganz gewaltig.

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"Ach, is det scheen, wenn man Sehnsucht hat,
Und wenn man so wat so vor sich hat,
So ohne Aufsicht nach Halensee
Oder mit Fritz an de Oberspree, -
Bloß aus de Stinkluft raus, aus'n Modderdreck,
Aus de Lumpen raus, aus'n Kodder weg,
Aus den Stubendunst, aus de Küchenluft,
Rin ins reine Hemd und de Sonntgaskluft!"

Man bemerke das fast reine Hochdeutsch in diesen bekannten und so oft jubelnd mitgesungenen Versen. Man gehört doch zu den gebildeten Menschen! Darum ist man auf jeden Fall "oijinell" mit eigener Geschmacksnote. Früher war alles so uniform, der dunkle Rock, die weiße Bluse. Es sah zwar ganz sauber und apart aus, aber doch auch so spießbürgerlich, so nach Haustochter. Heute kauft sich die Berliner Kleine, die wo mit Fritz an de Oberspree geht, in der "Inventur", in der es die sonst unverkäuflichen gräßlichsten Geschmacklosigkeiten billig gibt, ein Kleid aus Seidentrikot, das loddrig herumhängt und - vor allem - leicht über die eine Schulter herunterrutscht. "Un denn rin ins Vajniejen!" Da liegt also das halbe Jung-Berlin bäuchlings am Strande und läßt sich den Rücken rotbrennen. Fritze auch. Er stützt das Kinn auf den Unterarm im Sand und schielt, halb wachend, halb träumend, die paar Zentimeter hinüber zu Lotte. Er möchte pusten. Es wäre doch so schön, wenn die Flaumhärchen und die seidenzarten Ringellöckchen in Lottes Nacken dann hin und her wehten. Auf einmal aber wird Fritze ganz wach. Lotte hat in Wirklichkeit ja Bubikopf und ausrasiertes Genick. Von Härchen keine Spur. Ein blaurasierter Nacken wie der Adamsapfel eines italienischen Tenors; nein, in solchen Apfel hineinzubeißen gelüstet es niemand. Auch das Pusten vergeht unserem Fritz. Er erhebt sich und geht Emmi entgegen, die gerade von der Bahn zum Freibad kommt. Ja, Emmi! Unter ihrem Florentiner drängt sich die Fülle der Locken zu beiden Seiten der Ohrwascheln hervor. Gleich zupacken möchte man und darin wühlen! Also Fritz lädt die Kleine ein, sie nimmt neben den beiden Platz. "Bitte, Frollein, et is so heiß, nehm' Se doch den Hut ab!", drängt Fritz. Emmi tut es ungeniert. Nimmt den Hut ab - und damit auch die daran an beiden Seiten angenähte Lockenpracht. Das ist doch jetzt so Mode. Und man gehört doch, nicht wahr, zu den gebildeten Leuten.

Es ist alles schon dagewesen, sagt man. Aber doch ein bißchen anders, meine ich. Früher sprach man vom Tituskopf, und einen Tituskopf hatte beispielsweise, damals noch jung und eigenartig schön, die jetzt so greuliche Anita Augspurg, einen Tituskopf voll kurzer dunkler Locken. Das bedeutete Freiheit und Emanzipation. Wenn Anita Augspurg, der man damals weder ihre Rasse noch ihre heutige ganz antideutsche Einstellung ansah, in Berlin vor Studenten sprach und ihren Kopf in den Nacken warf, dann glaubte man einen altklassischen Jüngling, einen Liebling des Zeus, da vor sich zu sehen. Schade, daß auch schon damals nicht nur junge Mädchen, sondern auch reife Frauen gelegentlich den Tituskopf trugen. Ich sehe noch Frau v.Flotow vor mit, mit der Wiesbadener Imperatorennase und dem Frankfurter Deutsch und dem ebenfalls blauschwarzen Tituskopf, obwohl diese Dame, rein künstlerisch, nicht politisch interessiert, sicherlich nicht Freiheit und Emanzipation markieren wollte. Und auch noch der eine oder andere Tituskopf taucht in meiner Erinnerung auf. Nur war das immer etwas Absonderliches für wenige, denen es stand, - während es heute, als Bubikopf, zur Mode für die Vielzuvielen geworden ist, die in schlichtem Haarknoten oder mit hoher Frisur vielleicht entzückend aussähen, so aber den ganzen Eindruck ihres Persönchens einfach fabrikmäßig ruinieren.

