"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 31 - 33
3. bis 17. April 1924


31

"Die ohne" - Spitzenmesse - Schwänzelnde Mannequins - Der Lippenstift nimmt überhand - Immer noch Maskenbälle - Wahlbewegung einst und jetzt - Überall Fridericus.

Die Männer haben gut reden, daß sie fünf Jahre lang, während des Krieges, von aller Lust der Erde ausgeschlossen waren. Was sind fünf Jahre im Leben eines Mannes ? Unwiederbringlich verloren sind die Jahre nur im Leben der Frau. Der Mann kann schließlich mit ein paar Sprüngen den verpaßten Anschluß noch einholen, aber das junge Mädel, das Ende 1914 seinen Eintritt in das Wunderland der Erwachsenen feiern wollte, mußte seine Jugend einpacken und fand sich nach dem Kriege und nach den Notjahren seither als Verblühte wieder; oder sie war es wenigstens nach Ansicht der inzwischen herangewachsenen neuen Generation. Es sind liebe, prächtige Mädel darunter, tüchtig im Beruf, tüchtig im Hause, aber es fehlt ihnen das, was die Mütter hatten: ein paar Jahre der holden, sorglosen Vollentfaltung im Elternhause noch vor dem bitteren Lebensernst. Stärker als anderswo prägt sich das in der erbarmungslosen Großstadt aus. Ist es ein Wunder, daß diese Übergangenen sich noch jetzt erst recht zu aller Lust der Erde drängen ? Dem Besucher Berlins, dem Ausländer wie auch dem deutschen Kleinstädter fällt es auf, wie selbständig unsere Damen ihr Vergnügen suchen. Die ohne. Die ohne Mann nämlich. Früher gingen sie um den Mann auf die Sommerreise oder zum Wintersport, früher zogen sie sich für den Mann - vielmehr: gegen die anderen Frauen - gut an; heute arrangieren sie unter sich um ein Billiges die weitesten Ausflüge und sind selber in die eigene Gewandung verliebt. Wer früher auf den Mann verzichtete, der verzichtete gewöhnlich darauf, sich auch selber weiter noch zu schmücken. Inzwischen sind wir ein armes Volk geworden; aber auf den Straßen Berlins kann man es - und das gilt von allen Volksschichten - täglich mit Verwunderung feststellen, wie sehr die Pflege der äußeren Erscheinung seit der Vorkriegszeit bei unseren Frauen und Mädchen zugenommen hat.

Wenige Jahre vor dem Kriege, oder gar erst im Jahre davor, hatten wir in Berlin die erste Ausstellung, die ganz der Frau gewidmet war. Sie hieß: "Die Frau in Beruf und Haus." Man nannte sie aber: "Die Frau in Saus und Braus." Es war eine Sache für sehr anspruchsvolle Gesellschaftsschichten. Kleinere Ausstellungen befaßten sich nicht mit dem, was die Frau brauche, sondern was ihr Geschmack uns anderen zu bieten vermöge. So lockte "Der gedeckte Tisch" die Besucher, die dort die Hochzeitstafel, das Jagdfrühstück, den Geburtstagstisch für ein Enkelkind und Dutzende anderer liebevollen und künstlerischen Wettbewerbe sich ansehen konnten, an denen, irre ich nicht, Frau Admiral Dick und die Frau Kronprinzessin sich mit besonderem Erfolge beteiligt hatten. Heute nennt man das Neueste: "Die Spitzenmesse". In allen elf großen Gesellschaftsräumen des Zoologischen Gartens drängt sich seit einigen Tagen die Fülle der Besucher, um hier einmal in das Reich der Frau hineinzusehen, und neun Zehntel aller Besucher sind Frauen; meist - die ohne. Spitzen sind so verführerisch für Weiberherzen wie nur irgendein köstlicher Schmuck. Spitzen sind auch eine volkswirtschaftlich ganz ernste Sache; wenn die Plauener Industrie, die hier im Zoo den ganzen Kaisersaal belegt hat, in unserer tollsten Inflationszeit nicht Indien als Absatzgebiet gehabt hätte, wäre sie wohl gar untergegangen. Jetzt findet sie wieder deutsche Käufer, kann den Wettbewerb mit Lyon, Calais, Brüssel, Nottingham gut bestehen und seit der kürzlichen Einführung der gewebten Spitze sogar für die große Masse die Konkurrenz völlig schlagen. Nun sind aber die Spitzen - auch aus Schlesien und anderen deutschen Landesteilen - nicht das einzige auf dieser Ausstellung. Die gesamte Konfektion ist da vertreten. Die keramische Industrie. Die Möbelindustrie ebenfalls, wenigstens aus einem Teilbereich der Frau; aus dem Schlafzimmer und dem Speisezimmer. Auch das Kunsthandwerk auf allerlei Gebieten bis zu den kapriziösesten Bucheinbänden herunter und bis zu Kinderspielzeug, das so expressionistisch ist, daß die Kinder schon expressionistisch geboren werden müssen, um es überhaupt zu kapieren. Ich bin mehr als einmal dagewesen, und mehr fast noch als die Ausstellung selbst fesselte mich da das Publikum. Man sollte meinen, nur mondäne Damen dort zu treffen, aber bis zu der derbsten Frau aus dem Volke ist da alles vertreten, - denn alles drängt mit fiebernden Sinnen nicht nur nach geschmackvollen Hüllen für sich selber, sondern auch nach Verschönerung aller Dinge des alltäglichen Lebens um uns herum. Der stolze Rückzug auf das Buch hat aufgehört. Man ist so sehr gebildet geworden in den letzten Jahren, aber auf einmal bricht die Eva-Natur wieder durch. Du lieber Himmel, wie verächtlich sprach noch vor einem halben Jahre, als die Papiermark ihrem Tiefstand sich näherte, dort drüben am Nebentisch meine alte gute Bekannte, wirklich eine Dame von Welt, über den "Tand" der Frauen - und nun ?

Sie kann Keyserling, Spengler, Tagore verdauen,
Ist klug wie Egeria die Nymphe,
Doch daß keiner die Nase nun über sie rümpfe,
Vom Blaustrumpf gar spreche mit Grauen,
Läßt als Offenbarung sie einzig uns schauen -
Zwei Beinchen und hauchzarte Strümpfe.

Es ist ein furchtbares Gedränge in dem Saal, in dem die Modenschau stattfindet. in dem die Mannequins auftreten, die jungen Mädel der großen Schneiderateliers und Modellhäuser, die als lebendige und bewegliche Kleiderständer dienen. Männeckens, sagt der Berliner, obwohl sie weiblichen Geschlechtes sind. Früher mußten sie 44er und tunlichst Gelbsternfigur haben, ein wenig mollig und knusperig sein, aber das ist heute anscheinend verboten. Es sind magere Persönchen von einer geradezu präraphaelitischen Dürftigkeit der Formen, die hier einherschlenkern und schwänzeln, sich drehen und winden, die Robe nur um die Beckenpartie straff gespannt und im übrigen lose hängend; und wie sie sich dabei wiegen, das könnte man für Vorstudien eines orientalischen Bauchtanzes halten, wenn dieser Körperteil, den schon der wohlerzogene Engländer in seiner Sprache nie nennen darf, überhaupt vorhanden wäre. Es scheinen jedenfalls wesentliche Teile desselben zu fehlen, was man sonst als charakteristische weibliche Formen bezeichnet, auch die Büste gehört zu dem Verlorenen, und nur, wenn die Mannequins zuletzt, nachdem Straßenkleider, Gesellschaftskleider, Brautkleider gezeigt sind, in spinnwebdünnen seidenen Pyjamas kommen, schimmert allerlei Rosiges durch und hinterläßt uns das beruhigende Bewußtsein, daß Bubifrisur und Bubikragen und Kittelchen und Hängerchen nicht alles Weibliche eskamotiert haben. Quer durch den ganzen Riesensaal geht ein langer teppichbelegter Tisch, auf dem die Mannequins dahertänzeln. Für die Männer sind sie keine Augenweide, aber die Frauen und Mädchen verschlingen sie mit ihren Blicken, denn jedes Kleid, auch das "erreichbare" für knappe Geldbörsen, ist in sich ein Wunder für die ausgehungerte Frauenwelt. Sie wird es nie verstehen, daß unsereins - mehr sehen will; daß wir vor allem auch im Gesicht einer Frau lesen möchten. Aber wir sehen ja wegen der modernen Hüte meist nicht einmal die im Kernschatten liegenden Augen, Ohr und Wange sind auch von Haarbüscheln verdeckt, und so bleibt uns nur die Nasenspitze und darunter der giftigrote Karminklecks, den der Lippenstift gezogen hat, dieses übelste Toiletteninstrument, das die Welschen uns beschert haben. Früher war es für die Auslandsdeutschen eine Erholung, wenn sie aus irgendeinem Lande der geschminkten Luder einmal heimkamen und in Berlin wieder deutsche Mädchen in ihrer natürlichen Reinheit sahen, ohne die erotische Vortäuschung blutiggeküßter Lippen, aber wenn man heute die Tauentzienstraße entlanggeht, glaubt man wirklich auf dem Boulevard Huysmans zu sein und wendet sich voll Widerwillen ab.

Das hier im Zoo ist eine Modenschau für alle Stände; Eintritt "nur" 7 Rentenmark, wofür es noch Kaffee und Kuchen gibt. Aber Modenschauen überhaupt bis zu den "exklusivesten" gibt es jetzt alle Tage in irgendeinem Saal oder Theater Berlins. Da tragen nicht mehr Mannequins, sondern Schauspielerinnen die Kleider Reklame. Und etwas "ganz Feines" hat der Kurfürstendamm sich für das Hotel Esplanade an diesem Sonnabend ausgedacht, wo man 25 Mark bezahlen muß, wenn man von weitem, und 100 Mark, wenn man ganz nah Anita Berber bewundern will, eine in die übelsten Skandale verwickelte Tänzerin, die sogar die gewiß nicht prüden Wiener im vorigen Jahre ausgewiesen haben. Sie wird, fast hüllenlos, als Göttin Astarte erscheinen. Einen Wolfshunger haben gewisse Kreise auf dergleichen. Auch die Kostümbälle reißen ja immer noch nicht ab, obwohl der Aschermittwoch schon drei Meilen hinter uns liegt. Der kostbarste fand in den glänzend "historisch" ausgestatteten Räumen einer Berliner Möbelfirma statt, allwo auch Frau Minister Stresemann als Herzogin von Ferrara Hof hielt. Es sind aber nicht etwa nur Neureiche oder Neuregierende, die in langentbehrter Lust nun schwelgen, sondern auch in den Stadtvierteln der kleinen Leute gibt es Jubel und Trubel über die Maßen. Ich habe diesmal keinen Maskenball in Berlin NO. besucht, wie noch vor zwei Jahren, aber bei mehreren Verleihgeschäften nachgefragt und dort erfahren, daß sie seit Menschengedenken nicht solchen Andrang hatten wie diesmal. Auch wurden nicht nur fertige Kostüme verliehen, sondern auch eigens bestellte angefertigt: ein Hallodri von jungem Feinkostkommis ging als "Schmetterlingssammlung" zum Ball, war über und über mit großen Batikfaltern besteckt und amüsierte sich und sein Publikum königlich damit, daß er die "Damens pieken" konnte, wenn sie sich vertraulich an ihn schmiegten.

Dieses selbe tolle Berlin aber, das in so tiefen Zügen den Becher der Lust wieder leert, geht mit einem verbissenen Ernst sondergleichen und doch mit leisem Lächeln - in die Wahlbewegung hinein. Von einer eigentlichen Bewegung merkt man freilich äußerlich noch wenig. Das war im Februar 1919 ganz anders. Da knatterten riesige Lastautos, mit zuchtlosem uniformiertem Gesindel besetzt, durch alle Straßen, und in ganzen Stößen wurden Flugblätter abgeworfen und lagen da in schmutzigen Haufen. Leute mit umgedrehtem Karabiner trugen rote Fahnen einher, und eine rote Fahne flatterte auch über dem Hauptquartier Eberts und Scheidemanns und des Exhibitionisten Emil Barth. An den Häusern pappten Wahlaufrufe, überschrieben "Genossen!" und unterzeichnet "Die Reichsregierung." Partei oder Regierung: unter Brüdern ganz egal. Die Säulen des Brandenburger Tores aber waren ganz verklebt mit den alten Versprechungen von Freiheit, Friede und Brot. Noch haben wir Knechtschaft, mehr denn je, und Krieg, noch schmachten 1300 Ruhrdeutsche in französischen Gefängnissen, noch ist "Maulhalten" für jeden Gegner der Republik - sonst kommt er vor den Staatsgerichtshof - die erzwungene Parole; und was das versprochene Brot anlangt, so wissen zweimalhunderttausend hungernder Kleinrentner und abgebauter Beamten, was daran Wahres ist. Selbst der letzte Arbeiter spürt seit Monaten den Ruck ins Gebiß, das Wiederanziehen der Kandare, weil die Weisheit seiner Regierenden am Ende ist; einer steht immer hinter dem anderen mit der Peitsche, der Steiger hinter dem Kohlenhäuer, der Unternehmer hinter dem Steiger, der Staat hinter dem Unternehmer, der Franzose hinter dem Staat und karbatscht das letzte aus ihm heraus. Nun soll die neue Wahl das Ende dieser fünfjährigen Politik des Irrsinns und der Futterkrippe für die Revolutionsgewinnler bringen, wobei das gesamte deutsche Volk der Verlierer war. Mit zusammengenissenen Zähnen und doch lächelnd geht auch der Berliner der Wahl entgegen; er weiß Bescheid, er braucht die sogenannte Wahlbewegung nicht mehr. Der Umschwung der Stimmung von 1919 bis heute ist mit Händen zu greifen. Wenn im Zirkus Busch jetzt ein Manegenstück "Fridericus" aufgeführt wird, keine Pantomime, sondern ein Schauspiel mit lebendiger Rede, ein mäßig gebauter, aber herzlich gut gemeinter Wildenbruch zirzensischer Knalleffekte, lange nicht einmal so gut wie der Film, so gibt es selbst auf der obersten Galerie, wo doch wirklich nur "Volk" sitzt, keinen Widerspruch, sondern dauernden Beifall bei allen deutschen, nationalen Kraftstellen; und im Deutschen Opernhaus in Charlottenburg kommen den Leuten, auch denen im dritten Rang, die Tränen, wenn bei einer Regimentsfeier der Elisabether Carl Clewing die von ihm selbst bearbeiteten uralten Volks- und Soldatenweisen von 1530 und da herum singt, "Das Vaterland ruft mich", "Gott gnad' dem großmächtigsten Keyser frumbe" und "Kein schönrer Tod ist auf der Welt, als wer vorm Feind erschlagen". Wenn die Volksstimmung auch weiterhin hält, was sie heute verspricht, dann wird man einst die roten Überbleibsel in Deutschland mit dem Besen zusammenkehren können.
3. April 1924 (Donnerstag)


32

Rentenmark-Delirium - Der Oberlehrer darf nicht reisen - Nutzlose Tanzverbote - Im Prisma am Potsdamer Platz - Die Prinzessin im Brettl - Die Kolonie der Zarentreuen.

Hamerling ist schon lange tot. Aber wenn wir seinen Homunkulus vornehmen, die gewaltigste Zeitsatire, die je ein Dichter gesungen hat, so dünkt es uns, als konterfeie dieser Hamerlin das heutige Berlin. Solche Homunkuli und auch solche modernen Loreleien bewegen sich zu Dutzenden mitten unter uns. Sogar das Rentenmark-Delirium unserer Tage hat der flammende Poet schon vorausgesehen. "Jeder hatte Geld - weil jeder es hinauswarf", heißt es im dritten Gesange, in dem Homunkulus zum Goldbillionär wird und ein Festestaumel die Großstadt ergreift. Das ist es. Umlaufen muß das Geld. Mit vollen Händen ausgestreut werden. Der Konfektionär wirft der Barmaid ein Riesentrinkgeld hin, und sie legt es wieder in Konfektion an. Die Zeitungsschreiber rasen in Autos herum, und die Kutscher halten sich wieder eine Zeitung. Der Zigarrenhändler verwettet sein Geld beim Buchmacher, und der kauft sich wieder dicke Importen. So geht es tausendfach, man will leben und leben lassen, die Zahl der Privatautos hat die der Vorkriegszeit bereits überschritten - und nur die Fest- und Geringbesoldeten stehen abseits von dem ganzen Trubel, in dem unsere heutigen Regierenden die Chorführer sind. Man trinkt die Lebenslust in langen Zügen und wühlt mit den Händen in ihr. Die Rentenmark hat es vorläufig für eine Weile allen angetan. Das gute, das liebe gute Geld, das wertbeständige, das einem für anscheinend weniges doch buchstäblich alles erschließt.

Man gibt es aus, als sei es noch das aufgeblähte Nichts von 1923, das lächerliche Papiergeld. Die guten Jahrgänge unseres Rheinweins sind bald weggetrunken, der 1893er ist verschwunden, der 1921er bevorzugter Lagen auch nicht mehr auf dem Markt; und wenn Berliner Untersekundaner jetzt vor Ostern im Besitze des "Einjährigen" ihren Abschiedskommers feiern, dann muß Champagner dabei sein.

In dem korybantischen Treiben der Zeit erinnert sich die Demokratie ihrer Pflicht, offiziell in Ehrpusseligkeit und sittlicher Entrüstung zu machen. Selbstverständlich fährt man selber mit seiner Rentenmark auch ins Ausland. Marx war in Wien, Stresemann in Locarno, Noske in Pontresina, Scheidemann muß schon in "Vermögenssachen" hin und wieder Kopenhagen aufsuchen, andere Mitglieder der Großen Koalition sind in Holland, in Tirol, in Dalmatien gewesen; aber der demokratische Reichswirtschaftsminister Hamm zieht plötzlich offiziell eine Leichenbittermiene und erklärt alle Auslandsreisen, die für die seit 10 Jahren eingepferchten Deutschen jetzt vielfach ein geistiges Aufatmen sind, als eine Schädigung unserer Währung und belegt sie daher mit einem Tribut von 500 Mark, so daß fortan nur reiche Schieber sie sich noch leisten können. Der Erlaß bezeichnet es als unerhört, wie von Deutschen im Auslande geschlemmt werde. Nur im Auslande ? Von gewissen Leuten doch auch daheim; und ganz gewiß nicht von dem Gros der Auslandsfahrer, die heute vielleicht nur deshalb dorthin gehen, weil es im Inlande zurzeit - viel teurer ist. Haben die demokratischen Witzblätter nicht seit Jahrzehnten den deutschen Oberlehrer verhöhnt, der nur mit Wollhemd und Rucksack über die Alpen pilgere und jenseits mit jedem Groschen knausere ? Von diesen Verketzerten aber stammt ein gut Teil des Idealismus und der Begeisterung für die Antike, auch für antike Vaterlandsliebe in den Herzen unserer Jugend. Es ist überhaupt sinnlos, den Reiseverkehr nach dem Auslande aus Valutagründen drosseln zu wollen, wenn man gleichzeitig allein im Monat März für 12½ Millionen Goldmark Apfelsinen und Bananen und andere Südfrüchte in Deutschland einführt, für 21 Millionen Goldmark französische Alkoholika und allerlei Weibertand. Gehört nicht auch das zu den "entbehrlichen" Dingen ? Da sitzt in einem Vorort von Berlin ein Pfarrer, der während des Krieges beinahe buchstäblich verhungert wäre, weil er redlich nur auf das Markenquantum an Nahrung sich zu beschränken versuchte und auch nachher Schmalhans bei sich als Küchenmeister sah. Er hat sich mit Mühe und Not insgesamt 240 Mark erspart und wollte dafür die Sehnsucht seines Lebens aufsuchen: Italien. Das ist ihm nun verdorben. Aber sein Nachbar, der während des Krieges mit Hufstollen, Margarine, Salvarsan und Kautschuk schob, wirft natürlich für sich und Frau und Tochter protzig dem Finanzamt 1500 Mark auf den Tisch und saust im Auto ab.

Die gleiche Heuchelei haben wir ja bereits bei den sogenannten Tanzverboten erlebt. Unsere republikanischen Ministerfrauen - wenigstens die schlanken unter ihnen - foxtrotten unentwegt und machen die kostbarsten Maskenfeste mit, aber das "Volk" mußte natürlich zur Zurückhaltung ermahnt werden. Man gab den vierten öffentlichen Tanztag in der Woche frei; aber nur gegen ein Lösegeld zu wohltätigen Zwecken, so daß die Behörde sich selbst zu einem Ablaßkrämer Tetzel macht. Solange die Welt steht, waren alle derartigen Einschränkungen erfolglos. Der Tanz läßt sich noch weniger verbieten als die Mode, denn das pulsende Blut treibt in ihn hinein:

Das ist die Macht des Rhythmus,
Daß unwillkürlich jeder mit muß, -

selbst wenn er heute graue Haare hat und doppelte Großmutter ist, aber noch über einen biegsamen Körper verfügt. Im Prisma am Potsdamer Platz sitzt solch eine Dame neben mir, unbedingt eine Dame der guten Gesellschaft, und steigt doch mit ihrem, sagen wir, Neffen ins Parkett hinab, in das elegante große Zwölfeck, und kreist unermüdlich in dem feierlichen und leichten Zeremonialschritt der modernen Tänze umher. Zwei Tische weiter aber sitzt ein rundes junges Pummelchen in ihrem besten himmelblauen Seidenkleid von 1919 da und wird von ihrem Begleiter ebenfalls hinabgeführt, einem baumlangen alten Herrn mit Kegelkugelkahlkopf, Monokel und vergnüglicher Burgundernase. Hinter mir eine Tafelrunde von Neureichs, die fabelhafte Weine schlemmen, aber gerade vorher erheblichen Krach gemacht haben, weil man auch von ihnen das Eintrittsgeld von 3 Mark verlangte, während sie, wie sie behaupten, "selbstmurmelnd" Anspruch auf Frei- und Ehrenkarten hätten; diese ganze Familie tanzt ebenfalls, daß die Säulen zittern. Auf der anderen Seite wiederum gute Gesellschaft, drei Jungmädels, schnittig, aber sehr schlicht angezogen, dünne schwarze Wollstrümpfe, blaues Kostüm, mit Bruder oder Vetter; alle vier sicher von einem Rittergut. Die Besucher tanzen in den Pausen zwischen den Vorführungen der Prismakünstler mit Hingebung Boston und Milonga und Shimmy und was die Kapelle sonst noch bietet, mitunter sogar, man sieht es und man staunt, Walzer, damit die drei frischen Landpomeränzchen doch auch ihre Freude haben; aber wie die Leute tanzen, das ist eben bei den einzelnen Paaren himmelweit verschieden. Die Mehrzahl übertreibt die Hingebung, weil die Sitten heute eben ein bißchen lockerer sind als vor einem Menschenalter. Das Pummelchen scheint sich auf den Hüften ihres Tänzers häuslich niederlassen zu wollen. Die Damen Neureich aber, so umfangreich sie auch sind, markieren den Durchgang der Venus: sie pressen sich so an ihren Partner, daß ich schon fürchte, sie kommen demnächst zu seinem Rücken heraus.

Da ist es denn eine Erholung, nachher die Prinzessin Schachowskaja dieselben Tänze tanzen zu sehen, dieselben Pas, dieselben Wendungen, - und doch so ganz anders. Sie ist das große Lockmittel des Prismas. Ich habe schon manche tanzende Prinzessin in Berlin erlebt, ich meine, nicht nur nach dem Hofball im Hotel Esplanade, sondern im Variété, aber da war es doch geborene oder freiwillige Halbwelt, so die Prinzessin Pignatelli aus Sizilien oder die Prinzessin Chimay aus Belgien; nein, aus Amerika. Die Schachowskaja aber ist ganz Dame. Selbst ihre Urvorfahren, die als Wikinger mit dem Häuptling Rurik - im Jahre 862, glaube ich - nach Rußland kamen und es mit ihm beherrschten, brauchten nicht zu erröten. Mit 16 Jahren heiratete Prinzessin Schachowskaja einen wohlhabenden baltischen Edelmann, v.Hoven, der nach dem Umsturz in Rußland von den Bolschewisten ermordet wurde, weil er seine monarchistische Gesinnung nicht abschwören wollte. Auch mehrere Brüder Schachowskoj, Gardekavallerieoffiziere in Petersburg, hatten das gleiche Schicksal. Das Palais der Familie in Petersburg wurde ohne Entschädigung beschlagnahmt, ebenso ihre Güter. Mit Hilfe, wie es scheint, einer Scheinehe, vielleicht aber auch einer wirklichen, die die junge Witwe, die 3 Kinder hat, mit einem bürgerlichen Offizier, Umnow, alsdann verband, gelang ihr die Flucht aus Rußland. Jetzt singt sie - mit einer ganz netten, aber keineswegs bedeutenden Stimme, doch sicherem Vortrag - russische Volkslieder und tanzt darauf mit einem leidlich eleganten Partner - nicht etwa besser als andere, aber mit unnachahmlicher Dezenz - ein paar moderne Tänze vor diesem zahlenden Tingelpublikum. Aber so gemischt das Publikum auch ist: es beugt sich einhellig vor der tapferen Frau. Sie hat in ihrer ruhigen Vornehmheit etwas Zwingendes. Über dem hübschen offenen Gesicht das glatt gescheitelte, metallisch glänzende Haar, an beiden Seiten über den Ohren wie zu großen schwarzen Chrysanthemen aufgelockert; gewählte Toilette von erlesenem Geschmack; nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Schmuck; und bei dem Dank für den Beifall auch nicht ein Zentimeter zu viel Verbeugung. Die etwa 27jährige Prinzessin hofft durch dieses Schaustellen ihrer kleinen gesellschaftlichen Talente (mehr ist es ja nicht) und durch Gesicht, Figur, Namen auf dem Brettl oder auch hier auf der Tanzdiele sich so viel erwerben zu können, daß sie mit ihren Kindern nicht Not zu leiden braucht. Sie balanciert an Abgründen vorbei, in die Landsmänninnen von ihr längst gestürzt sind; ihrer dreitausendzweihundert sind, mit dem Wrangeltroß von Sewastopol nach Konstantinopel eingeschifft, schließlich nach einigen Jahren der Not und der Qual in den Kuppelquartieren Galatas gestrandet, Fleischfutter für betrunkene griechische Matrosen und levantinische Schmuser.

In Berlin sind uns ähnliche Bilder erspart geblieben, hier gab es dank der höheren Stufe der Zivilisation doch andere Erwerbsmöglichkeiten, hier geht die große russische Kolonie meist tüchtiger Arbeit nach. Die Russen sind nicht wie die Valutarier anderer Länder aus Berlin verschwunden. Ihre Sprache dominiert noch in zahlreichen Straßen des Westens. Sie haben ihre Buchhandlungen, Bäckereien, Restaurants, Kunstwerkstätten, Variétés, Schulen und Kirchen. Die russische Oberrealschule nebst Internat ist in einem ehemaligen Magdalenenheim in der Nachodstraße untergebracht, einem düsteren, gefängnisartigen, verwahrlosten Gebäude, in dessen vielen kleinen Zellen einfachste eiserne Feldbetten mit je einem Strohsack darin für die Kinder der zarentreuen Emigranten stehen. Diese selber, von denen nur wenige ein Vermögen etwa in englischen oder amerikanischen Industriepapieren herübergerettet haben, leben mitunter so gut wie von nichts. Der frühere russische Minister General Suchomlinow, der bei uns ohne weiteres ein Asyl gefunden hat, obwohl er zu den wenigen wirklichen Kriegsurhebern gehört, hat lange Zeit in einem Keller gehaust und war doch glücklicher hier als nach der Revolution in Petersburg, wo er auf der Straße Kinoprogramme verkaufte. Der General Bibikow ist in der Schaperstraße Nachtwächter und zugleich Rechnungsführer in einem russischen Restaurant, während seine Frau, die geläufig vier Sprachen spricht und schreibt, durch Übersetzen etliches hinzuverdient; ihre drei Kinder bekommen in Misdroy in der Baltenschule das Brot der Barmherzigkeit. In dem Restaurant "Kulinar", in dem man nur Russisch (oder die zweite russische Umgangssprache: Französisch) hört, herrscht kein Luxus, denn es ist nicht für besichtigende und lorgnettierende deutsche Bankiersgattinnen geschaffen, sondern eben für russische Emigranten. Einen guten Schtschi (Sauerkrautsuppe mit Rindfleich darin), ein paar Bitotschki und Nachtisch gibt es für 1,20 Mark, ähnliche russische Hausmannskost wird von der russischen Bedienung täglich serviert, und daß einer der Mittagsgäste ein Glas Bier oder eine Wodka dazu trinkt, ist selten.

Natürlich ist das eine ganz andere Welt, als an den beiden anderen "russischen" Brennpunkten Berlins, dem bolschewistischen Unter den Linden und dem polnisch-jüdischen in der Grenadierstraße. Die Russen der guten, alten Gesellschaft, die jetzt in Charlottenburg und Wilmersdorf hausen, aber auch sonst in ganz Norddeutschland kleine Sprachinseln gebildet haben, fühlen sich hier geborgen nach all den Schrecknissen der Jahre von 1917 an und sind zwar nicht Herrn Severing, der sie gelegentlich zu kujonieren versucht, aber dem Geiste des unsterblichen preußischen Staates dankbar. Er war immer duldsam und die Zuflucht aller Verfolgten. Er, der vielgeschmähte, der reaktionäre, der Junkerstaat, hat doch Salzburgern und Böhmen und Waldensern und Refugiés und Emigrés eine Freistatt gegeben und "Ketzer" wie Leibniz und Fichte unter seinen Schutz genommen. Aus den durch ihn Erlösten haben sich nachher seine tüchtigsten Gewerbetreibenden, seine besten Literaten, Doktoren, Generale rekrutiert, denn, freilich, er sah sich seine Leute zuvor auch an; und auch die Aufnahme der anständigsten Schicht Russen wird er nicht zu bereuen haben. Neuerdings herrschen im Staate Preußen freilich etwas andere Prinzipien. Neuerdings hat es die Tore weit aufgemacht nicht für um ihres Glaubens oder ihrer Gesinnung willen Verfolgte, sondern für Paß- und Geldfälscher und sonstiges Gesindel aus dem Osten, das heute noch vielfach in der Grenadierstraße sitzt, morgen vielleicht schon die echten Russen in Charlottenburg und Wilmersdorf zu verdrängen beginnt.
10. April 1924 (Donnerstag)


33

Was ist Bildung? - A posteriori - Vortragsleben in der Kleinstadt - "Der Deutsche Hinkemann" - Die Neuinszenierung der Nibelungen - Stinnes und der Optimismus - Im Banne des Rundfunks.

Nach dem siebenundzwanzigsten oder vierunddreißigsten Wohltätigkeitsfest dieser unbarmherzigen Saison sitzen wir, eine Gruppe, die nicht miteinander "verkehrt", aber sich immer wieder "trifft", aufatmend beim endgültigen Schlußmokka in einer Ecke zusammen und ich, der grundsätzlich stumme Nur-Beobachter, soll noch etwas erzählen. Also, es war einmal ein König, der sollte einen Sohn bekommen; und er wollte ihn Peter nennen. Nachher war es aber eine Tochter, und da nannte man sie Petersilie . . .

"Gehns, seins net fad!", sagt die kleine nette Schauspielerin, die aus Oranienburg in der Mark stammt, aber doch wienert, um ihre Talentlosigkeit unter Herzigkeit zu verbergen; jedenfalls hat sie damit größere Erfolge, als mit ihrem gelegentlichen Auftreten auf der Bühne. "Gott, wie altmodisch!", sagt ermutigt nun auch die Frau Ministerialrat, die in der vornovemberlichen Zeit, vermute ich, in Konfektion gemacht hat. Das ist wenigstens das einzige Gebiet, auf dem sie wirklich Bescheid weiß, und schon debattiert alles, die Herren eingeschlossen, über einen Umhang aus orange Samt mit weißseidenen Fransen. Von das geht's zur Massary und zu den Premieren und Dernieren dieses Theaterwinters.

Das ist Berliner Bildung. Ich bin ein ganz ungebildeter Mensch, denn ich habe einmal Crêpe Georgette mit Crêpe de Chine verwechselt. Frau Ministerialrat verwechselt nur Steinach und Einstein; das ist nicht halb so schlimm. Im vorigen Jahre wußte sie es noch ganz genau, aber "mein Gott, das ist doch vieux jeu!" sagt sie jetzt, und man stimmt ihr bei. In Berlin muß der Mensch der Gesellschaft immer nur darüber etwas wissen, "wovon man gerade spricht". Das ist in neun von zehn Fällen eine neue Operette oder ein neu ausgestattetes Modeschaufenster. Im zehnten Falle ist es Tutanchamon oder ein Meisterboxer oder eine technische Erfindung. Dazu kommen in geraumen Abständen die Hundertjährigen. Die vor hundert Jahren geboren oder gestorben sind. Frau Ministerialrat informiert sich über die Termine aus ihrem Abreißkalender und ist jeweils schon drei Wochen vorher nervös, in ihrer "Anläßlich-Stimmung", wie ihre Besucher es nennen. Anläßlich der Kant-Hundertjahrfeier am nächsten Dienstag hat sie auch schon unter der Hand bei dem und jenem Freunde des Hauses ihre Informationen eingezogen. Man will sich doch nicht blamieren! Und richtig, während sie das letzte Täßchen Mokka hebt, hat sie das Gespräch auch schon auf Kant gebracht, der unmittelbar auf die Samson-Körner-Debatte folgt. In Herrengesellschaften in Berlin wird ja zuweilen auch von Kant und Schopenhauer gesprochen, aber dann zu noch vorgerückterer Stunde, wenn das Thema Mikosch erledigt ist. Also man staunt. Frau Ministerialrat spricht wie ein Wasserfall von der "Stadt der reinen Vernunft", von der "Völkerversöhnung im kantischen Sinne", von "dem moralischen Gesetz in mir und dem gestirnten Himmel über mir" und blendet und brilliert und ist nur böse, wenn jemand sich mit Einwürfen in das Gespräch mischt. Als jemand von Gott als einem "Postulat der praktischen Vernunft" etwas sagt, wird sie einen Moment fassungslos; und als ich lächelnd mit dem ausdruck "a posteriori" hantiere, ist sie entrüstet, denn das hält sie für einen unanständigen Körperteil.

"Ich hätte wirklich mehr Ernst von Ihnen erwartet!"

Diese Rüge stecke ich demütig ein und tue so, als sei ich wirklich auf einer Verulkung ertappt; auf meine Diskretion in solchen Dingen können Damen sich stets verlassen, und was ich hier schreibe, kriegt Frau Ministerialrat doch nicht zu sehen.

Aber eine Sehnsucht packt einen da, aus Berlin hinauszukommen, eine Sehnsucht, die fast schmerzlich wird. Wie eine ferne, herrliche Gralsburg steigt die Mittelstadt, die Kleinstadt vor einem auf. Mag sein, daß die jungen Mädchen dort in Mullkleidchen mit gräßlichen Volants und Schleifen herumlaufen und rote Hände haben. Aber wie sorgsam wachen dort Familie und Umgebung über die Grundlagen ihrer Bildung, wie kennt man dort noch Eichendorff und Goethe und Hebbel, wie gewissenhaft ergänzen die Vorträge im Gewerbeverein oder in der Gesellshaft für Kunst und Wissenschaft oder im Bürgerkasino die Lücken! Es braucht nicht immer die Rede eines Weisen über die Philosophie des Alsob zu sein. Es genügt schon, daß man über die moderne Lyrik bis zu Stefan George, über den dritten Band Ludendorff, über Chamberlain und Spengler, über Beethovens Eroica, über Fernsprecher und Rundfunk, über den deutschen Freiheitskampf 1813, über den Expressionismus in der Bildhauerei, über Ludwig Richter und Moritz von Schwind, über Züchtungsprobleme im Kleingartenbau und andere Dinge Anregung erhält, die dann jedesmal 14 Tage lang, bis zur nächsten Veranstaltung, in gegenseitigen Gesprächen und unter Heranziehung aller einschlägigen Lektüre vertieft wird. Mir hat einmal ein Kleinstadtmädel mit zerarbeiteten, zerstichelten Händen, die Tochter eines pommerschen Superintendenten, das Lied von der "vielschönen gnädgen Fraue" aus dem Taugenichts von der ersten bis zur letzten Strophe aus dem Gedächtnis so rein und so klingend vorgesagt, daß ich in dem Augenblick auf alle manikürten Berlinerinnen für immer hätte verzichten können.

Nun neigt sich wieder einmal ein Berliner Kunstjahr dem Ende zu, wir schauen ernüchtert zurück und stellen fest, daß unsere Bühnen fast durchweg nicht für den Berliner arbeiten, in dem schließlich doch auch fünfzig bildungsfrohe und schönheitsdurstige Kleinstädter stecken, sondern für den Bummler und den Geschäftsreisenden aus dem Reiche, der in der Hauptstadt eine Sensation erleben und unbedingt Verblüffendes oder Gewagtes sehen will. Da haben wir zuletzt den "Deutschen Hinkemann" von Toller gehabt, eine frech internationale Verspottung deutscher Kraft, aber auch die Verspottung nicht aus Kraft geboren, sondern aus neurasthenischer Leitartikelei. Ein entmannter Mann, ein Mann, dem im Kriege das Geschlecht zerschossen ist, wird über die Bühne gezerrt. Das Jungchen Ernst Toller, der kleine Galizier, der sich in der Münchener Rätezeit als Student an die Spitze der roten Armee stellte, dann aber, als es Ernst wurde, sich seine schwarzen Locken schleunigst umfärben ließ und sich verkroch, wird als Held unserer Zeit nun ausgerufen. Und ist doch nichts weiter als krankhafter Auswuchs des unseligen November. Wie anders könnten da Hebbels "Nibelungen" auf uns wirken, dieser deutsche Zyklopenbau eines unserer Gewaltigsten, und da die Konjunktur, trotz aller krampfigen Versuche derer um Toller, nun einmal so ist, daß von Siegfried bis Fridericus alles Heldische wieer stürmisch verlangt wird, hat als Geschäftsmann der Intendant Jeßner die Nibelungen für das Staatliche Schauspielhaus neu einstudieren lassen. Leider nur als Geschäftsmann, der den zugkräftigen Titel übernommen hat, nicht als Künstler, der uns das Nordisch-herbe in der Brunhildsburg und das Sonnig-deutsche bei den rheinischen Burgunden vorführen könnte. Er kommt uns statt dessen kubistisch. Königspalast und Dom und Odenwald und Rheinebene, alles ist ein regelloser Haufe von feldgrau überzogenen würfelförmigen großen Kisten, aus denen sich nur gelegentlich die berüchtigte Treppe formt, die wir schon überwunden glaubten.

Vielleicht soll uns allmählich beigebracht werden, daß das ganze Leben eine Treppe ist. Oder vielmehr, volkstümlich ausgedrückt, eine Hühnerleiter. Viele dämmern in solcher Ansicht dahin und verlernen darob den Gebrauch ihrer Ellenbogen. Manch einer hat sich gar still aus dem Leben gedrückt, weil er glaubte, nicht nur er, sondern unser ganzes Volk sei dazu verdammt, stets auf der untersten Sprosse der Hühnerleiter zu hocken. Aber unter uns weilte bis vor wenigen Tagen ein Mann, der ganz anders dachte, der in einer Zeit der allgemeinen Wehleidigkeit, wo fast jedermann dem Mystizismus und der Schicksalsdeutung und der Prädestinationslehre verfällt, sich strahlend sagte: In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne. Das war Hugo Stinnes, der unerschütterliche Optimist. Kunststück, sagt ihr ? Kunststück, wenn einer so viel Geld hat? Es fragt sich aber doch, ob man mit Geld Optimismus oder nicht vielmehr mit Optimismus Geld macht. Und weiter: ob man Diener des Mammons ist oder Herr. Hugo Stinnes, der in einem "unmöglichen" alten Anzuge hier herumlief und erst im Alter von fünfzig Jahren sich seinen ersten Smoking bauen ließ, weil man ihn in Mailand oder London oder Rotterdam bei irgendeiner Zusammenkunft mit Industriekapitänen oder Staatsmännern schließlich doch brauchte, hat genau so einfach wie irgendein kleiner Beamter gelebt, nicht einmal ein Schloß oder eine große Villa bewohnt, weder im Essen noch im Trinken seinen Genuß gesucht, kaum je ein Theater besucht, nur gelegentlich in sehr kurzen Ruhepausen - seit seiner Schulzeit hatte er nie mehr Ferien - sich an einem bißchen guter Musik erfreut, in jeder Beziehung altväterisch schlicht für seine Person mit sehr wenigem hausgehalten; aber sein mannhafter Optimismus hat Berge versetzt. "Und wenn ich schon unter der Laterne mit der Schlinge um den Hals stünde, so würde ich nur denken, daß im letzten Augenblicke der Strick doch reißt." Ein Mann, der so sprach und so dachte, konnte es wagen, als der Staat zerbrach, die Wirtschaft als seinen Ersatz hinzustellen. Einer seiner besten Sätze stammt aus dem Reichswirtschaftsrat, wo er am 9. November 1922 in einer glänzenden Abfuhr für Georg Bernhard sagte: "Nur die Wehrlosigkeit ist verschieden gegen die Zustände, in denen wir uns heute befinden; und das allerdings will ich Ihnen sagen: die Wehrlust ist bei mir nie gebrochen gewesen!" Sie war es nicht bis zu der letzten Sekunde vor seinem Tode. Auf seine Anordnung hin erschienen seine Angehörigen bei der Leichenfeier nicht in Trauer, sondern in ihrem Alltagsanzug. Auf seine Anordnung hin erließ die Familie eine geradezu heroisch schmucklose Todesanzeige, in der nicht einmal das Eigenschaftswort gut oder lieb oder treusorgend vor dem "Gatten, Vater, Sohn" stehen durfte. Nur sich nicht unterkriegen lassen! Am Jüngsten Tage müssen wir von jedem unnützen Worte Rechenschaft ablegen; wirken müssen wir, solange es Tag ist. Hugo Stinnes ist in dem festen Glauben dahingegangen, daß unser Volk aus aller Not zu seiner früheren Größe wiedererstehen wird. Nur mit den Wehleidigen müßten wir zuerst aufräumen, mit den Nur-Pazifisten, mit den Nichts-als-Verständigungspolitikern. Stinnes war im vorigen Jahre für Aktivierung des passiven Widerstandes im Ruhrgebiet, war bereit, dazu seine eigenen Bergwerke zu ersäufen; und die ersten drei Überseedampfer seiner Reederei nannte er nach drei verketzerten großen Deutschen: Hindenburg, Ludendorff, Tirpitz.

Es wäre gut, wenn ein billiges Büchlein, passend für alle Volkskreise, uns diesen Mann als geistige Wegzehrung in den Kämpfen der Zeit gäbe. Manch einer risse sich dann vielleicht los vom Alltag und strebte diesem rücksichtslosen Durch-und-durch-Deutschen nach. Es ist so vieles, was uns von dem Eigentlichen abhält. Wir verstehen nicht die Kunst der Konzentration auf große Ziele, wie Stinnes sie übte, sondern suchen immer im Gegenteil nach Zerstreuung und Ablenkung. Das fürchterlichste Instrument dazu ist neuerdings der Rundfunk geworden. Ich wage kaum mehr, Familien aufzusuchen, in denen er zum Götzen geworden ist. Man tritt ein und sieht nur ein paar abwehrend erhobene Hände, die vornüberhängenden Gesichter mit den Horchklappen an den Ohren aber sehen so stier aus, als erwarteten die Inhaber im nächsten Moment einen furchtbaren Bergrutsch oder sonst eine elementare Katastrophe oder als müßten sie aus dem vierten Stock eines brennenden Hauses auf die Straße springen.

Dabei ist es ein komischer Vortrag, den sie sich schwitzend anhören.
17. April 1924 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

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Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts