"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 40 - 42
5. bis 19. Juni 1924


40

Die stinkende Stadt - Hinaus ins Freibad - Ich suche dich, Titine - Das Weibliche im neuen Reichstag - Weimar-Erinnerung - Schwarzrotgelb wird nicht gekauft.

Im Felde, hoch oben in der Luft, konnte man gelegentlich erleichtert von einem Gegner sagen: er stinkt ab. Nämlich wenn sein Flugzeug, mit langer Rauchfahne hinterdrein, brennend abstürzte. Aber nun haben wir ja keinen Krieg mehr. Das "Abstinken" jedoch ist geblieben. Nur jetzt zu ebener Erde. Mit langer Rauchfahne sausen die Autos auf den großstädtischen Straßen einher, und wer diesen Geruch einatmen muß, der glaubt an alsbaldigen Erstickungstod. Naive Gemüter sagen, es rieche nach Benzin. Nein, es stinkt nach verbranntem Öl. Der leise Duft nach gereinigten Glacéhandschuhen, den wir Älteren aus unserer Jugendzeit so gut kennen, ist es natürlich nicht, außerdem fahren ja unsere Autos nicht mehr mit Benzin, sondern mit Benzol. Selbstverständlich ließe sich der Gestank vermeiden. In London oder Newyork, vielleicht sogar in Paris, würde die Polizei einem Kutscher, der so die Luft verpestete, sofort das Handwerk legen. In Berlin aber schädigen ihrer Tausende rücksichtslos unsere Gesundheit. Die Straßen sind sauber, wie poliert, aber die Luft ist so dick, daß man sich nach den Pferdeäpfeln der guten alten Zeit oder selbst einem dörflichen Misthaufen geradezu sehnt, weil die einem doch wenigstens das Atmen erlauben. Wer morgens als erster einen nachtsüber geschlossenen Pferdestall betritt, dem schlägt ja der Ammoniakduft auch wie ein Schmiedehammer vor die Stirn, aber da kann man sich doch durch Aufreißen von Tür und Fenster retten. Auf dem Berliner Asphalt ist man unentrinnbar dem Gestank ausgeliefert. Berlin war einst die sauberste Großstadt der Welt, nur von Kleinstädten in Holland oder Schweden übertroffen; zur schönsten Stadt der Welt - wie Kaiser Wilhelm II. träumte - konnte es schon wegen seiner kuchentellerflachen Visage nie werden; aber vor der stinkendsten Großstadt der Welt hätte uns die verehrliche Republik wirklich bewahren können. Dagegen ist ja selbst Peking der reine Luftkurort.

Wer so etwas weiß, der versteht unseren Lufthunger. Alltäglich im Sommer und besonders allsonntäglich ächzen die Vorortzüge unter der Menschenfracht. Leider backt nur der Herdentrieb das meiste wieder zusammen; zu Zehntausenden geht es zum Freibad Wannsee hinaus, es dampft von Menschen, die Luft ist anthropingesäuert, und das von heißen Leibern bis zum letzten Tropfen ausgerollte Wasser schreit nach dem Filter. Wer sich vorher oder nachher von der großen Masse löst, der kann aber ganz idyllische Freibäder finden. Der Stolper See gleich hinter dem kleinen Wannsee ist solch paradiesischer Fleck, und wer just die rechte Stunde trifft, der mag dort die halbe deutschvölkische Reichstagsfraktion sich tummeln sehen. Das Wasser-Stelldichein der Kommunisten habe ich noch nicht gefunden. Sicherlich gibt es aber eines, und es ist auch sicherlich nötig, denn die neue Mode ihrer Reichsboten, im schwarzen Moskauer Blusenhemd zu erscheinen, wäre sonst "auf die Dauer" nicht zu empfehlen. Der gebildete Mittelstand ist in den Massen-Freibädern immer weniger zu finden. Er bevorzugt etwa die Badeanstalt an der Krummen Lanke, dem schönen See bei Zehlendorf, oder flüchtet sich gar in köstliche Einsamkeiten noch hinter Potsdam. Man spricht immer von der sandigen Mark und vergißt darob, die wasserreiche zu rühmen. Ihre Wälder und ihre Gewässer sind die Retter unserer Atemluft.

Der Mensch lebt freilich nicht von Luft oder Wasser allein, auch nicht allein von Luft und Liebe, obwohl manche Beobachtung an Sommerabenden rund um Berlin dies möglich erscheinen lassen. Nein, er muß auch geistige Nahrung haben. Dazu dient die leicht zu befördernde Rahmenantenne samt Detektor und übrigem Kleinkram, und siehe da, kaum hat man sich gelagert, da ertönen Sphärenklänge:

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Ich such dich, Titine,
Ich muß dich ewig suchen,
Du bist ja die Rosine
In meinem Lebenskuchen.

Daher heißen wir ja auch das Volk der Dichter und Denker; genau so hat Goethe doch auch gedichtet, wenn er in Thüringens Wälder sinnend saß, nur daß es ihm nicht immer gleich gelang: "Über allen Gipfeln ist Ruh'" reicht natürlich an die ewig gesuchte Rosine im Lebenskuchen bei weitem nicht heran und ist daher heute auch in der breiten Masse des souveränen Volkes nur noch wenig bekannt.