Für uns Männer hat es immer einen eigenartigen Reiz, über Modedinge zu sprechen, obwohl wir nach Ansicht der Frauen nichts davon verstehen. Schön; dann muß man es eben lernen. Die Berliner Zeitungen bringen ja alle Sonntage Modeplaudereien aus der Feder von Mitarbeiterinnen von Fach, meist sogar mit Zeichnungen dazu. Es hat zwar noch niemals solche Geschöpfe gegeben, wie sie da abgebildet sind, selbst in präraffaelitischen Zeiten nicht, aber vielleicht wirkt das Bilderbeispiel auf die Entwicklung. Schon sieht man ja unsere Damen, wenn sie auf der Straße einer Bekannten begegnen und mit ihr ein paar Worte wechseln, die Modeblatt-Stellung einnehmen. Dabei muß man den einen Fuß immer umlegen, knickfüßig nach außen, und nur auf dem anderen senkrecht stehen. Das ist gänzlich unnatürlich, niemals würde eine unbeobachtete Frau so stehen, aber es gilt nun mal als großstädtischer Schick, und was tut man nicht dafür! Also über alle diese Dinge möchte ich auch Bescheid wissen, mir fachmännisch das Warum auseinandersetzen lassen. Besonders in einer der hiesigen Tageszeitungen versteht eine Mitarbeiterin so überzeugend zu plaudern, daß ich mich gern von ihr persönlich über Toiletten belehren ließe. Ich weiß nur noch nicht, unter welchem Titel man an sie schreibt. Ein bekannter Redakteur rät mir, ich solle den Brief einfach an die Toilettefrau der Zeitung richten, dann käme er schon in die richtigen Hände, und die Antwort an mich werde nicht ausbleiben. Das glaube ich auch. Ich weiß nur nicht, ob die Antwort sich zur Veröffentlichung eignen würde; und ich möchte doch gar zu gern nächstens mitteilen können, ob wir wirklich in der Mode nun auf das Directoire zusteuern oder ob wir die Nabeltaille noch länger behalten. Zurzeit scheint ein einheitliches Kommando nicht durchzudringen, man sieht bei den Pferderennen im Grunewald, bei der Brunnenkur im Zoologischen Garten, beim Fünfuhrtee in den Wannseevillen und in den Schaufenstern der Modegeschäfte Modelle der verschiedensten Art: wir schwanken.

Übrigens beginnt der Zoo selbst jetzt Mode zu werden. Nach den Kriegshungerjahren, in denen vergeblich der Versuch gemacht wurde, Löwen und Tiger an Kohlrübenkost zu gewöhnen, war unser Tierbestand arg gerupft. Jetzt erholt sich alles. Eine große Likörfirma hat dem Garten ein leibhaftiges Elefantengeschenk gemacht. Aus Nordostafrika ist kürzlich eine gewaltige neue Tiersendung eingetroffen, deren Kosten der Zoo selber trägt. Dazu die Einrichtung der Frühkonzerte und der Brunnenkur, kurz, alles lockt. Auch die Krokodile im Aquarium haben inzwischen eine respektable Größe erreicht. Unser Zoologischer Garten sticht gegen die anderen in Europa kaum mehr ab. Besonders reichlich ist er jetzt wieder mit Affen aller Art versehen, an denen unsere reifere Tauentzien-Jugend sich wie vor einem Spiegel ergötzt. Es wird aber kein Ahnenkultus mehr getrieben. Nur in dem ganz billigen Aufkläricht für sozialdemokratische Bildungsvereine steht noch zu lesen, daß der Mensch vom Affen abstamme, während wirklich gebildete Leute zum mindesten mit Virchow bekennen, daß der Zwischentypus zwischen Affe und Mensch noch nirgends gefunden sei - und auch niemals gefunden werde. Ein Berliner Professor hat aber, noch darüber hinaus, in einer entwicklungsgeschichtlichen Studie über das Kinn, das "nur noch" der Mensch besitze, nachgewiesen, daß unsere Abstammung von dem Affen überhaupt ganz unmöglich sei. Allenfalls sei das Umgekehrte denkbar. Also nun wissen wir es. Unsere Vorfahren waren so wie wir. Aber zu unseren Kindern können wir ruhig mal "Du Affe!" sagen; das läßt sich naturwissenschaftlich-entwicklungsgeschichtlich durchaus begründen.
17. Juli 1924 (Donnerstag)


47

Evchen Lehm - Liebesgaben aus Übersee - Die Not in der Reichshauptstadt - Der alte Lutz - Mit Mann und Mäuschen - Das neue Vaterlandslied - Unter den Linden - Kronprinz und Parkwächter.

Irgendwo aus dem Felde her will der Mann mich kennen, der mit einer kleinen Bitte mich nun aufsucht, und Gefechtsordonnanz ist er draußen gewesen, also ein wahrhaftiger ganzer Kerl, der im Krachen des Weltuntergangs den Tod unterläuft. Gott sei Dank, seine Bitte läßt sich erfüllen. Möge es mir im "Evchen Lehm" vergolten werden, sagt er, denn vor Rührung fällt er aus dem Hochdeutsch des Bittstellers wieder in sein heimisches Sächsisch-Thüringisch zurück. Ach nein, sage ich, bitte nicht erst im ewigen Leben, ich habe noch gar nicht die Absicht, mich auf mein Altenteil dort zurückzuziehen. Vorläufig stecke ich noch ganz im Diesseits, wenn auch in diesem Jahre zum erstenmal ein wenig verkümmert. Wenn man von der Slomanlinie in Hamburg eine freundliche Einladung zu einer mehrwöchigen Mittelmeerreise in der Tasche hat und statt dessen, wie ich jetzt, seinen ganzen Sommerurlaub in einem Sanatorium in Kissingen verbringen soll, dann schlag' doch Gott den Düwel dot. Freilich komme ich aus Berlin hinaus, das ist die Hauptsache; aber keinesfalls kann ich in Kissingen den Berlinern entrinnen, und das war doch früher immer das Schönste. Wenn nicht anders, dann im Flugzeug. Oder, in den guten alten Zeiten, schnell mal aus Europa ganz hinaus. Oder in Europa wenigstens in eine Gegend, die dem Kurfürstendamm nicht fein genug ist.

Vor meiner Verfrachtung ins Sanatorium habe ich noch einen Gruß von lieben Lesern aus Übersee erhalten. Das Fabelhafteste in der Beziehung waren in der tollen Inflationszeit, wo man in Berlin kaum eine Uckermärker mit Pfälzer Deckblatt bezahlen konnte, die beiden Kistchen Importen, die der Großkaufmann Otto Framm aus Valparaiso in Chile mir zuwendete. Das kann wirklich nur im Evchen Lehm vergolten werden. Jetzt sind wir aus dem fürchterlichen Jahre ja heraus, unsereins kann sich wieder allerlei leisten, aber freuen tut es einen doch, wenn so ein Gruß aus Übersee kommt. Diesmal ist mir die Sendung namenlos zugegangen, ich weiß nur, daß sie aus Brasilien stammt. Zu der feierlichen Eröffnung der Kiste versammelt sich die ganze Familie in der Küche, jedermann möchte Hammer und Stemmeisen haben. Ha, sagte ich's nicht? Zigarren sind darin! Außerdem aber eine Anzahl fein verlöteter Blechgefäße mit Kaffee und Honig und getrockneten Bananen und Schinken und Zimt und Muskatnüssen und allerlei sonstigen Landeserzeugnissen. Alles strahlt. Unser Küchenfee aber sagt:

"Das ist eine Weihnachtskiste, sie kommt ja von der anderen Seite der Erde, da ist Weihnachten im Sommer!"

Die beiden Sekundaner stoßen sich an, sie möchten ausplatzen, - aber ein dräuender Blick beruhigt sie, und so wird Minna, der guten, der Spott erspart. Von drei Seiten habe ich in der letzten Zeit auch Geld für die deutsche Nothilfe erhalten und nach bestem Ermessen verteilt, nach Möglichkeit an ehemalige Auslandsdeutsche, die jetzt hier in Dürftigkeit leben, und einer der Geber, der in Ostafrika, hatte in lieber Weise noch eine Vermittlergebühr beigelegt: einige Tanganyika- und andere Briefmarken, gestempelt, für das Album unseres Jüngsten. Die Namen der mit dem Gelde Beschenkten möchte ich öffentlich hier nicht preisgeben. Ich erwähne die Angelegenheit aber deshalb, um einmal wieder den lieben Deutschen draußen, die dort die heimische Zeitung mitsamt der Berliner Plauderei erhalten, zu sagen, wie sehr ihre Gaben denen daheim zugute kommen und wie notwendig in manchen Schichten immer noch die Hilfe ist. Man hat wieder anständiges Geld, die Rentenmark; aber das anständige Geld ist knapp. Die Arbeitslosigkeit in Berlin, dieser arbeitsamsten Großstadt der Welt, nimmt wieder zu. Und die Berliner zerfallen, wie ein aufmerksamer Beobachter des Geschäftslebens erklärt, jetzt in zwei Sorten von Menschen: die da Geld einzutreiben und die da Geld aufzutreiben sich bemühen. Reichlicher als bisher wird in den letzten Monaten der Ärmsten in dem gebildeten Mittelstande gedacht. Nach Art der österreichischen Freundeshilfe hat jetzt auch die holländische eine große Speiseanstalt eröffnet, in dem Charlottenburger Schloß, und die märkischen Großgrundbesitzer, die ihrerseits mehrere Volksküchen aus eigenem erhalten, liefern trotz der Agrarnot mehr denn je. Aber mehr denn je stößt man auf äußersten Mangel. Wir haben augenblicklich in Berlin und überhaupt in ganz Deutschland sogar eine geringere Sterblichkeit als 1913, was leichtfertige Statistiker zu der Annahme verleiten könnte, unsere Verpflegung sei vortrefflich und unsere Hygiene noch vervollkommnet. Dabei ist aber, um nur ein Beispiel herauszugreifen, der jährliche Fleischkonsum in Deutschland pro Kopf von 104 auf 46 Pfund zurückgegangen - und die geringe Sterblichkeit rührt daher, daß es eben 1923 das große Aufräumen unter den Alten und Schwachen gegeben, auch unter den Jungen die Tuberkulose fürchterlich gewütet hat. Zu einer ganz Alten soll mich noch mein Weg führen, ehe ich das eigene überanstrengte Herz kurieren gehe. Zu der Witwe des Trompeters von Vionville. Sie lebt in den traurigsten Verhältnissen in einem Vorort von Berlin. Hunderttausende deutscher Kinder haben an dem Lied von der durchschossenen Trompete nach dem Todesritt der Kürassiere und Dragoner einst ihr Herz erhoben. Unbeachtet aber siecht die hinterlassene Frau des Trompeters dahin. Der Rest des Geldes aus Übersee und etliches in der eigene Familie gesammelte dazu soll ihr nun beschert sein.

Es leben noch manche aus jener großen Zeit unter uns, etliche recht kümmerlich, aber angekränkelt durch die kleine Zeit von heute ist, scheint es, keiner von ihnen. Da ist der alte Lutz auf dem Kreuzberg. Lacht nicht, ihr Nichtberliner, wenn der Kreuzberg genannt wird! Es ist freilich wahr, daß er nur 51 Meter über Ostseeniveau ragt, 20 über den Berliner Baugrund, aber er ist doch nun mal unser einziger Berg. Einst war er ganz mit Wein bestanden. Einst, vor Jahrhunderten, als wieder einmal der Weltuntergang prophezeit war, ritt ein brandenburgischer Kurfürst mit Weib und Kind und Gesinde hierher, um von der Spitze des Kreuzberges es sich anzusehen, wie Berlin unterginge. Dann ist das Denkmal der Befreiungskriege von 1813 auf diese Spitze gekommen, und der alte Lutz, wackerer Krieger von 1870, hat es zu bewachen und tut dies treulich in Sonne und Regen und Wind. Vom Berge hinab zieht sich der Viktoriapark mit seinem schönen künstlichen Wasserfall, und in einer verborgenen kleinen Schlucht steht das Lutzhäuschen, in dem die Frau des Alten und seine Tochter und sein Schwiegersohn einen kleinen Milchausschank betreiben; für die vielen Kinder und ihre Mütter, die hier Erholung suchen. Bonnen und Spreewälderinnen und Mademoiselles kennt der Berliner Süden nicht. Im Kriege gab es keine Milch, die Ersparnisse wurden von der Inflation aufgefressen, Lutzens waren wieder bitterlich arm. Aber sie sind geblieben, was sie waren, Leute von altem Schrot und Korn. Als im Frühling 1920 rote Generalstreiker da oben den Lutz in seiner Militärmütze sahen, forderten sie ihn drohend auf, er möge die verdammte Kokarde abreißen. Da hob er seinen Stock und rief: "Ich bin kein Soldat zweiter Klasse, und wer mir zu nahe kommt, der kriegt einen dänischen Kuß, daß ihm Hören und Sehen vergeht!" Da ließen sie ab von ihm. Nach wie vor betreut er im Frieden sein Denkmal und weist die Buben zurecht, die im Sommer sich hier jagen und im Winter rodeln, und schenkt seine Milch aus, "auf besonderen Wunsch" ausnahmsweise wohl auch mal eine Tasse Kaffee. Auch diesen Knorrigen hat, scheint es, die Berliner Bei-mir-Seuche ergriffen. Eine kleine Berliner Göhre, die über die Hecke auf den Rasen springt, streckt ihm frech die Zunge aus und sagt: "Bei mir Tutanchammon, dreitausend Jahre unberührt!" aber diese unberührte Jungfer kriegt doch von ihm ihre Wichse. Und er knurrt nur: "Bei mir - Berlin!" Nun möchte man wissen, was das bedeutet. Da sagt er treuherzig, er meine ja bloß: das alte Berlin. Die Kaiserstadt Berlin. Die Stadt der Zucht und Ordnung. Die - mal wieder kommt. Und die er noch erleben will.

Man soll nicht prophezeien. Aber solche Dinge kommen oft über Nacht. Heute spricht man natürlich noch mehr von dem anderen Berlin, ich meine nicht von dem republikanischen, denn das existiert überhaupt nur auf Verordnungspapier, sondern von dem Amüsier-Berlin mit seinen 156 Variétés und Kabaretts - und als Reaktion auf die verflossene Elendszeit ist das ja auch nicht allzu verwunderlich. Aber auch das läßt schon nach. Wer Arbeit hat, der arbeitet feste; und wenn der Berliner sechs Wochentage lang, oft in zwei oder drei Nebenberufen außer dem Hauptberuf, sich gründlich abgeschuftet hat, mag man ihm den fidelen Sonntag wohl gönnen. Der "richtige" Berliner ist so abgearbeitet, daß man es ihm am Sonntag wohl auch noch ansieht, wie unbeholfen er in seinem Vergnügen ist. Und in Treptow kippt dann der Kahn mit Mann und Mäuschen um, und ein paar nasse Bündel werden in der Abtei oder im Eierhäuschen abgeliefert.

Woher es kommt, daß auch im fünften Jahre der Republik Berlin immer noch nicht republikanisch ist, darüber zerbrechen sich weise Männer weidlich die Köpfe. Nicht einmal politisch republikanisch; bei der letzten Wahl im Mai waren die überzeugten Republikaner der Hauptstadt in der Minderheit. Eine Republik braucht Popularität, wie ihr oberster Interpret, Herr Fritz Ebert, bei der Goethefeier in Frankfurt bekannt hat, und populär macht man sich - durch Feste. In Paris tanzte man auf den Straßen die Carmagnole und führte im Festzug ein nacktes Frauenzimmer durch die Stadt, aber der norddeutsche Mensch ist für derartiges zu nüchtern und wird durch öffentliche, prunkende Umzüge in der Zeit des Dawes-Diktats nicht republikgläubig. Nein, hierzulande muß sich etwas in das Herz hineinsingen können, hier gewinnt man die Männer nur dann, wenn man sie im Chore vereint, und so hat denn die Republik durch große Geldspenden die Männergesangvereine dafür zu gewinnen versucht, daß sie in allen Städten auf öffentlichen Plätzen Lieder vortrügen, die in die neue Zeit des Pazifismus und Internationalismus paßten. Ein ganzes Jahr lang hat man das versucht - und nur Mißstimmung geerntet. Ja, noch mehr: der deutsche Männergesang, der der Popularität nicht bedarf, weil er die Volkstümlichkeit hat, ist in aller Stille zu wuchtiger Abwehr gekommen. Nicht ein Lied auf die Republik, sondern ein Lied auf das Vaterland hat er geschaffen. Es ist nicht das Ergebnis eines Preisausschreibens, auch nicht die Emanation eines Dichtergenies, es ist schlicht und einfältig wie ein Gebet, fast trivial sogar in seinen herkömmlichen Versen, entstanden vor zwei Jahren bei der Tafel, als Reden schwirrten und gute Freunde in Treuen beim Glase beieinandersaßen, auf dem Niedersächsischen Sängerbundfest. Der Schatzmeister des Deutschen Sängerbundes, Johannes Redlin, hatte es in wenigen Minuten auf das Papier geworfen. Ein deutscher Kaufmann. Ein Kaufmann mit Wikingersinn, der schon über die Weltmeere fuhr und doch immer wieder in die kärgliche Heimat zurückfand; ein Kaufmann von der neuen Sorte, die zuerst Jura studiert und doch sogar als Assessor den hellen Blick für das Leben nicht verliert. Redlin stammt aus wohlhabendem Hause, hat sich aber aus eigener Kraft sein Schicksal gezimmert, hat die Kosten des Studiums - da er das väterliche Gebot, altlutherischer Theologe zu werden, verwarf - selbst erarbeitet und, ein Liebling der Götter und Menschen, es sogar erreicht, daß die armen Stenographen des preußischen Landtages, wo er als Student Hilfsarbeit leistete, die Kaution zusammenschossen, die der neugebackene Herr Referendar damals nachweisen mußte. Die dritte Strophe seines Liedes sei hierhergesetzt:

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Vaterland, des Himmels Segen
Mög' dir neu beschieden sein;
Geh' der Zukunft kühn entgegen,
Gott wird Mut und Kraft verleihn!
Vaterland, und sollt' ich lassen,
Was ich bin und hab', für dich,
Vaterland, noch im Erblassen
Dir mein Alles weihe ich!

Wie man sieht, ließe sich das nach der Melodie des Deutschlandliedes gut singen. Das haben die Sangesbrüder natürlich auch gesehen. Aber sie wissen doch, daß das Deutschlandlied von Ebert zur offiziellen Hymne der Republik erklärt worden ist. Und da mochten sie denn lieber etwas Eigenes schaffen. Die neue Melodie stammt von Friedrich Buck, einem gebürtigen Burgsteinfurter Westfalen, einem namhaften Musiker, der schon 1902, allen fremden Wettbewerbern vorgezogen, zum Leiter des internationalen Tonkünstlerorchesters in Shanghai gewählt worden war; jetzt lebt er, im Kriege wie alle anderen heimgetrieben, in Tübingen. Das Lied soll von Alldeutschland gesungen werden, jenem Deutschland, das größer ist als das des Vertrages von Versailles und der Verfassung von Weimar; Deutsche aller Erdteile werden im August in Hannover zusammenströmen, und ihrer 30 000 werden dort, unter Hindenburgs Protektorat, das Vaterlandsgebet himmelan brausen lassen.

Das Lied hat mit Republik und Monarchie nichts zu tun. Und doch ist es eine Befreiung von den Bevormundungsversuchen der Republik. Man sollte alle diese täppischen Versuche endlich unterlassen. In Berlin sind sie besonders auffällig, weil man sich da so sehr bemüht, die "Kaiserstadt" auszustreichen. Die Schlösser werden in Museen und in Amtsräume für die neue Bureaukratie aufgeteilt; in einzelnen abgelegenen Zimmern liegt immer noch, zu Haufen wie beim Althändler geschichtet, selbst der intimste Privatbesitz des Kaisers, soweit er - überhaupt noch vorhanden ist. Nur noch ein einziges kleines Absteigequartier besitzen die Mitglieder des Kaiserhauses, die paar Zimmer im ersten Stock des Niederländischen Palais Umter den Linden. Kürzlich ist in aller Stille auch der Reitweg vom Schloß bis zum Brandenburger Tor, an der Promenade der Linden entlang, entfernt worden, als ob man es dadurch verhindern könnte, daß je wieder ein deutscher Kaiser hoch zu Roß unsere Siegesstraße durchmißt. Man hat dadurch auf der Nordseite Unter den Linden Pflasterbreite und eine Einbuchtung für die Elite-Rundfahrt-Autos gewonnen.

Gelegentlich werden sogar Taktlosigkeiten nicht gescheut. Der Kronprinz fährt kürzlich mit seiner Frau im Auto zum Grabe seiner Mutter, zum Antikentempel im Neuen Garten in Potsdam. Ein Hüter der Republik, der den Wagen mit seinen Insassen natürlich kennt, verbietet am Parkeingang das Weiterfahren. Der Kronprinz ist wirklich, wie der Berliner sagt, eine Seele von Mensch und kennt kein lautes Wort. Aber da braust er doch auf: "Ich werde doch wohl in meinem Garten zum Grabe meiner Mutter fahren dürfen!" Den Blick und das Wort hält der Wächter der Republik nicht aus und tritt blaß zur Seite.

Die große Mehrheit der Berliner aber wartet auf den Tag und hofft bestimmt ihn noch zu erleben, wo die ganze Sippschaft der Emporkömmlinge von 1918 blaß zur Seite tritt und den Rechtmäßigen den Weg freigibt.
24. Juli 1924 (Donnerstag)



Glossen 43 - 45

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© Karlheinz Everts