"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 25 - 27
21. Februar bis 6. März 1924


25

Bloß kein "Ersatz"! - Der Fernseher kommt - Berliner Rundfunk - Zaungäste - Der Nibelungenfilm - Dir und Deutschland!

Seit dem fürchterlichen Kohlrübenwinter, der nun schon sieben Jahre hinter uns liegt, packt uns immer noch der Ekel, wenn wir das Wort Ersatz hören. Überhaupt Ersatz, Ersatz für alles Echte; nicht nur die Pülverchen, die sich Morgentrank oder Heldenfett oder Biolin nannten. Alles das mag ich nicht: Blumen aus Papier, Margarine, nikotinfreie Zigarren, künstliche Befruchtung, Papierschnur, Ski-Trockenkurse, Emulsionsmilch. Man hat eine wahre Sehnsucht nach dem Natürlichen. Wir haben zu Hause eine sehr schöne Caruso-Platte für das Grammophon, aber ich höre dazwischen immer Spülwasser rauschen, und wenn das hohe C herauskommt, klirren irgendwo mit feinen Stimmchen gemarterte Weingläser dazwischen. Ich werde den Eindruck nicht los, daß nicht Caruso singt, sondern eine mechanische Puppe. Ich kriege mitten in der schönsten Arie, holde Aida, die unwiderstehliche Lust, mir lieber von einem Wesen aus Fleisch und Blut einfach die chromatische Tonleiter vorsingen zu lassen.

Freilich, freilich, eine fabelhafte Sache ist es trotzdem um diese Erfindungen.Zu meinen unvergeßlichsten Erinnerungen gehören die Stunden, wo ich einmal Hindenburg und Ludendorff in Rede und Gegenrede vernahm, leibhaftig und Auge in Auge. Das Bild habe ich noch im Gedächtnis. Der Ton aber ist schon im Verwehen. Ich weiß nur noch, wie hell Ludendorffs Kommandostimme klang und wie grundgewaltig der beruhigende Baß aus Hindenburgs riesigem Brustkasten kam, so, als wenn schwere Kanonen über eine Brücke rasseln. Das möchte ich ganz gern auf einer Platte haben. Und noch vor der Platte würde ich gern hochgereckt stramm stehen. Das alles sind gewiß nur Ton-Konserven; sind wie die eingesargte Kunst, die in den Museen steht, statt auf der Akropolis oder in der Bauernstube oder im ägyptischen Tal der Könige oder in der Alhambra zu bleiben. Lebendiger ist schon der drahtlose Fernhörer und - der Fernseher, den wir auch bald haben werden. Auf einem kleinen Ozeandampfer wird der Steuermann krank. Ein Arzt ist nicht an Bord, nur ein Arzneikasten steht im Kartenhaus. Da funkt der Kapitän in die Welt hinaus um ärztlichen Beistand. Hundert Seemeilen querab meldet sich ein Lloyddampfer, man ist schnell im Bilde; wörtlich im Bilde. "Zeigen Sie mal die Zunge!" sagt der Arzt. "Schön, sehr schön; sagen Sie mal laut Ah!" Der Kranke tut's. "So, und nun das Stethoskop auf die Brust!" Es wird aufgesetzt, nur daß der Arzt nicht persönlich sein Ohr daranlegt. Das besorgt eine Art Mikrophon, es kommt die Verstärkung durch Elektronenröhren hinzu, und drüben auf dem Lloyddampfer, hundert Seemeilen querab, hört der Arzt die Lunge des Kranken wie einen Blasebalg fauchen. "So, nun bitte auf das Herz!" Es geschieht, und in der Kammer des Arztes, in seinem Kopfhörer, hört man es wie dumpfen Paukenschlag, zuerst regelmäßig, dann mit einem gewaltsamen Hupfer: "Bum - bum - bum - bum - burrebumbum!" Nun weiß der Arzt genug und gibt dem Kapitän des kleinen Dampfers die Behandlung an und sagt ihm, was aus dem Arzneikasten nötig ist. Sind das Utopien? Ist das ferne Zukunftsmusik? Ach nein. Wenn die Grippe in diesem oder dem nächsten Jahr uns nicht holt, werden wir es wohl noch erleben. Unsere Spannung wächst von Tag zu Tag, wir wollen miterleben, wie alles das wird, und jede neue Erfindung stößt auf viele Zehntausend, die ihr sofort auf den Grund gehen möchten.

Kein Wunder, daß ganz Berlin jetzt "scharf ist" auf den Rundfunk, der endlich bei uns eingeführt worden ist, nachdem er in Amerika und anderswo schon längst auf jeder einsamen Farm und in jedem städtischen Salon ertönt. Unsere Buben wackeln mit den Ohren. Erklären, bitte, erklären! Ja, das kann euer Physikprofessor auch nicht, euch wirklich sagen, was Elektrizität ist; ich kann es ebensowenig. Na schön; sagen wir, es ist eine Kraft, deren Wesen wir nicht kennen, aber deren Wirkung offenbar ist. Sie geht in Wellenbewegungen, Schwingungen, entweder Draht entlang oder frei in den Weltenraum. Auch Licht und Ton lassen sich weiterschwingen; nur muß man dafür sorgen, daß ein mechnisches Auge oder Ohr sie auffangen. Ihr kennt ja die Membrane und das Mikrophon und alle die anderen feinen Apparate, nicht wahr? Die drahtlosen Wellen kann ich euch nun nur in einem Vergleich erklären. Werft einen Stein in den Teich! Ihr seht, wie die Wellen sich von diesem Zentrum aus im Kreise fortpflanzen, immer weiter, immer schwächer. Werft ihr daneben einen anderen Stein hinein, gleichzeitig hinein, so gibt es zwei Systeme von Wellenkreisen, die sich schneiden. Aber beide behalten ihre Kraft und wirken weiter bis zum Verebben. Der Stoß wirkt nicht nur etwa in der Wasserebene allein, wenn wir seine Wirkung auch lediglich da sehen. Die Kraft dehnt sich in Wirklichkeit kugelförmig aus, wie eine riesige sich blähende Seifenblase. Und von den drahtlosen elektrischen Blasen kann es Hunderte und Tausende im kleinsten Zeitraum hintereinander geben.

Das ist, laienmäßig für Laien, die einfachste Erklärung. Die Experimente, die der Professor Leuthäuser im Voxhause uns vorgemacht hat, verlangten schon mehr Vorbildung. Das schönste waren da die Elektronenverstärker. Leuthäuser legte seine Taschenuhr an den Apparat, und alsbald hörten alle rund 150 Anwesenden ihren Schlag wie Gongdröhnen. Wir hörten auch Musikproben. Von vornherein sei es gesagt: selbstverständlich ist keine maschinelle Übertragung so rein wie der Klang aus der Kehle, es ist immer der sogenannte Grammophonton dabei, das ein wenig Gequetschte; kein Mechaniker der ganzen Welt wird je die Schöpfung erreichen, wir bleiben bei aller technischen Erkenntnis doch immer nur die Affen Gottes. Hören wir das Konzert ganz leise im Kopfhörer, so ist es noch leidlich ungemischt. Verstärken wir sehr, stellen wir uns den großen Schalltrichter hin, so wird es schrill und schriller, schließlich heult der Höllenhund Cerberus aus dem Kasten.

Wir haben schon 4320 Radioempfänger in Berlin. Königsberg, Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart, München und andere Großstädte erhalten demnächst eine eigene Sendestation. Man wird alltäglich unter 10 deutschen Programmen wählen können; und zur Abwechlung stellt man sich, wenn man will, auch den Londoner Kristallpalast oder das Kopenhagener Tivoli ein oder hört sich eine Rede Mussolinis oder Rykows zur Auffrischung seiner italienischen und russischen Sprachkenntnisse an.

Einstweilen nassauere ich. Es ist noch kein Radio-Fabrikant auf den naheliegenden Gedanken gekommen, mir einen Apparat als Rezensionsexemplar zu stiften. Also gehe ich zu den Radio-Händlern und lasse mir die Sachen vorführen. Ich erscheine agrarisch-kaufkräftig, das macht den besten Eindruck: Opossumpelz und Spessartmütze. Ein Quartett im Voxhaus singt. "Nein, bitte nicht", sage ich, "das sind ja die reinsten Sänger von Finsterwalde; solange nicht Michael Bohnen ins Voxhaus geht, bitte lieber was anderes!" Gut, wir schalten auf Großes Schauspielhaus um. Oder auf die Philharmonie. Ich mache sehr sachverständige Bemerkungen, frage nach dem Preis eines Vier-Röhren-Apparates, winke dann kurz vor Schluß des Konzertes leutselig mit der Hand, erhebe mich und sage: "Auf Wiederhören!"

Da es schon rund 300 Radiohändler in Berlin gibt, ist mein Bedarf für lange gedeckt.

Aber ich brauche gar nicht Unter die Linden oder in die Tauentzienstraße oder sonstwohin zu rennen. Nachbars Mäxchen zerrt mich abends über den Korridor, während die Eltern ausgegangen sind, in die andere Wohnung hinüber. Er ist Radiozaungast, er denkt nicht daran, die Jahresgebühr von 60 Mark an das Reich zu zahlen. Er hat sich selbst für wenige Mark einen Kopfhörer zurechtgebastelt, der hinter seinem Büchergestell versteckt ist, und daneben in der Küche befindet sich die Antenne: ein in 2 Metern Höhe über den Raum gespannter Draht. Ich habe das Ding zuerst für eine doppelte Schnur gehalten, und tatsächlich hängt ja auch Wäsche darauf.

"Das ist für wenn mich einer klappen will, daß ich Rundfunk klaue," sagt Mäxchen, "dann ist es ebent Wäscheleine!"

Ei, ei wenn das nur geht. Erstens ist es überhaupt eine Gemeinheit, denn die vielleicht schon 8000 wilden Apparate in Berlin, die zum geringsten Teile ganz korrekt sind, bringen Mißtöne in die Musik und stören die ehrlichen Hörer. Außerdem sind schon viele Zaungäste wirklich geklappt und vom Berliner Landgericht mit 500 bis 1000 Goldmark Buße bestraft worden. Und schließlich hätte Mäxchen doch wirklich Besseres zu tun. Heute hat er, weil er den deutschen Aufsatz nicht fertig hatte, "wegen Übelkeit" geschwänzt und den ganzen Tag den Kopfhörer umgehabt. Morgens noch im Bett wurden ihm alle wichtigen politischen Nachrichten zugesprochen. Diese gesamte politische Unterweisung hat unsere verehrliche Reichsregierung übrigens dem sozialdemokratischen Abgeordneten Heilmann übertragen; Stresemanns große Koalition, bei jeder Nachwahl im Reiche vom Volke zerfetzt, hat in Berlin eben noch ein zähes Leben. Dann hört Mäxchen die heutigen Lebensmittelpreise aus der Zentralmarkthalle. Dann bekommt er die Effektenkurse lang heruntergebetet. Dann vernimmt er eine Rede über die Zustände in der Pfalz. Dann gibt es zwei große Konzerte, abends wieder die neuesten politischen Telegramme und zuletzt, von 9 Uhr 50 bis 11 Uhr 30, Tanzmusik: Shimmy und Onestep und Foxtrott und Java. Natürlich auch das Bananenlied. Und: "Wenn du nicht kannst, laß mich mal."

Mäxchen wird ungeheuer gebildet. Aber sein Vater sollte ihn lieber durchhauen. Denn zu Ostern, fürchte ich, wird Mäxchen nicht versetzt.

Wir aber auf der anderen Seite des Hausflurs sehen dem Unentrinnbaren entgegen. Dem Tage, an dem auch wir an den Rundfunk uns anschließen lassen, genau so, wie wir den elektrischen Siedestab für den gelegentlichen Abendgrog, den elektrischen Föhn-Apparat gegen etwaiges Haarweh und sonst noch manche moderne Erfindung uns zugelegt haben. Dann kann die Jugend bei uns, auch wenn niemand Klavier spielen oder das Grammophon andrehen will, alleweil nach Herzenslust wenigstens tanzen. Unentwegt das ganze Jahr hindurch Abend für Abend, denn das Voxhaus kennt seine vaterländischen Pflichten. In dem schalldichten Senderaum da oben in der Potsdamer Straße, der durch dicke Friesvorhänge an allen Wänden und sogar oben an der Decke gegen das Eindringen fremder Laute gesichert ist, nehmen allabendlich die Musiker Platz auf ihren kleinen Quadraten, den Nummern auf dem weichen Teppich. Weit, weit weg vom Mikrophon natürlich die Trompete. Auf Nummer 53 steht die Bratsche. Näher heran darf der Geiger. Nur 30 Zentimeter ab öffnet sich der Mund der Sängerin. Anderswo, wo man nicht so vorsichtig und methodisch vorgeht, zerklirrt man das ganze Konzert durch irgendein vordringliches Instrument. Das wissen wir ja von minderwertigen Grammophonplatten her. In Mailand wurde neulich die ganze Ouvertüre einer neuen Oper aufgenommen - und schließlich war alles umsonst. Am Ende gab es einen langen grellen Pfiff. Man konnte ihn sich nicht erklären. Schließlich kriegte man es heraus, daß just um die Zeit eine auf dem nahen Bahnhof abfahrende Lokomotive ihren Pfiff in die nicht genügend abgedichteten Räume hereingeschickt hatte.

Mit noch etwas größerer Abneigung als der vervielfältigten Musik habe ich stets dem photographierten Theater gegenübergestanden. Vor der Flimmerleinwand sitze ich nur, wenn ich beruflich unbedingt muß. Aber nun gebe ich mich geschlagen. So etwas strahlend Herrliches, heldisch Packendes, majestätisch Erhabenes, märchenhaft Poetisches, erschüttend Deutsches wie Thea v.Harbous "Nibelungen" habe ich bisher nicht für möglich gehalten. Auch technisch ist es ein Wunderwerk. Ich will das nicht etwa mit dem Drachenkampf begründen, von dem alle illustrierten Blätter schon genugsam schwärmen, sondern mit einer sogenannten Kleinigkeit. Seht euch einmal den Traum Kriemhildens auf der Leinwand an! Wie da zuerst aus dem Chaos ein schwarzer Balken aufschießt, ein zweiter, dritter, wie sie emporschnellen, versinken, sich umschlingen, wie irgendwoher ein Licht, eine Qualle, ein Fisch - was weiß ich - kommt und mit einem zweiten, einem dritten Leuchten schnell und schneller Kurven zieht, schließlich zum weißen Vogel wird, auf den die schwarzen niederstoßen, das ist in seiner ganzen beklemmenden Verworrenheit und doch schicksalvollen Folgerichtigkeit ein Traum so wahr, wie er noch niemals vor Menschenaugen dargestellt ward. Solcher Dinge gibt es viele. Und die "Nibelungen" sind meines Wissens der bisher einzige Film, in dem man Königinnen schreiten sieht, nicht rennen. Und der wundersame deutsche Wald und der lichte Siegfried darin sind unvergeßliche Bilder. Die Vorgänge bedürfen kaum der wenigen eingestreuten Textzeilen, um jedermann verständlich zu sein, und sie zwingen einen so in den Bann, daß mein Jüngster, der Sekundaner, der mit glühenden Backen neben mir sitzt, jeglichen Respekt vergißt und mich, als ich ihn leise auf eine besondere Schönheit aufmerksam mache, anfaucht: "Still! Seh' ich alleine! Nicht stören!" Atemlos schauen und lauschen die Tausende. Das deutsche Hohelied von Liebe und Kraft, von Treue und Haß läßt sie erzittern.

In jedem Jahrhundert einmal ward Siegfried erschlagen. Bald wird man in allen Erdteilen um den sonnigen Helden trauern. In ihrem Buche, dessen Kauf ich jedermann empfehle, hat Thea v.Harbou auf die erste Seite die Widmung gesetzt:   Dir und Deutschland.
21. Februar 1924 (Donnerstag)


26

Zeitraubendes - In Thea v. Harbous Salon - Mercedes statt Hiller - Fritz Ebert beim Preisspringen - Kabaretts - Aug' in Auge mit Ludendorff.

Das Leben ist kostspielig und zeitraubend geworden.

Die meiste Zeit rauben einem die modernen Erfindungen. Aus sicherer Entfernung kann einen jede Gans, deren persönlichen Besuch man abweisen würde, telephonisch anschnattern. Wieviel kostbare Stunden versitzt man auf Straßenbahn und Vorortbahn! Und nun hat man sogar den Rundfunk auf dem Halse. Ich habe mich schon bei seiner bloßen Beschreibung das vorige Mal so in die Breite verschwatzt, daß ich nachher kaum mehr Platz für die mir viel mehr am Herzen liegende Plauderei über Thea v.Harbous Werk hatte.

Jetzt werden draußen in Babelsberg die letzten Szenen zum zweiten Teil der "Nibelungen" gedreht, während der erste seinen Siegeszug durch alle Länder der Erde macht. Trotz aller höhnischen Grimassen gewisser Filmkritiker, deren Ideal nun mal Konrad Veidt und Charlie Chaplin sind. Bewußt hat Thea v.Harbou demgegenüber das germanische Schönheitsideal aufgepflanzt. Da habt ihr den sonnigen Recken, da habt ihr deutsches Weibtum, wie eure kühnsten Sehnsüchte es noch nie sahen! Das Wort "deutsch" kommt dabei im Siegfried gar nicht vor. Es ist kein Reklamefilm. Es ist nichts Aufdringliches darin, keine völkische Phrase, es wirkt nur das innerlich Wesenhafte; das aber mit so erschütternder Gewalt, daß uns das Herz zu pochen beginnt wie ein Hammerwerk. Es ist richtig, daß das Werk reichlich pastos ist, gelegentlich etwas starr wirkt. Aber es soll ja auch nicht etwa ein modernes Lustspiel sein.

Man muß die beiden glücklichen Leutchen, die Familie v.Harbou-Lang, schon Sonntags aufsuchen, wenn man sie sicher daheim treffen will; werktags arbeiten sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend in ihrer Filmstadt in Babelsberg bei Potsdam. Der Regisseur Fritz Lang ist aus Wien gebürtig, wo es ja Gott sei Dank auch noch Deutsche neben Tschechen und Galiziern gibt, und trägt auch zu Hause die Künstlertracht der Filmregisseure. Oder hat schon jemand einen Filmregisseur gesehen, der nicht im Sommer und Winter ein Tennishemd trug? Hier hat es freilich auch zu Hause einen Sinn. Über dem Billard in der Bibliothek bei Harbou-Langs ist eine große Holzplatte aufgebaut, über deren Mitte ein Liliputnetz gespannt ist, und da spielt Thea v.Harbou spät abends mit ihrem Gatten immer noch eine Partie Tisch-Tennis, daß die kleinen Zelluloidbälle nur so in alle Ecken knallen. Daneben ist ihr Zimmer. In der Nische ein ebenholzschwarzer geöffneter Riesenschrank mit japanischen und anderen Bronzen, an den Türen des Zimmers mächtige Pfahlgötzen von den Südseeinseln, dazwischen Erinnerungen an Deutschostafrika, wo Thea v.Harbou als blutjunges Ding mit der ganzen großen Begeisterung dieser Jahre als Krankenschwester zu bleiben gedachte. Sie möchte so gern wieder hin. Er, Fritz Lang, mit ihr. Nur deutsch müßte Ostafrika wieder sein. Einstweilen aber sind beide noch hier, und das ist gut so, denn sie haben uns wohl noch viel zu geben.

Als sie noch nicht eine stolze blonde Schönheit war, auch noch nicht so fraulich in die Breite gegangen wie heute, sondern ein Dingelchen, tollte die kleine Thea auf ihres Vaters Gut Vogelsang umher, mitten in der Sächsischen Schweiz. Ein Wildfang, fast allein gelassen mit sich und der Natur. Mit offenem Haar. Nur mit einem roten Hemdchen an. Man nannte die Kleine "Flämmchen", und so huschte sie durch Berg und Busch und hielt Zwiesprach mit Quell und Fluß und jeglichem Getier. Menschen kannte sie kaum außer denen im Elternhaus und ihren gelegentlichen Besuchern aus der Dresdner Hofgesellschaft, entwischte den Menschen auch immer wieder und ging zu ihren eigentlichen Freunden, dem Pferd und dem Frosch, der Amsel und dem Schmetterling, dem Hund und der Schnecke. "Na, vergiß doch nicht deine Liebe zu den Maschinen!" wirft Fritz Lang hier ein, während wir zu dritt in ihrem Zimmer beieinandersitzen. Ach ja die Maschinen. Damals. Die Lokomotiven der Elbtalbahn. Die hatten damals noch alle ihre Eigennamen. Und die, die "Siegfried" hieß, die brauste so prächtig heran, die hatte Thea besonders lieb.

Irgendwann einmal ging das Gut der Eltern wohl verloren. Der Vater wurde Oberförster beim Fürsten von Bulgarien. Ein Bruder Theas wurde, wie das so üblich bei allen Harbous, Offizier, sie selber, die schon als Kind eine Dichterin war, ging zur Bühne, wo ihr starkes Talent mit Jubel empfangen wurde. In Weimar, wo sie zuerst am Nationaltheater für das Fach der Gesellschaftsdamen verpflichtet war, habe ich ihren Freundeskreis ein paar Jahre später, als ich zu Fritz Eberts Inthronisierung dort weilte, kennengelernt. Ja, die Thea! Ein Leuchten in allen Augen. Ja, die! Ihren besten Roman hatte man dort entstehen sehen. Und innig gedachte man noch des Sommernachtszaubers, wenn sie im Schloßpark den Leuchtkäferchen Geheimnisvolles zugewispert hatte.

Jetzt hat der Film sie ganz. Und sie, gemeinsam mit ihrem Gatten Fritz Lang, hat ganz den Film. Die Nibelungen, sagen sie, sind erst der Anfang. Ihr gemeinsamer starker Wille will noch ungeahnte Möglichkeiten herzaubern. Sie sind die ersten, denen ich es glaube.

Dabei ist ihr Leben köstlich durch Mühe und Arbeit. Alle diese Menschen, die für die Lust von Millionen von Mitmenschen arbeiten, führen doch nicht etwa ein Flitterdasein. Im Berliner Genußtaumel sieht man sie nicht. Da sind ganz andere Leute die Habitués. Jahrelang waren es die Ausländer, jetzt aber trifft man überall die Einheimischen aus Berlin und aus dem Reiche, und wenn man sie da sieht, vermeint man, es gäbe in Deutschland gar keine Not. In der feinsten Gaststätte Berlins, dem Mercedes-Restaurant Unter den Linden, bin ich dieser Tage erst zum zweitenmal in meinem Leben gewesen, aber ich habe da Herren "aus Handel und Wandel" getroffen, die täglich hier zu speisen pflegen. Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: das ist ja das umgewandelte berühmte Restaurant Hiller von früher! Hier saß alltäglich zum Lunch der Herr Reichsfinanzminister, Matthias Erzberger, Exzellenz, und erteilte zwischen ein paar Glas Burgunder seine Audienzen. Hier haben noch heute - aber nicht in den Sälen, sondern in verschwiegenen Extrazimmern - führende republikanische Größen ihren kärglichen Stammtisch. Das hätte der selige Hiller sich nicht träumen lassen. Und wenn jetzt, in der Woche des alljährlichen Preisreitens und Preisspringens im Sportpalast, gelegentlich auch sehnige Gestalten des "alten Systems" hier auftauchten, so bleibt doch die neue Gesellschaft das Gros.

Unser jetziges Reichsoberhaupt hat im letzten Sommer bekanntlich reiten gelernt und daher nun auch als Fachmann und ritterlicher Sportgenosse den Sportpalast einmal besucht. Herr Fritz Ebert saß also irgendwo, nur leider nicht im Sattel, sonst hätte ich gern einen ganzen Hymnus darüber geschrieben. Aber während er da saß, landete gerade ein Hohenzoller, der Prinz Friedrich Sigismund von Preußen in der Uniform der Totenkopfhusaren, einen wundervollen Sieg über alle schweren Hindernisse. Es erhob sich in der vieltausendköpfigen Menge ein frenetischer Beifall. Er galt Herrn Fritz Ebert. Ich meine, er wäre nicht so frenetisch gewesen, hätte man nicht um die Anwesenheit des republikanischen Landesvaters gewußt.

Natürlich hat das Reiterfest und die landwirtschaftliche Woche und manche industrielle Generalversammlung viele Besucher aus dem Reiche hergelockt, die abends sich auch mal "was ansehen" wollten, und so konnte denn manches Kabarett endlich wieder ein gefüllteres Parkett erleben, als sonst um diese Zeit. Wenn es den Kabaretts trotz Rentenmark nicht besser geht, so liegt das nicht wohl nur an allgemeiner Pleitestimmung, sondern an ihrem Programm, dessen schlüpfrig-gemeiner Inhalt nachgerade allen Menschen von Kultur bis an den Hals steht. Selbst in dem "Größenwahn" am Kurfürstendamm ist die Gemeinheit so platt und humorlos, daß sich männiglich um der herausgeworfenen 10 Mark Eintrittsgeld willen nachher ärgert. Ein Kabarett aber gibt es in Berlin, vielleicht nur dieses einzige, das von dem russischen "Blauen Vogel" mit seiner Romantik und Groteske etwas gelernt hat, das ist die "Gondel" in der Bellevuestraße. Ihr leitender Geist ist Herr Theobald Tiger, der sich auch Peter Panther nennt, in Wirklichkeit Tucholski heißt und zu den bissigsten politischen Feuilletonisten unserer galizischen Linken gehört. Hätten wir Deutschen Sinn für Taktik, so müßte ich ihn eigentlich verreißen. Aber ich sage: Hut ab vor dem Mann! Denn die "Gondel" steht literarisch und künstlerisch auf einer Höhe, wie sie tatsächlich bisher nur die Russen erreicht haben. Das alte Wandervogellied vom Kapitän und Lieutenant erscheint hier auf der Bühne von lauterster Poesie durchtränkt. Die Groteske vom Tabak und manches andere ist einfach kraftgenialisch. Und der Sang der Bergleute im tiefen Schacht ist trotz des bitterrevolutionären Refrains "Wir trotzen schlagenden Wettern, damit die Kurse klettern" schon um der Szenerie willen von einer gewaltig packenden Eindringlichkeit. Nicht eine einzige Zote krächzt in dem ganzen Programm. Es gibt schon noch Künstlertollheit bei uns, die ins Genieland emporreißt; nur muß eben der Entschluß dasein, sich von der falschen Rücksicht auf angebliche Wünsche des Publikums frei zu machen. Das Publikum ist gar nicht so. Auch unsere Neureichen sind dankbar und lenkbar. Nur Mut muß man haben, künstlerischen Mut, Überzeugungstreue, dann kommt man schon durch.

Während ich dies schreibe, sitze ich gar nicht mehr in Berlin, sondern - in München. Aber nicht die Münchener Kunst und auch nicht der Donisl und auch nicht das Bier hat mich zu diesem kurzen Ausflug bewogen, sondern das heiße Begehren, mit eigenen Augen zu sehen, in welcher Art man wohl in Deutschland über Deutschlands größten Schlachtenrechner zu Gericht sitzt. Den elenden Ausgang des Novemberputsches kennen wir ja alle. Er war so ganz anders, als ihn sich noch am Abend des Achten die jungen Kriegsschüler dachten, die vor Ludendorff defilierten. Ich hatte auch einen Buben darunter, der vor zehn Jahren des Königs Rock angezogen hatte und nun der Armee Valet gesagt hat. Alle diese Leutnants wollten Deutschland erlösen. Sie träumten von dem geliebten gefürchteten Führer mit dem Stahlblick, der sie hoch zu Roß in der alten Uniform begrüßen und als sein Leibregiment gegen die roten Nachtalben führen würde. Da aber zog schon die erste Erkältung durch die heißen Herzen: da stand "Er", aber im Bürgerrock und lüftete das Zivil-Hütchen und rief immer wieder mit einer etwas belegten Stimme: Hoch Deutschland! Das hatte man sich anders gedacht. Da schien etwas nicht zu klappen. Und am nächsten Tag waren die anderen den Jungstürmern in den Rücken gefallen. Wortbruch, Treubruch, Götterdämmerung. Noch einmal fällte der Hadergeist Loki durch Hödurs Blindenhand den strahlenden Baldur.

Draußen in der Villa auf der Prinz-Ludwigs-Höhe habe ich anderthalb Stunden bei Ludendorff und den Seinen verbracht. Einen seiner beiden gefallenen Söhne hatte ich einst im Felde in meiner Abteilung. Den dritten, den ich noch nicht kannte, stellt mir in tiefster Bewegung die Mutter vor. Ich sitze unter dem Ölbild unseres neunzigjährigen alten Kaisers Wilhelm I. und schreibe. Von drüben aus der mächtigen Rundveranda schaut Fridericus Rex herüber. Hinter mir an der jenseitigen Wand steht der große Tafelaufsatz des Regiments 39, hier zu treuer Obhut bis zu dem Tage abgegeben, bis es wieder ein königlich preußisches Regiment 39 gibt. General Ludendorff sieht unglaublich jugendfrisch aus, zeigt nicht den finsteren Ernst, den er in schwerer Zeit bei jedem kurzen Überfall durch Photographen aufwies. Aber einen Zorn hat er, einen heiligen Zorn, wie wir ihn bisher nur an einem Bismarck nach 1890 erlebt haben, einen Titanenzorn gegen alles undeutsche Gezücht bei uns. Es wetterleuchtet mitten in der Himmelbläue seiner Augen, als wir davon sprechen.

Aber wir wissen:   einst wird kommen der Tag . . .
28. Februar 1924 (Donnerstag)


27

Neues von Lotte Pritzel - Die Guglhupferin und der Obergrasleitner - Berlin am Telephon in München - Im Schatten Ludendorffs - Hans Breitensträter nicht mehr Meister - Von den Revolutionsgewinnlern - Unsere Wächter.

Natürlich müßte man eigentlich in die Brennessel gehen, wenn man schon einmal in München ist; aber man pendelt nur zwischen seinem Hotel am Hauptbahnhof und dem Hitler-Ludendorff-Gericht hin und her. Keine Zeit, keine Zeit. In der Brennessel verkehrt Frau Lotte Pritzel,deren Berlinertum so unverkennbar ist, daß man wohl ein Berliner Allerlei mit ihren Puppengeschichten füllen könnte. Es sind ein bißchen sündhaft teure Puppen. Ihre Schöpferin knetet in die Wachsmodelle die ganze Sehnsucht nach dem dämonischen Berlin hinein. München ist nicht dämonisch, nicht einmal mehr in Schwabing, obwohl ich dort am letzten Sonnabend, wenn ich der Einladung gefolgt wäre, auf einem Atelierfest in ganz kleinem Kreise, bei Leuten der besten Schwabinger Gesellschaft, mit einer als Bauchtänzerin kostümierten - oder vielmehr entkleideten - jungen Dame hätte foxtrotten können. Nein, München ist nicht dämonisch. Man sehe sich bloß Frau Aloysia Guglhupfer an, die abends in den Bräus die drei deutsch-völkischen Tageszeitungen Münchens und die christkatholischen Blätter von hier und Regensburg gleichzeitig kolportiert und dazwischen mal eine Maß oder zweie hinter das umfangreiche Vorgebirge ihrer Erscheinung hinunterschüttet; oder den Dienstmann Sepp Obergrasleitner, auf dessen ehrliche und gewaltige Nase, in der viertelstündlich eine Prise, nein, eine Pratze Schmalzler verschwindet, man ruhig eine Hypothek geben könnte, einen Mann, an dessen Staatstreue so lange nicht zu zweifeln ist, als es Weißwürscht und Märzenbier gibt. München ist voll von so geraden und aufrechten Leuten. Und sie alle sind, obwohl ihnen der Ruf einer gewissen Rauherzigkeit anhängt, von einer bezaubernd provinziellen Langmut gegenüber den oft wirklich unverständigen Fremden. Nein, hier ist nichts dämonisch. Und sogar die ehedem so lasterhaft schlenkrigen Lotte-Pritzel-Puppen mit ihren feinen langen Händen fangen an, fromm zu werden. Da ist freilich noch eine, die heißt Sumpfkönigs Tochter, die schillert noch geheimnisvoll frech unter grauen Schleiern, aus denen zwei Perlen aus Rubinglas an den Spitzen der Brüste hervorleuchten. Aber die anderen Puppen aus letzter Zeit sind beinahe schon Heilige. Noch ein bißchen Brokat herum, dann wird man sie draußen im Dachauer Moos für die allerseligste Jungfrau halten. Ihre Bildnerin möchte ich wirklich mal sprechen. Aber, wie gesagt, es langt nicht einmal zu einem Gang in die Brennessel.

Statt dessen sitzt man in dem Gerichtssaal selbst oder in den provisorischen Pressezimmern der Infanterieschule mitten unter seinen Berlinern, denen man übrigens ebensowenig auf dem Wendelstein oder in der Partnachklamm entginge. Von Rippler bis Sochaczewski: alles da. Die ganze Presse, Zeitungen und Telegraphenbureaus. Dazu etliche menschliche Belegexemplare aus der Diplomatie und dem Reichswehrministerium. Schließlich auch noch die Berliner Vertreter der ausländischen Weltblätter. Nicht einmal die Zeichner - das ist wirklich ein Skandal - hat München gestellt. Es sind Berliner oder Ofenpester oder Schlawiner. Mindestens die Hälfte von den Berufsarbeitern der öffentlichen Meinung hier wünscht, wir lebten noch im Zeitalter der Postkutsche, und verwünscht vor allem das Telephon. "Wie dumm müßte ich eigentlich schreiben, damit die Telephonstenotypistin in Berlin meine Artikel richtig aufnimmt?", fragt mich Friedrich Hussong mit erlöschender Stimme. Man schreibt "Flieger", und gedruckt steht: Lügner. Man schreibt "frischfröhlich", und gedruckt steht: feuchtfröhlich. Man schreibt "der Vizefeldwebel Ebert", und gedruckt steht: der dicke Feldwebel Ebert. Es ist nicht auszudenken, was geschähe, wenn auch mein Plauderbrief telephoniert werden müßte. Aus den sündhaften Puppen Lotte Pritzels würden gewiß "standhafte"; und das nette Lokal, die Brennessel, sähe ich todsicher als "Schlamassel" wieder.

Aber man nimmt alles gern auf sich, wenn man dafür diesen tiefen erquickenden Trunk tun, einen Einblick in das flammend nationale Jungdeutschland haben kann. Es ist schon schön, täglich stundenlang den gewaltigen Schädel Ludendorffs, dieses Willenmenschens in dem Zeitalter der Mollusken, studieren zu können. Er sei alt geworden in der Sorge um Deutschland, sagt er, aber sein Herz sei jung geblieben. Seine ganze dreistündige Verteidigungsrede - ich denke, er wird mein Wort verstehen und es mir verzeihen - ist ja auch holde Jugendeselei. Kein dramatischer Held in irgendeiner Dichtung kann schwärmerischer sein Ziel umwerben. Darum, und nicht nur etwa um seiner exakten Schlachtenrechnerei willen, hat man ihn auch in der Armee so lieb. Ich will nichts gegen Seeckt sagen, der in schwierigster Zeit unsere Reichswehr vor dem Auseinanderbrechen behütete und mit fast verschlagener Diplomatie sich gegenüber ihren Berliner Verderbern behauptete, ich will nur feststellen, daß in einem beliebigen Kreise von Offizieren, in dem einer abfällig über den Chef der Heeresleitung spricht, die anderen nur still und nachdenklich werden, allenfalls ruhig Gegengründe vorbringen; sagt aber in einem solchen Kreise einer etwas wider Ludendorff, dann springen sofort drei oder vier auf und ergreifen leidenschaftlich Partei für den großen Verfehmten. Er ist natürlich kein Politiker von Fach, obwohl der dritte Band seines Kriegswerks, über Krieg und Politik, eine Arbeit unerbittlichster Wissenschaftlichkeit ist; denn heute ist Politik weiter nichts als Beeinflussung, als Gewinnen der öffentlichen Meinung, und die gewinnt man nicht, wenn man gleichzeitig auf sämtliche Gegner losschlägt, statt nur auf die Sozialdemokratie. Ist diese zerschlagen, dann sind auch Ultramontanismus und Judentum und Freimaurerei und Demokratie, die jetzt Ludendorff offen berennt, zur Ohnmacht verurteilt. Darf man hier aber überhaupt mit so nüchterner Überlegung sprechen? Alles an diesem Manne ist das Pathos der Energie. Der Wille wirkt Wunder. Ein Ludendorff braucht, bildlich gesprochen, wohl kaum eine Reihe von Kathodenröhren, damit sein Herzschlag vernehmlich werde, der dröhnt von alleine mit Gongton in dem Gerichtssaal und darüber hinaus.

Berlin hat derweil andere Sorgen. Bis in die Pressezimmer der Müchener Infanterieschule kamen in der letzten Woche Eilbriefe geflattert, ob man nicht, da man sie nun doch nicht gebrauchen könne, seine Eintrittskarte zum Sportpalast herleihen wolle: o Gott, die Meisterschaft Deutschlands im Boxen werde ausgefochten, und nicht für 100 Mark sei mehr ein Stehplatz zu haben! Richtig, das hat man nun versäumt. Der blonde Hans, "unser" Breitensträter, ist im Titelkampf unterlegen. Das "blaue Band" hat Samson-Körner errungen; der Zwickauer hat über den Magdeburger gesiegt. Würden bei Faustkämpfen Wetten gelegt, so hätte ich diesmal auf Hans Breitensträter sowieso keinen Rentensechser gesetzt. Mir sind zum erstenmal Bedenken gekommen, als ich ihn noch gegen Morgen auf dem Presseball bei einer dickbauchigen Flasche sah; und zum zweitenmal, als er im Smoking auf dem Podium eines Vortragssaales stand und aus seinem Leben erzählte. Boxer sollen nicht in Literatur machen. Wenn sie den Ehrgeiz haben, in die "Gesellschaft" emporzusteigen, so sind sie schon keine Professionals mehr. Ich kenne einen anderen Meisterboxer in Berlin - natürlich nicht Schwergewicht, das war eben Breitensträter - der vielleicht auch seinen Titel nicht mehr lange behält. Er hat sich von einer Filmprinzessin kapern lassen, die ihren vergötterten Muskelmenschen mit Geschenken überhäuft, ihm einmal ein mit Brillanten besetztes goldenes Etui, ein anderes Mal ein funkelnagelneues Auto gestiftet hat; sie wird allmählich schon für den Muskelschwund bei ihm sorgen!

Bei vielen, sehr vielen Berlinern hat solcher Schwund freilich ganz andere Ursachen. Mir sagen Münchener, die kürzlich droben waren, sie seien erschüttert von dem Anblick, der sich ihnen häufig geboten habe. Hier im Süden sieht man weniger Bierbäuche als vor dem Krieg, obwohl Bier hierzulande immer noch Nahrungsmittel ist, dafür von Jahr zu Jahr mehr sehnige und gesunde Sportfiguren, weil die Berge so nahe sind; ausgemergelte Gestalten wie in Berlin aber überhaupt kaum. Und das ist doch eigentlich sonderbar, daß die Reichshauptstadt, in der zu Hauf sich die rote Intelligenz ganz Deutschlands drängt, dank diesen Weltverbesserern noch kein Schmuckkästchen geworden ist, in dem satte und zufriedene Menschen ihren Novemberführern zujubeln. Etlichen Berlinern geht es freilich besser als früher. Den sozialdemokratischen preußischen Ministern und Oberbürgermeistern und Regierungspräsidenten und sonstigen Revolutionsgewinnlern. Ihr solltet mal Gustav Noske'n bei einem Diner sehen, bei so einem ganz feinen Diner, wo vor jedem Gedeck wie die Orgelpfeifen 7 Kristallgläser hintereinander stehen, für jeden Wein von dem Malaga zur Suppe über Tisch- und Kredenzweine hinweg bis zur Veuve Cliquot bei Dessert je eines; und dann noch die kleinen Silberbecher für den Grand Marnier oder Benediktiner! Auch Braun und Scheidemann und Siering und Severing und die anderen alle verstehen zu leben. Severing hat kürzlich in seinem Wahlkreis Bielefeld in einer Rede erklärt, es habe nicht eine einzige Kabinettssitzung in Preußen gegeben, in der er nicht gegen jeden Widerstand im Ruhrgebiet gesprochen habe, den passiven wie den aktiven. Er ist nur für Verständigung mit den Franzosen. Solange sich das Volk aber diese Politik gefallen läßt, blleibt es dabei, daß an der Ruhr und am Rhein Deutsche unter Franzosenfäusten verrecken und in Berlin in einem einzigen Bezirk unter 1540 untersuchten Schulkindern 1132 sich als völlig unterernährt und mehr als die Hälfte von ihnen als tuberkulös erweisen, daß ein invalider Arbeiter ohne Beine monatlich 30 und in einem mir persönlich bekannten Falle ein Rittmeister a.D. monatlich 5½ Mark Rente erhält, während die roten Würdenträger von der Not so gut wie nichts verspüren.

Diese Männer selbst - es gibt doch auch hier noch rühmenswerte Ausnahmen - sind zuweilen für ihre Person vielleicht noch leidlich bescheiden. Aber die liebe Familie stellt so hohe Ansprüche, die Kinder und vor allem die Frauen. Unter der Beamtenschaft alten Schlages in Preußen gibt es harte Charaktere, die schonungslos äußerste Sparsamkeit auch von ihren Angehörigen verlangen. Da sind unsere staatlichen Revolutionsgewinnler von ganz anderer Art, viel mehr auf das Wohlergehen der Ihrigen bedacht. Es ist ein wirklich rührendes Familienleben. Geradezu auffallend, wie sie namentlich an ihren Frauen hängen. Wie der Gehängte am Galgen.

Im Deutschen Adelsblatt werden derweil jetzt häufig "Standesgenossen" als Nachtwächter für irgendein Landgut gesucht.

Als Nachtwächter mit Familienanschluß.

Ich denke nicht daran, nun eine sentimentale Betrachtung über den materiellen Niedergang des Adels und unserer höheren und gebildeten Stände überhaupt anzustellen. Eher liegt mir noch eine Jubelhymne - über den Aufstieg des Nachtwächters. Wir Herabkömmlinge verstehen zu schweigen. Wortlos legten einst die alten Geschlechter Frankreichs sogar ihren Kopf unter die Guillotine; höchstens mit einem leisen Lächeln über das Knotentum der damaligen Roten. Niemand wundert sich heute, wenn die Potsdamer Angehörigen unseres Königshauses, zum pommerschen Adelstag nach Kolberg eingeladen, dritter Klasse in der Eisenbahn dorthin fahren, während der sozialdemokratische Herr Leinert von Hannover nach Berlin bequem im Auto reist; und niemand wundert sich, wenn Prinz August Wilhelm sich Gummisohlen und Gummiabsätze kauft, um seine Stiefel länger tragen zu können, während Herr Parvus-Helphand für seine Freundinnen Wiener und Pariser Roben braucht.

Nein, von jeher hat der Gebildete "in seiner Brust des Schicksals Sterne" getragen und mit Würde jedem äußeren Schicksalswechsel in das harte Antlitz gesehen. Nicht einmal in Rußland, wo der Wechsel ganz vollendet ist, hat es ein wildes Aufbegehren gegeben. Dort ist der ehemalige General mit demselben ruhigen Pflichtbewußtsein Nachtwächter oder Stiefelputzer, mit dem er einst Offizier war, und die Aufnahme als Mitglied in die Kommunistische Partei (und damit die Anwartschaft auf alle irdischen Genüsse) ist heute drüben noch schwieriger als etwa in London die Aufnahme in den vornehmsten Klub im Westend.

Zuverlässige Nachtwächter sind heute nötiger denn je. Seit wir das verruchte alte System losgeworden sind, haben Menschenliebe und Brüderlichkeit in dem heutigen goldenen Zeitalter so überhand genommen, daß man sich freundnachbarlicher Besuche kaum noch mit Sicherheitsschloß und Eisenstange erwehren kann. Mein und dein unterscheiden sich ja nur noch durch die Anfangsbuchstaben.

In der City und im Westen Berlins sieht man überall die Männer, als deren Attribute die Stoppuhr und der Schafspelz und der Wolfshund bekannt sind. Manchmal sind sie tagsüber Portiers und schlafen dann, während die Frau den Fahrstuhl und die Zentralheizung bedient; manchmal sind sie tagsüber Ärzte und warten darauf, ob nicht irgendein sozialdemokratischer Krankenkassenhäuptling sie für zwei Jahre von dem Praktizieren ausschließt, weil sie einem Herzmüden das zu teure Bromural verschrieben haben. Nachts sichern alle diese Leute unser bißchen Hab und Gut, das vielleicht gerade an der Wäscheleine auf dem Trockenboden hängt. Ohne diesen Schutz könnten wir uns schließlich nur noch selber aufhängen. Vorausgesetzt, daß nicht auch die Leine selbst geklaut worden ist.

Früher war es ein bißchen poetischer. Damals, als man noch "Herr Nachtrat" sagte. So vor dreißig und einigen Jahren. Der Herr Nachtrat, der behaglich reihum einige Straßen abpatrouillierte, schloß einem die Tür auf, wenn man den Hausschlüssel vergessen hatte, und kriegte zum Dank eine Zigarre. Damals legte auch der Schutzmann sich um 10 Uhr wie jeder ehrsame Spießbürger ins Bett. Nachtdienst gab es nur auf dem Revierbureau selbst und für einige Kriminalbeamte.

Das Kriminelle steckte eben noch in den Kinderschuhen.

Allenfalls gab es Keilereien. Studenten, die nachts von ihrer Kneipe im "lateinischen Viertel" nördlich der Dorotheenstraße kamen, wurde empfohlen, die Gegend am Neuen Tor nur zu zweit oder dritt zu passieren. Denn da suchten rüdige junge Leute zuweilen Händel. Heute sind diese jungen Leute (bis zu 40 Jahren) besser organisiert. Zu Banden von Dutzenden, von Hunderten, von Tausenden. Sie überfallen nicht mehr Studenten, denn das lohnt nicht mehr, sondern in urplötzlicher Attacke die Kaufläden einer ganzen Straße oder die Kartoffelmieten und Räucherkammern eines Dorfes. Die vornehmsten dieser Organisationen, ihre Garde, nennen sich manchmal Kontrollausschuß oder Rote Hundertschaft. Es sind alles zuverlässige Republikaner. In der Nähe von Hamburg ist es schon vorgekommen, daß sie einen Sonderzug für ihre Rückfahrt requirierten. Man hält es für möglich, daß sie allmählich alle Funktionen des Staates übernehmen. Der arme Staat weiß sowieso nicht mehr aus noch ein. In den 500 Jahren der Zollernherrschaft haben wir nicht so viel Erbärmliches erlebt, als in den fünf Jahren seit dem Umschwung unter den Volksbeauftragten. Schon überlegt man, ob nicht alle Leichtbestraften entlassen werden sollen, da Heizung und Nahrung in den Gefängnissen unerschwinglich sind. Nur die Schwerverbrecher müssen vorläufig noch auf Staatskosten erhalten werden; ihre Stunde schlägt erst, wenn ein neues 1918 kommen sollte. Mit zusammengebissenen Zähnen tun unsere Staatswächter, Polizei und Reichswehr, ihre Pflicht, da sie vorläufig von den "Organisierten" noch nicht abgelöst sind. Tun ihre Pflicht für ein Fast-Nichts an Entlohnung, die kasernierten Schutzleute, die Grünen, für einen Sold von etwa einer Mark täglich.

Wer seinen Wächter nicht vergoldet, der ist ein Narr und ein leichtfertiger Bankerotteur. Der Staat ist Macht, pflegte man früher zu sagen, als noch nicht die geschwätzige Ohnmacht regierte, das Parlament der Parteisekretäre. Die Macht hat zwei Arme, Polizei und Heer. Nachdem man bereits die übrigen Organe, die gesamte Beamtenschaft sozusagen auf Halbsold gesetzt hat, erkranken nun auch die Arme mangels Nahrungszufuhr an Muskelschwund.

Die Kündigungen nehmen überhand.

Auch aus der Reichswehr, die noch im Januar, als von Widerstand gegen Frankreich die Rede war, vor Zulauf sich nicht retten konnte, drücken sich Offiziere und Mannschaften, wo es nur möglich ist. Es gab eine Zeit - während des Siebenjährigen Krieges - in unserem alten Preußen, wo alles ohne Gehalt willig sich durchhungerte. Man tat es für seinen König, für Friedrich den Großen. Für Friedrich Ebert tut man es nicht. Da will man wenigstens gut bezahlt sein, wenn man der Republik als Nachtwächter dient.

Hört, ihr Herr'n und laßt euch sagen:
Die Uhr hat zwölf geschlagen!

6. März 1924 (Donnerstag)



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