Das ewig Weibliche zieht uns hinan, hat Goethe selber zugestanden. Das Weibliche in Berlin aber kennt alle diese Schlager und trällert sie bei jeder Gelegenheit uns ins Gedächtnis, und wenn nun auch der Rundfunk sich in den Dienst dieser Kulturaufgabe stellt, dann können wir auf die überflüssigen Klassiker beinahe verzichten. Bleibend ist nur ein Zitat aus Goethe, das bekannte von Götz von Berlichingen: "Ihr könnt mich alle . . ." Das ist jetzt sogar parlamentarisch geworden. Auch das Weibliche auf der Linken protestierte nicht, als der Towarischtsch Eppstein dieses Zitat zur benachbarten Sozialdemokratie hinüberrief. Drei oder vier Stadträte vor Götzens Burgfenster, das geht ja noch an. Aber gleich eine hundertköpfige Fraktion, das ist doch zu zeitraubend. Das Weibliche, wie gesagt, protestiert nicht. Es schreit auch. Die diesmalige Zietz heißt Elfriede Gohlke, genannt Ruth Fischer, geborene Eisler, geschiedene Friedländer. Sie ist "mollet", wie man in Wien, wo sie früher eingemeindet war, zu sagen pflegt, sehr stark mollet, und mich plagt der Alpdruck, daß die Kommunisten einst siegen und dann, nach dem Vorbild der großen französischen Revolution, diese füllige Ruth Fischer als "Göttin der Vernunft" nackt durch die Straßen fahren könnte. Augenlust und Fleischeslust auf der Linken sind jedenfalls stark im Wachsen, seit Ruth Fischer als Parteivorsitzende der Kommunisten im Reichstage weilt. Früher war es Toni Sender aus Frankfurt am Main, auch so eine kleine Exotin, die links die Augen aller Fraktionsgenossen auf sich zog, und einer machte ihr einmal sogar in der poetischen Form eines Reichtags-Stimmungsbildes eine richtige Liebeserklärung, die dann von einem Indiskreten unter ungeheurer Heiterkeit öffentlich verlesen wurde. Jetzt ist die schwarze Toni schmal und alt und spitz geworden; die Rosen aus dem Süden welken schnell. Das Weibliche ist in dem neuen Reichstag ein wenig schwächer vertreten als in dem alten. Eine einzige Fraktion, die deutschvölkische, zählt überhaupt nichts Weibliches. "Die Frauen sind mir zu schade für das Parlament", sagte Herr v.Graefe, und als Frau Voß in Schleswig-Holstein doch aufgestellt wurde, klopfte die Berliner Parteileitung sofort ab. Auf der Rechten ist diesmal Frau v.Sperber, die daheim auf ihrem Gute Gerskullen bei Naujeningken schon ein paar langgeschossene Backfische als Töchter zu sitzen hat, neu eingetreten, dafür Frau Hoffmann aus Bochum weggeblieben, eine der unauffälligsten, aber tapfersten Frauen des verflossenen Reichstages. Es war in der Zeit der völligen Absperrung der bestzten Gebiete im vorigen Sommer. Auch kein Paß, auch keine Reichtstagskarte gestattete das Hinein oder Heraus. Trotzdem kam Frau Hoffmann, eine Dame hoch in den Sechzigern, Sonntag für Sonntag aus Berlin zu den Getreuen, richtete Schwankende auf, hielt Versammlungen ab. Wie sie hinkam? Jedesmal in der Nacht zuvor erschien sie, die ja Weg und Steg ihrer Heimat kannte, an irgendeiner unbewachten Furt der Ruhr, watete mit nackten Beinen hindurch und marschierte dann noch stundenlang, bis sie am Ziele war. Drüben bei der Deutschen Volkspartei ist das Weibliche auch gewechselt worden. Fräulein Dr. Matz ist auf der Strecke geblieben. Es war ein Leuchten im Sitzungssaal, wenn sie eintrat, denn wie ein Goldhelm schimmerte ihr helles Haar über hellem Kleide. Morgens von 8 bis 10 Uhr gab sie, die Direktorin einer Studienanstalt in Stettin war, dort ihre Stunden, sauste dann mit der Bahn nach Berlin zur Reichstagssitzung und abends meist wieder zurück, um bis in die Nacht hinein ihr Amt zu versorgen; eine fabelhafte Arbeitskraft. Auch Frau v.Oheimb ist dieser Tage nur als Gast, ohne Wahlweihen, im Reichstage erschienen. Die Zahl der Klatschgeschichten über sie ist Legion, neunzig Prozent davon sind sicher erfunden, aber daß man sich so mit ihr beschäftigte, scheint doch darauf zu deuten, daß man sie für eine Frau von Bedeutung hielt. Im Verkehr mit Kardorff und anderen Herren der eigenen Fraktion war Kathinka v.Oheimb, die etwas überreife, aber noch sehr elegante, wohl etwas frei geworden. Auf eine Bemerkung, die einmal im Plenum von den Nachbarbänken der Abg. Dr. Hergt ihr zurief, als sie vor einer Abstimmung Bekehrungsversuche machte: "Bringen Sie mir nicht die ganze Fraktion durcheinander, gnädige Frau!" erwiderte sie nur: "Aber, aber, mein Engel!", worauf wiederum die deutschnationale Abgeordnete Müller-Otfried, die auch heute noch dem Hause angehört, zornglühend dazwischen fuhr: "Sie werden zu dem Führer unserer Fraktion gefälligst Euer Exzellenz sagen und nicht mein Engel!" Für Frau Oheimb-Magdeburg ist Ersatz aus Thüringen gekommen, Frau Frances Magnus aus Jena, Doktor der Staatswissenschaften, Frau eines Professors. Sehr schlank, von ruhiger Eleganz, klug und gütig, mit einem typisch englischen Gebiß, das sie wohl von ihrem britischen Großvater hat. Soweit Frau von Oheimb links vom Fraktionsdurchschnitt stand, so weit rechts von ihm steht Frau Dr. Magnus. Aus eigenem Studium des Dawes-Berichts heraus hat sie dieses "zweite Versailles" für uns erkannt und ist sofort in eine scharfe Gegnerschaft zu Stresemann geraten, die durchzuhalten wohl ebenso viel Tapferkeit verlangt, als das Waten durch die nächtliche Ruhr auf die ungewisse Gefahr französischer Kugeln hin. Schwachheit, dein Name ist Weib, sagt Shakespeare; im Urtext steht sogar: Gebrechlichkeit, dein Name ist Weib. Im Reichstage gibt es dann allerdings etliches Weibliche von anderer Sorte. Auch Muttel Behm nicht zu vergessen, die Deutschnationale, die bei dem großen Krakehl am zweiten Tage wieder einmal "stand": als Wellenbrecher zwischen links und rechts. Umgekehrt hat es unter den Männern natürlich auch immer alte Weiber gegeben. Ein Typus, den man früher den Blaustrumpf nannte, findet sich unter den Damen des neuen Reichstages kaum, allenfalls bei der demokratischen Partei, wo Fräulein Dr. Bäumer, knochig und alt, fest in ihren Strandschuhen auf dem Regierungsparkett steht und Männer abkanzelt, sogar den großen Philosophen Fichte in ihrem sonst geistreichen und glänzenden Büchlein dann, wenn sie auf seine Ansicht über die verschiedene Stellung der Geschlechter zu sprechen kommt. Noch weniger aber gibt es Romanfiguren im Reichstage. Es geht doch recht prosaisch zu in diesen unheiligen Hallen, und das Weibliche ist so dünn gesät, daß seine Feinde - auch die gibt es hier - ihm leicht entgehen können. Es sei denn, daß man zum Schriftführer gewählt ist. Dann trifft man mit den Kolleginnen dieses Amtes unbedingt einmal zusammen, entweder mit Frau Teusch vom Zentrum, hinter deren Madonnen- oder Mater-Dolorosa-Gesicht sich brennender Eifer für den Wirth-Flügel der Partei birgt, oder mit der Sozialistin Lore Agnes, die jetzt vierschrötig und kleinbürgerlich und still geworden ist, während sie noch in Weimar als kleiner Vulkan galt, - damals, als im Goldenen Adler und anderswo die neugebackenen republikanischen Minister, noch unter der roten Fahne, nächtelang kneipten, nachher mit dem Spazierstock den Bürgern über die Rolläden kratzten und dazu sangen:

Von allen Mädchen so blink und so blank
Gefällt mir am besten die Lore . . .

Das war das heroische Zeitalter unseres neuen Staates, das nicht gehalten hat, was es versprach, denn der damalige Führer zu Friede und Freiheit und Wein, Philipp Scheidemann, hat heute in seinem eigenen Cassel nur noch eine Minderheit hinter sich, und in Berlin sieht man noch heute die damals nach dem Rot gekürten Farben, schwarz-rot-gelb, nur auf amtlichen Gebäuden. Ich habe in einigen Kaufhäusern und Spezialgeschäften mich danach erkundigt, wie die neue Flagge "geht". Man lächelt süßsauer, und wenn man sich sicher weiß, dann sagt man: gar nicht. Die letzten schwarz-rot-gelben sind bei Begründung der "Republikanischen Partei", die bei den Wahlen im Nichts steckenblieb, verlangt worden. Vorher monatelang gar keine, nachher auch nicht. Man muß immer wieder an die Klage der Ullsteinpresse denken, daß wir eine Republik ohne Republikaner seien. Wenn Berlin jemals einen "Deutschen Tag" bekäme, wie neulich Halle, dann würde es in schwarz-weiß-roten Fahnen ertrinken. Und am zweitstärksten wäre das Rot. Daß diese Volksabstimmung öffentlich noch nicht so zum Ausdruck kommt, das liegt nur an dem reaktionären Wirken Eberts und seiner Beauftragten.
5. Juni 1924 (Donnerstag)


41

Unten im Hotel Exzelsior - Hasenheide - Das 4. deutsche Großkampfkegeln - Jugendlich-berlinische Überspanntheiten - Das Paradies in Vorpommern - Der Vogelhändler.

Gegenüber dem Anhalter Bahnhof liegt ein Hotel, dem man bei seiner verhältnismäßig schmalen Front gar nicht zutraut, daß es das größte auf dem europäischen Kontinent ist. Dieses Hotel hat auch ein Café. Sitzt man darin im erhöhten hinteren Raum, so hört man dort fast allabendlich ein unterirdisches Grollen und Donnern und Poltern, über dessen Herkunft man sich zunächst keine Rechenschaft geben kann. Es klingt ja nur ganz gedämpft; wie das Trommelfeuer einer 30 Kilometer entfernten Schlacht. Einmal bin ich dem Rumoren nachgegangen. Da in der Unterwelt, in dem schönen Kellergeschoß des luxuriösen Gasthofes, befindet sich eine ausgezeichnete - Kegelbahn, und die Poltergeister sind Angehörige der guten Gesellschaft, des Berliner gebildeten Mittelstandes. Ganz andere Gestalten als diejenigen, die man oben im Café oder im Prunksaal des Hotels beim Essen in der Nähe der Zigeunerkapelle oder gar in der Bar neben den Mädels mit schwarzem Wimperstrich und gebobbten Köpfen sieht; solide Gestalten, vertrauenerweckende Gestalten, so im Durchschnitt altes System mit neuem Speck.

Alles andere eher hätte ich hier erwartet, als eine Kegelbahn. Man denkt sich sofort in die Kleinstadt und sieht im Geiste vor sich den Wegweiser: "Kegelbahn im Garten". Und dort nach des Tages Arbeit die Zweizentnermänner und die noch gewichtigeren Persönlichkeiten des Ortes in Hemdsärmeln, Zigarrenqualm und Bierneigen. Es gibt kaum eine Gattin, die dieses Vergnügen ihrem Manne nicht gönnte, denn es ist gesund und harmlos; auch pflegen Kegelbrüder weder so zu trinken noch so zu zoten noch so viel Geld auszugeben, wie viele andere des männlichen Gelichters, und bringen überdies manchmal eine ausgekegelte Gans oder sonst etwas Schönes nach Hause. Wo soll es aber in Berlin dergleichen geben? Wo die Wirtschaften mit Gärten und infolgedessen Kegelbahn erst weit an der Peripherie der Stadt beginnen? Aber siehe da, einmal auf der Suche, entdeckt man auf einmal überall Keller. Und überall poltert's und donnert's und kracht's, überall purzeln alle neune, krähen Kegeljungen und hebt eine sympathische Rasse starker Männer, unter die sich nur selten ein Windhund von schlankem Gliederbau verirrt, abwechselnd den Humpen und die mächtige Kugel. Das scheint immer auch die einzige nicht "exklusive" Gesellschaft in unserem steifen Norddeutschland zu sein, wo sich alles so gut verträgt wie im Hofbräu in München; der Pastor und der Schneidermeister und der Oberstleutnant und der Gerichtssekretär und der abgebaute Geldbriefträger. "Gut Holz!" schallt es einem fröhlich und in grundgütigem Basse entgegen. Gekegelt haben ja schon die alten Germanen. Nicht das etwa gilt als Beweis dafür, daß sie mit Kind und Kegel auf die Völkerwanderung gingen, denn Kegel ist nur der damalige Ausdruck für Bastard, aber jedenfalls wurde schon in Nibelungenzeit das Kugelstoßen nach den neun Holzpuppen, den bösen Heidengeistern mit dem Jupiter in der Mitte, betrieben. Das Spiel hat sich mit den Deutschen über alle Erdteile verbreitet. Nur in Amerika, wo alles immer "the greatest in the world" sein muß, stellt man nicht neun, sondern zehn Kegel auf.

Heute nun entgeht kein Spiel und kein Zeitvertreib der Erhebung zum Sport. Auch das Kegeln ist "offiziell" anerkannt und hat nun seine Dreß, seine Turniere, seine Rekorde, seine Meister für Potschappel, Illinois, Mitteleuropa und den Atlantischen Ozean, seine Literatur und den ganzen bitterlichen Ernst des "Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen treiben". In Berlin haben wir augenblicklich die 4. Großkampfkegelwoche für Deutschland draußen an der Grenze von Neukölln in der Hasenheide, wo einst Friedrich Ludwig Jahn die Buben an Barren und Reck gegen den Franzmann drillte; heute ist die Hasenheide eine Vergnügungsstraße mit einem "Lokal" neben dem anderen, mit Kaffee- und Biergärten, mit der riesigen "Neuen Welt", in der sich Tausende drängen, wenn abends der eleganteste Damenschuh oder der tiefste Rückenausschnitt prämiiert wird, und der Unionsbrauerei, auf deren Gelände das stattliche Turnierhaus mit zwölf Bahnen in einer mächtigen Oberlichthalle errichtet ist.

Da also findet die Zitzlerwoche statt, wie sie nach dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden aus Halberstadt benannt ist. Da hat in den ersten Tagen Halle sich tapfer an der Spitze gehalten, aber auch Chemnitz recht gut abgeschnitten. Da sperren aber auch die Zuschauer Mund und Augen auf: wahrhaftig, das Kegeln ist richtiger Sport!

Die Bierbäuche sind nämlich verschwunden, lauter kräftige Erscheinungen ohne überflüssiges Fett arbeiten hier nach dem Worte, daß die Götter vor den Preis den Schweiß gesetzt haben, und wer seine 300 Kugeln pausenlos auf die Reise geschickt hat, jedesmal mit Rumpfbeuge, viele auch jedesmal mit Sechs-Schritt-Anlauf, der leidet sicher nicht unter Verdauungshemmungen und muß ein Sportherz haben. Es sind alles gesetzte Männer von einem gewissen behäbigen Wohlstand, auch Graubärte darunter, und die gleichmäßige Klubtracht, man kann von Strandkostüm oder Tennishose sprechen, gewährt einen gefälligen Anblick. Einigermaßen ernüchternd wirken die herumstehenden Selters- und Limonadeflaschen; diese Nüchternheit ist bei wirklichem Sport freilich selbstverständlich. Aber daß ich persönlich, auch wenn ich auf jeden guten Tropfen verzichtete, doch noch nicht reif für den Keglersport bin, das wird mir in der blassen Luft der Turnierhalle sofort klar: niemand raucht! Hier scheiden sich unsere Wege, denn mir geht Havanaduft immer noch über Schweißgeruch. Aber lustig ist das Gerumpel und Gepumpel auf den 12 Bahnen verschiedener Arten, und ausgesuchte Kegler, von denen so leicht keiner eine "Ratze" wirft, sind hier versammelt, und alles vollzieht sich ohne Pose und ohne Reklame just in den ruhigen Formen, wie es eben einer Altherrenriege der guten Gesellschaft entspricht, und die 352 Turnierteilnehmer - so viele, glaube ich, sind es - verkehren untereinander und mit dem Publikum in der liebenswürdigsten Art.

Mit sachlichem Ernst, der um so sachlicher ist, als hier keine modernisierten weiblichen Teilnehmer oder Gäste wie auf dem Pfingst-Tennisturnier ablenkten, werden die Chancen erörtert: Hannover oder Dresden, sollte man meinen, hätten auch nicht schlechte Aussichten; und dieser Kämpfer sei gut durch- und jener leider übertrainiert. Man spricht leidenschaftslos, weil man erstens mit seinem Speech nicht vor irgendeiner Bubischönen mit Hemdchenkleid und vergeistigtem Körper zu brillieren braucht und weil zweitens kein Glockenzeichen den Totalisatorschluß befiehlt und wir unser Geld noch nicht angebracht haben, denn gewettet wird beim Kegeln überhaupt nicht; das hat schon Karl V. im Jahre 1370 verboten.

Das weiß ich zufällig aus dem Konversationslexikon. Gelegentlich bin ich gerne ehrlich. Ich habe eine dunkle Ahnung, daß dieser Karl V. nicht der deutsche Kaiser war, denn der lebte viel später. Aber ich bin zu faul, um weiter nachzusehen. Wer unter den Lesern auch ein Lexikon oder einen Schulbuben hat, der mag es tun. Unsere heutigen Gymnasiasten wissen ja unglaublich viel. Sie übersetzen zwar von Obersekunda ab aus dem Lateinischen und Griechischen nur noch ins Deutsche, nicht umgekehrt, während wir noch wöchentlich unseren lateinischen Aufsatz schrieben, selber ein kleiner Thukydides waren und mündlich Disputationen in den alten Sprachen veranstalteten, etwa über Stoizismus und Epikuräismus. Ich war schon damals in stoischer Maske ein fröhlicher Epikuräer. Nebenbei waren wir recht gute Deutsche, auch durchaus "völkisch", obwohl das Wort damals noch nicht erfunden war, aber so toll getrieben haben wir es doch nicht wie unser heutiger Nachwuchs. Der teilt sich in zwei Heerhaufen. Der eine schwört, daß alles vom Affen kommt; der andere, daß alles Bedeutende in allen Jahrtausenden deutsch war. Jetzt erregt auf allen Berliner Schulbänken ein Buch Sensation, das stärker und wilder denn andere in der Weltgeschichte herumrührt, dessen Verfasser und Verleger aber ich durch Namensnennung nicht lächerlich machen möchte. Danach hat das Paradies etwa in Vorpommern gelegen, sind Peene, Swine und Dievenow die drei paradiesischen Ströme, ist der trojanische Krieg in Mittelschlesien ausgefochten, ist Wotan-Odin-Adam eine jüdische Erfindung, und Loki - der Name berühre sich mit den "Locken" an den Schläfen der gesetzestreuen Hebräer - ein Handelsmann aus Polen. Nachgerade wird das Treiben, auch ganz abgesehen von diesem ganz blöden Unsinn, allzu materialistisch. Man kann trotz Gobineau nicht alles Geschehen nur auf Blutmischung zurückführen, denn dann tötet man ja den Geist. Friedrich der Große hat sich leiblich unter uns nicht fortgesetzt. Trotzdem ist er doch von ungeheuer viel stärkerer Wirkung, als irgendein braver Schulze oder Müller seiner Zeit, von dem reinblütig vielleicht noch achthundert Nachkommen unter uns leben. Umgekehrt hat das 1847er "kommunistische Manifest" von Marx und Engels die Welt mehr verseucht, als es mehrere tausend Mischehen hätten tun können. Die sinnlose Revolution hat uns vollends gespalten und doch auch beide Lager mit der einen Betrachtungsweise erfüllt, der materialistischen. Das Hornochsentum siegt, das Wiederkäuen ist Mode. Uns hat aber noch nie die Masse vorwärts gebracht, auch die gänzlich reinblütige nicht, sondern immer nur die geistig führende Persönlichkeit; und bei Martin Luther und Richard Wagner wissen wir noch heute nicht sicher, wieviel diese geistig Urdeutschen an Hundertteilen fremder Rasse körperlich in sich gehabt haben. Man muß einmal so etwas heraussagen. Man muß vor der Übertreibung an sich guter Gedanken warnen. Unsere Berliner Jungen sind ja bereits drauf und dran, jeden zu "vertrimmen", der ein anderes Abzeichen trägt. Haß flammt wider Haß. Schwarzweißrote und Schwarzrotgelbe lauern einander mit Schlagringen auf. Und leider fehlt beiden ein starker Staat und eine feste Erziehung.

Die jugendlichen Verbissenen sind freilich immer noch eine Minderheit. Die große Menge fragt überhaupt nicht nach dem Sinn unseres Lebens und nach dem Zweck deutschen Daseins, sondern sie vegetiert und sie amüsiert sich. Hie und da entdeckt sie sogar, daß eigentlich auch die vorige Generation es verstand, fröhlich zu sein; und viel sinnvoller und herzlicher fröhlich. Das einzige, was zurzeit in den Theatern noch zieht, ist wieder das gute Alte. Das große Schauspielhaus kann seinen ungeheuren Raum nur füllen, indem es die sozusagen klassische Operette uns wieder auftischt. Es ist Carl Zellers "Vogelhändler", eines jener Volksstücke, vor deren klingendem Gemüt und glockenreinem Humor die ganze moderne Foxtrotterei und Trottelei der ausgezogensten Operette sich einfach in übelriechenden Dampf auflöst. Wer hier fröhlich und lachend und gerührt das Ahndllied

Noch einmal, noch einmal
Sing' mir, sing', Nachtigall

über sich hat hinströmen lassen, wer leise wiegend den Walzerrhythmus miterlebt und prickelnd und süß empfindet, der ist für einige Zeit gegen die heutigen Synkopen und das unholde Tschingtara und die schalen Laszivitäten etwa der "Perlen der Cleopatra" völlig gefeit. Ein leises, glückliches Summen geht durch das Haus der Fünftausend. Mehr nicht. Man singt den Refrain nicht so laut mit, wie bei sonstigen Gelegenheiten zu irgendeiner Hirsch-Operette. Man ist ganz der Romantik hingegeben, die so zauberisch wirkt; und selbst den jüngsten ist es so, als hätten sie das "Grüß euch Gott, alle miteinander" oder "Jekus, Jekus, das ist schwer" oder "Schenkt man sich Rosen in Tirol" irgendwann und irgendwo als Kinder schon gehört, - denn es sind eben Klänge aus Kinder- und Poesieland.

Wenn eine Perle kommt, macht man seine Kleine nicht mit drängendem Knie darauf aufmerksam, sondern man drückt ihr nur leise und zärtlich die Hand.
12.Juni 1924 (Donnerstag)


42

Besucher und Briefschreiber - Moderne Badekostüme - Das Brautomobil - Im Hippodrom im Lunapark - "Rote Klaue" - Überall Lotteriegewinne - Man wird höflich - "Miez, die Geschichte einer Katze" - Fußball bei Kronprinzens.

In Ostpreußen, so schreibt uns Tante Malchen, sei das Gerücht verbreitet, daß ich gestorben sei.

Das Gerücht ist, glaube ich, stark übertrieben, möchte ich mit Mark Twain sagen.

Wahrscheinlich hat sich irgendeine Marjell von dort, so ein langbeiniges Stutfüllen, das vergnügt und albernd durch das Leben stolpert, darüber aufgehalten, daß ich nicht sofort ein Ulkbriefchen beantwortet habe, und hat mich dann totgesagt. Schade, daß ich nicht in Lenkeningken oder Kallinowen wohne; da schriebe kein Mensch an mich. Wenn man in Berlin wohnt, dann hat man häufiger, als einem lieb ist, Tante Malchen als Logierbesuch, muß man für Durchreisende Theater- und Reichstagskarten besorgen, kriegt man alle Tage einen Packen Briefe. Herrschaften: ich kann nicht mehr! Gerade bin ich bei der Lektüre eines fünfaktigen Dramas, das eine Dame aus Hamburg mir zur Beurteilung zugeschickt hat; leider hat es so viele poetische Schönheiten, daß ich es nicht nach den ersten Szenen zuklappen konnte. Ein junger Herr wünscht von mir die Vermittlung eines einjährigen freien Studienaufenthaltes in Berlin, ein anderer wünscht auf Grund einer Anzahl "selbstverfaßter" Lokalnotizen in einem Wochenblättchen durch mich eine Anstellung in Berlin. Es liegen noch kiloweise unbeantwortete Briefe bei mir. Gewiß, es ist roh und herzlos und taktlos, das zu sagen, und manch ein Marjellchen, das mir bisher irgendeine allerliebste Plauderei geschickt, wird nun entsetzt abrücken und mich auch zu den Toten werfen. Aber - ich kann wirklich nicht mehr. Ganz im Vertrauen will ich es gestehen, daß ich, ohne daß (zum Glück) jemand draußen im Leserkreise etwas davon merkte, böse auf der Nase gelegen gabe, mit Herzknacks und so, daß ich schon dachte, da, das ist das erste Läuten. Beim dritten muß ich plötzlich abfahren.

Und nun will auch noch Tante Malchen herkommen. Auf der Durchreise "für ein paar Tage", um dann, zum erstenmal wieder seit vielleicht fünfundzwanzig Jahren, an die Nordsee zu gehen. Und dort - wahrhaftig - zu baden. Dazu will sie, da ich doch Geschmack hätte, mit mir zusammen hier ein Badekostüm aussuchen. Mein Gott: wie sag' ich's meiner Tante? Was sie Badekostüm nennt, das gibt es seit vielleicht zwölf Jahren nicht mehr. In ihrem Sinne "dezent" sind die heutigen Badekostüme allenfalls oben, weil da die meisten der heutigen Damen - sowieso nichts zu zeigen haben. Im übrigen sieht ein Badekostüm heute aus wie das Kostüm einer Parterre-Akrobatin im Varété: mit der anatomischen Sicherheit eines Fleischermeisters sind die Oberschenkel völlig aus dem Kostüm herausgeschält, so daß keine zwei Quadratzentimeter Oberschenkel etwa durch Stoff verdeckt den Blicken entzogen werden.

Solch ein Kostüm besitzt natürlich jede junge Berlinerin, die etwas auf sich hält, auch wenn sie im Sommer nicht an die See geht. Sie nimmt das Kostüm in den Rucksack, in dem außerdem noch allerlei für ein Mahl im Freien verstaut ist. Dann sitzt sie auf dem Motorrad hinten auf und knattert mit ihrem jungen Mann irgendwo in die Mark Brandenburg. Irgendwohin, wo das Luftbad im modernen Badekostüm nichts kostet, nicht einmal Polizeistrafe. Diese Motorräder, die manchmal schon um 4 Uhr morgens die umwohnenden Philister aus dem Schlafe donnern, nennt man in Berlin Brautomobil. Es ist nicht allzu schwierig, eine Braut für sich mobil zu machen, wenn man ein Motorrad besitzt; im Notfall hilft eine kleine Anzeige in einer Zeitung, daß man einen fröhlichen Sportkameraden suche, "Geldinteressen ausgeschlossen". So morgens vor Bureaubeginn oder nachmittags nach Bureauschluß in die Gegend zu sausen, ist jedenfalls besser, als nachmittags und abends in der Kneipe oder viermal wöchentlich in der Shimmydiele zu sitzen. Die Breeches vom Wintersport her und die Windjacke sind, wenn man den Hintersitz auf einem Brautomobil angeboten bekommt, sehr gut zu verwenden. Es muß natürlich auch anders gehen. Im flatternden Sommerkleidchen über langen Seidenstrümpfen. Dann aber shen die jungen Damen nicht mehr dezent aus, sondern wie ein Modell für indezente Witzblätter.

Aber sie genieren sich gar nicht mehr. Den Reitsitz sind die Damen gewöhnt.

In dem großen Hippodrom in dem Berliner Edelrummel am Halensee, dem Lunapark, gibt es nicht einmal Damensättel mehr. Schadet nichts. Rock hoch, Bein hinüber, schon sitzt man. Die Musik spielt die Donauwellen oder den Hohenfriedberger, die Pferde traben an, und die Damen, gelegentlich auch ein junger Mann, hopsen fröhlich ihre acht bis zehn Bahnrunden durch. Das Publikum rundum sieht sich die Seidenstrumpfbeine an, an denen das Strumpfband, das man bis in die Gegend seines oberen Anknüpfungspunktes verfolgen kann, immer stärker zerrt. Unmittelbar vor der Katastrophe bricht die Musik aber immer ab. Höschen und Röckchen werden wieder zurechtgezupft, alles ist in Ordnung, und alles strahlt.

Reiten ist sehr gesund.

Das weiß auch der Gent, der derweil bei einem Glase Bier außen an einem Tischchen sitzt, und bezahlt seiner Dame gern ein paar weitere Runden.

Aber das ist nicht die Hauptsache in dem Hippodrom. Dann könnte es auch mit samt seinem befrackten Stallmeister und seinem pausbäckigen Clown-Ausrufer irgendwo in Lychen oder Freilassing stehen. Nein, die Hauptsache ist die Wildwesttruppe, die darin auftritt. Ihr Chef, der als Kunstschütze den anderen die Zigarette aus dem Munde schießt, nennt sich ehrlich deutsch Willy Daberkow, bekennt, daß er aus Pommern stammt, und erklärt: "Was die Amerikaner können, können wir allemal!" Unter seinen Gefolgsleuten hat er einige mexikanische Cowboys, die gut Spanisch, nur gebrochen Deutsch sprechen, und dann vor allem (schweig stille, mein Jungenherz!) die "Rote Klaue", den Mr. Redclaw, einen echten Indianer aus Wisconsin. Mir machen die richtigen Mocassins, die er anhat, die benähten Hosen, der Adlerfederschmuck keinen besonderen Eindruck, aber Augen hat diese Rothaut, Augen, so blau und meerestief und so ins Unendliche schauend, wie ich sie bisher nur bei blonden Friesen sah, und nicht unter kupferbrauner Stirn mit straffem Schwarzhaar. Diese Augen haben hier noch etwas Eigenes, sie sind traurig und müde; und traurig und müde, etwas zusammengesunken auf dem Sattelknopf, sitzt der Alte - leise gesteht er es mir ein: 50 Jahre - auch zu Pferde, nur daß er beim Lassowerfen auflebt und im Handumdrehen mit kunstvollen Schlingen um Kopf oder Bein ein Pferd eingefangen oder einen Menschen gefesselt hat. Er kann kein Wort Deutsch. Er ist schon zwei Jahre in Europa. Er kann nur Englisch. Ich habe sein Herz gewonnen, weil ich ihm eine von meinen liebsten Riesenzigarren, die sonst nur für fürnehme alte Herren aufgespart werden, eine "Deutsche Krone" geschenkt habe, die er mit Wonne schmaucht, mit einem langen Dankesblick empor zu dem Gottvater Manitou, der das Herz des Bleichgesichtes so gut gelenkt hat. Ich frage ihn, ob es ihm hier gefalle; die übliche dumme Frage. Traurig antwortet er: "Nein." Nun frage ich ebenso dumm weiter, warum er denn hier sei. Und mit einem schmerzlich tiefen Wurf seiner Augen, als wolle er meine Seele loten, flüstert er mir schamhaft zu: "Man muß doch essen!"

Das ist wörtlich dieselbe Antwort, die vor 20 Jahren der Burengeneral Cronje dem Schriftsteller Willem Schürmann aus Rotterdam gab. Der war zur Welt-Ausstellung nach St. Louis gefahren und sah dort zu seinem Entsetzen, daß Cronje auf dem Rummelplatz in einer Buren-Show auftrat. Man muß doch essen! Die Vorfahren der Roten Klaue hatten dazu Präriebüffel in Menge, er aber kriegt sein Kantinenfutter und sein bißchen Tabak für die Friedenspfeife von einem pommerschen Unternehmer zugemessen, dessen Kassiererin er vorher mit sieben Schlingen seines Lassos durch Wurf aus der Ferne verschnürt hat. Und das immer wieder, sieben Stunden hintereinander.

Merkwürdig, daß Rote Klaue noch nicht Hauptgewinn irgendeiner Lotterie ist. Auf Schritt und Tritt - die Verlockung scheint notwendig zu sein - gibt es etwas zu gewinnen. Schon die bloße Eintrittskarte, die 75 Pfennig kostet, ist gleichzeitig ein Los, das alle paar Tage ein neues 6/20 Aga-Auto dem Gewinner "in den Schoß wirft". Kauft man für weitere 75 Pfennig im Kiosk der "Werbespende deutscher Firmen" irgendeine Kleinigkeit, so kann man ein Schrankgrammophon oder eine Korbmöbelgarnitur oder sonst etwas gewinnen. Ein Affe, ein Papagei zieren eine andere Lotterie. Es ist schier märchenhaft, wie viele Glückstonnen nicht nur im Lunapark, sondern in ganz Berlin winken, und was man schon alles als Draufgabe kriegt: die Dame ein Fläschchen Duft, das Kind einen kleinen Luftballon, der Herr ein Feuerzeug. Jetzt ist kein Bund "pro gentilezza" mehr nötig, jetzt in der Zeit der großen Geldknappheit werden alle Leute ganz von alleine ungemein höflich, und wenn du im Warenhaus einen Kücheneimer kaufst, wird dir sofort gesagt: "Damit brauchen Sie sich nicht zu schleppen, das schicken wir selbstverständlich zu!" und zwei Tage darauf hast du den Eimer gebührenfrei sogar in 36 Kilometer von Berlin entfernten Vororten.

Die Zeit, wo man das Geld wegwarf und verachtete, ist vorüber. Man kämpft wieder um das Geld. Sämtliche Winkeldichter der Reichshauptstadt müssen Verse schmieden, die zu Reklameanzeigen dienen. Ein Geschäft überschreit das andere. Und jedermann gibt sich wieder unendliche Mühe um den Kunden.

Mitunter erlebt man zufällig ganz in seiner Nähe solche harte Arbeit. Ich sehe aus dem Fenster über den Hof. Drüben auf dem Dache unserer Mietskaserne stehen nicht weniger als 11 Leute beider Geschlechter in weißen Werkstattkitteln und ziehen sich Boxerhandschuhe an. Komische Sache. Ich darf in einem fahrstuhllosen Hause noch keine Treppe steigen, aber wir haben ja Fahrstuhl, und wir wohnen ja hart unter dem Dache. Also auf und hinüber! Und siehe da, ich treffe dort den Dichter und den Operateur (nebst Hilfskräften) des neuesten Tierfilms: "Miez, die Gechichte einer Katze." Die Dächer sind nun mal Hidigeigeis Liebesparadies und für das ganze Katzenvolk der Erholungspark. Die Umgebung für den Film ist also echt. Die Boxhandschuhe sind notwendig, denn Minka, die Katzenmutter, hat sehr scharfe Krallen. Auch dem schön getigerten Filmstern selbst, wie Filmstars überhaupt, ist nicht zu trauen. Das Filmen einer Szene sehe ich mir an, den Zweikampf der beiden Nebenbuhler des Stückes auf einer Brandmauer. Vor der Mauer wird gekurbelt. Hinter der Mauer steht ein Gehilfe, der zwei Kater je an einem Bein, doch so, daß man die Hand vom Photographen aus nicht sieht, festhält, die Kater immer mehr aneinanderdrängt und im letzten Moment so gemein zwickt, daß sie aufschreien und sich zu beißen und zu balgen beginnen, daß die Wolle nur so stiebt. Entzückend soll es sein, wie Minka ihre Kleinen das Mäusefangen lehrt. Gewöhnliche graue Hausmäuse gibt es nun nicht zu kaufen, aber die Filmgesellschaft, Lichte u.Co., wußte sich zu helfen: sie kaufte weiße Mäuse und färbte sie grau. Nun stehen Tag um Tag die 11 um ihre Käfige auf dem Dach herum und lassen, sobald das Licht gut ist, Szene um Szene spielen, von Miezes Kindheit an, wo sie noch von der Mutter im Maul die Treppe hinuntergetragen wird, bis zu der Zeit, wo Mieze mit einem Seidenbändchen um den Hals bei einem alten Fräulein sitzen darf, während ihre Mutter Minka eines vorzeitigen gewaltsamen Todes verblich und als Wärmefell zwischen den Schultern eines rheumatischen Greises ihre "jenseitige" Aufgabe erfüllt. Das habe ich mir wirklich einfacher vorgestellt. Als im vorigen Sommer im Meeresmuseum in Helgoland eine junge Dame, deren Lebensberuf das ist, allabendlich bei stärkstem Licht die Quallen filmte, wie sie mit ihren wundervollen Dessous und Volants da wedeln, oder einen Hummer, der sich als Raubritter in einen Hinterhalt für fahrende Wassergesellen legt, so fand ich das sehr leicht. Aber die Katzen, die sind unberechenbar. Im besten Moment wenden sie - Achtung, Großaufnahme - den Kopf ab; oder, wuppdich, springen sie überhaupt davon. Ungezählte Meter Filmband werden umsonst belichtet. Immer wieder muß eine Szene von neuem gespielt werden. Die Mittagspause fällt aus. Man ist rußig geworden. An einem Tage sind die Kater zu friedlich, an einem anderen fehlt den Katzen die Jagdlust. Auch beim Film ist das Geldverdienen nicht immer bequem, wie ich hier auf dem eigenen Dache sehe.

Leider ist es ein Großstadtdach. Man seht sich so nach roten Ziegelpfannen in frischem Grün. Aber nicht einmal nach Potsdam habe ich in der Fliederzeit hinausfahren dürfen, die dort vom Stadtschloßweiher bis zur Alexandrowka noch schöner ist als die Magnolienzeit. Vor Pfingsten, noch während der Schulzeit, hatten dort im Cecilienhof die drei jungen Zollernprinzen wieder die Freude, den Vater einige Tage bei sich zu sehen. Das ist auch für die ganze weitere Umgebung eine Freude. Eines Sonntags nun sagt der Kronprinz mitten in der Nachmittagswärme: Kinder, seid nicht so stieselig, jetzt wollen wir mal Fußball spielen! Einige schüchterne Einwendungen werden gemacht; man habe doch seine Sonntagskluft an, lange Hosen und Halbschuhe mit Lackspitzen. Macht nichts. Los. Also die Prinzessin Salm, die kann nicht so herumspringen, die mag Torwächter sein. Alle anderen Hausgenossen werden Stürmer. Der Rasen ist nicht geschoren, sondern lang, man verheddert sich, man stürzt, man lacht, man scherzt. Inzwischen haben Hunderte von Ausflüglern am Zaun haltgemacht und gucken zu.

"Du, Wilhelm," sagt der Kronprinz zu seinem Ältesten, "geh' doch hin, die Herrschaften sollen nicht so faul zugucken, sondern lieber mitspielen!"

Der Prinz Wilhelm geht also hin und lädt zum Mitspielen ein. Eine kurze Verlegenheitspause. Dann bringt einer - ein Hurra auf den Kronprinzen aus. Es wird dreimal aufgenommen. Aber niemand rückt und rührt sich. Das ist typisch für Deutschland; in England hätten sich die Leute nicht solange besonnen. Der böse Deutsche bricht immer aus dem Gefängnis aus, der gute Deutsche bricht immer in ein dreimaliges Hurra aus. Nun geht der Kronprinz selber bitten. Da lösen sich schließlich 10 junge Leute aus dem Haufen, einer knallt die Hacken zusammen, sagt: "Es wird uns eine Ehre sein!" und dann spielen sie mit, und das ist der vergnügteste Nachmittag, den es in dieser Zeit fünf Meilen im Umkreis gegeben hat.
19. Juni 1924 (Freitag)



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts