"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 19 - 21
10. bis 24. Januar 1924


19

Luftfahrer-Sehnsüchte - Hinaus aus dem deutschen Pferch - Der "Skandal" der Schweizreisen - Unter Schneeschippern - Nebenberufe im Nachtleben - Alte und neue Berliner Salons.

In der Schußweite eines Ferngeschützes liegt die polnische Grenze; wir Deutschen sind sehr eng gepfercht. Schon damals, als erst bei Thorn das fremde Land begann, war das uns Ballonfahrern viel zu wenig. Flog man hinüber, um das letzte Säckchen Ballast auszufahren, so wurde man bei der Landung im Zarenreiche unfehlbar verhaftet. Ebenso Unangenehmes hatte man in Frankreich zu erwarten. Ich bin früher rundum in eine Menge europäischer Staaten geflogen, einmal bis an die Balkanhalbinsel heran, einmal über die Ostsee, einmal nach Scheveningen unmittelbar an den Badestrand, sehr häufig bei unseren vorherrschenden Nordwestwinden irgendwo in die k. und k. Monarchie hinein, fast immer mit irgendeiner netten Dame im Korbe, darunter einmal mit meiner reichlich betagten, aber jugendlich unternehmungsvergnügten und pudellustigen Schwiegermutter. Nur Rußland und Frankreich mußte ich aus den genannten Gründen meiden. Um nicht "mang die Kosaken" zu kommen, bin ich in einer Frühjahrsnacht 1914 bei heftigem Sturm, ein schwieriges Unternehmen, noch in Deutschland gelandet; und 1910 hatte ich den Ballon einmal genau zwanzig Meter vor der französischen Grenze hingelegt, so daß ein mit mir im Korbe sitzender preußischer Generalstäbler, der schon für seine Karriere gefürchtet hatte, aufatmete, während die drüben stehenden Gendarmen, denen bereits das Wasser im Munde zusammengelaufen war, lange Gesichter machten. Jetzt kommt wieder die große Lust über einen, wo der Schnee dieses bisher herrlich schönen Winters einem den Blick weitet. Jetzt möchte man wieder im Ballon fliegen, in lockende Fernen hinein, über sonnenglitzernde weiße Ebenen und die Pracht der Gebirge hinweg. Aber Polen ist in Kanonenschußweite, weit vor dem Rhein schallt auch dem Lüftefahrer das "Besetzt!" entgegen, im Südosten grinst der Tscheche, und nur zum Bodensee hin hat man reichlich Auslauf. Das alles führe ich nur zur Entschuldigung an, damit man es mir als altem Ätherbummler verzeiht, wenn ich sage: ich gönne von ganzem Herzen und völlig neidlos jedem Deutschen, der es sich jetzt bei der gesunden Valuta leisten kann, das uns Eingepferchten neuerschlossene Reiseglück. Wenn auch nicht im Freiballon oder im Luftschiff oder im Flugzeug, meinen Lieblingsvehikeln, die Fahrt sich vollzieht, sondern auf der gräßlichen Eisenbahn, so ist es doch so wunderschön, eines Morgens im Engadin oder in Südtirol aufzuwachen und wieder einmal am Auslande zu ermessen, was an der Heimat schön ist oder was sie inzwischen verloren hat. Es geht jetzt ein mißvergnügtes Gegreine durch ganz Berlin, weil angeblich - natürlich ist die Zahl übertrieben - 70 Prozent aller Schweizer Hotelzimmer von Deutschen besetzt sind, während man sich darüber doch nur freuen sollte, auch wenn man - wie ich - nicht zu diesen Deutschen zählt und, notabene, der Ansicht ist, daß nur ein kleiner Teil dieser Leute wirklich zu unseren Landsleuten gehört; meist stammen sie wohl aus Österreich, der Tschechoslowakei, Galizien. Immerhin weiß ich beispielsweise unter den jetzigen Arosa-Pilgern auch eine sehr liebe und gütige Dame aus Berlin, der schon im vorigen Jahr die Ärzte sagten, dort in den Bergen Graubündens werde ihre Lunge bestimmt wieder gesund. Aber da ging es nicht. Erst die Rentenmark macht es jetzt möglich. So haben viele aus gesundheitlichen Gründen die Reise nötig - auch dem Dichter Klabund, dem Berliner Alfred Henschke, haben seine Freunde die Kur drüben jetzt ermöglicht - und andere können zu geschäftlichen oder zu Studienzwecken endlich wieder hinaus. Bisher hatten wir uns unter dem Heuschreckenschwarm der Fremden im eigenen Lande geduckt. Nun kommt es endlich, endlich wieder anders.

In einer ausländischen Zeitung lese ich, dieses Reisen der Deutschen in heutiger Zeit sei ein Skandal. Dor lach ick över. Haben dieselben Blätter über den "Skandal" der Überflutung Deutschlands in den letzten Jahren geschrieben? Nein, sondern daß man für hundert Dollar hier ein Ahnenschloß kaufen könne. Ein Skandal ist es vielmehr, wenn unsere löblichen Behörden schon wieder an Reiseverbote denken. Damit nur ja der Deutsche binnenländisch verhockt und keinen weiten Blick bekommt. Und ein Skandal ist die Bettelei unserer Offiziellen im ganzen Auslande. Sie sollten lieber selber für weitere Gesundung unserer Wirtschaft sorgen, nachdem Helfferich sie auf den rechten Weg gestoßen hat.

Natürlich sitzen wir im Grunde noch tief in der Tinte, das ganze gebildete Deutschland ist durch die Inflation enterbt und in die Pariakaste verschoben worden, und auch der Handarbeiter bekommt jetzt in der auftraglosen Zeit die ganze Schwere dessen zu fühlen, was seine Volksvertreter 1918 und 1919 leichtfertig unterschrieben haben. Wie groß die Not noch ist, kann man heute an jeder Bordschwelle studieren, wo neben den beamteten städtischen Straßenreinigern auch Arbeitslose aller Art sich mühen, den Schnee zusammenzuschaufeln. Ich stehe vor einem Schaufenster in einer Hauptstraße wie vor einem Spiegel und beobachte nach rückwärts. Da schippt ein älterer Herr, der in Gummischuhen, weißem Kragenschoner und gutem Herbstpaletot erschienen ist, sicherlich also bis vor kurzem die äußerste Not noch nicht kannte. Immer wieder läßt er die Schaufel los und rückt sich den Kneifer zurecht, der an der schweißnassen Nase keinen Halt mehr findet. Er gibt den Genossen nur wortkarg auf ihre Fragen Bescheid. Alles, alles fällt ihm leicht, nur nicht das "Du", mit dem man ihn anredet, wie unter Arbeitskameraden üblich. Zögernd erklärt er endlich den Wißbegierigen, daß er bis zum November Referent einer Außenhandelsstelle war und seit dem vorigen Monat für Frau und Kinder keinen Pfennig mehr besitzt, daß auch niemand mehr sein bißchen Hausplunder stückweise ihm abkaufen wolle. Ein paar Schritte weiter höre ich das Bruchstück eines anderen Gespräches.   "Wat bist'n du?"   "Student."   "Du hats ja keene Schmisse?"   "Ist auch nicht nötig."   "Wat machst'n sonst?"   "Ich trage Zeitungen aus."   "Un denn?"   "Abends manchmal Hilfskellner."   Die beamteten Straßenreiniger kommen sich sehr sachverständig und sehr wichtig vor und beschränken sich vielfach auf bloße Aufsicht. Den müdegearbeiteten Arbeitslosen aller Stände aber grinst nachher verdoppeltes Elend entgegen, denn nach dem Schneeschippen in der würzigen Winterluft gibt es einen unbändigen Hunger - und den kann man doch knapp zu 20 Prozent stillen. Die wirklich Notleidenden schreien ihre Not nur selten hinaus. Im städtischen Asyl für Obdachlose hat man neulich einen ehedem aktiven Hauptmann mit seiner Frau aufgestöbert, der auch nur still die Zähne zusammengebissen hatte, als er überall mit seinem Begehr um Arbeit abgewiesen worden war und schließlich sogar das Stübchen verloren hatte.

Manch einer hat sich in einen Nebenberuf gerettet. "Adi", um nur den Vornamen zu nennen, ein Hofopernsänger von Ruf, animierte als Erster die Gäste seines Unterhaltungsrestaurants zum Trinken. "Vicky", einst Müchener Staatstheaterintendant, hat auch eine Wirtsstube. So wie "Siegmund" schon früher seinen Tenor in einer Pilsener Kneipe anlegte. Wedekinds Witwe tingelt und brettelt. Andere Witwen pfuschen leibhaftigen Artisten ins Handwerk. In der Mehrheit leben diese Leute vom Berliner Nachtleben, dessen Einschränkung für sie alle den Hungerstrick bedeuten würde. "Konni", den Ältesten vom akademisch-dramatischen Verein noch bekannt, verkauft Zeitungen an einem Bahnhof. "Alfred" hält nachts in der Kantstraße warme Würstchen feil. "Hermann" putzt für 20 Pfennig mit klammen Fingern jedem Passanten die Stiefel. Das alles sind hochgebildete Leute, die früher vielleicht nur sich schüttelnd gelesen haben, daß es "so etwas" in Amerika gäbe. An der Wiege oder gar auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge ist ihnen das jedenfalls nicht gesungen worden.

Wer in solchen Zeiten heil durchkommt, in solchen Übergangszeiten, denen eine Neuordnung der Verhältnisse folgen muß, da eine progressive Verelendung doch nicht ins Unendliche geht, der sieht schon das feste Land von früher winken. Wenn wir erst außer dem Achtstundentag auch alle übrigen "Errungenschaften" der Revolution über Bord geworfen haben, ist ein Wiederaufbau des früheren soliden Lebens möglich. Es gibt schon Familien, die an das erneute Erstehen der Haustochter glauben, die daheim der Mutter hilft und darauf wartet, daß "Er, der Herrlichste von allen" einst aus der Versenkung auftaucht; die also nicht mehr tippen oder rhythmische Gymnastik lehren oder Schokolade verkaufen oder buchhalten oder in die Reiffensteinschen Anstalten gehen muß.

Es erwacht auch schon wieder, nach langem Dornröschenschlafe, hie und da so etwas wie ein Berliner Salon. Nicht ganz so einer wie der der Varnhagen von anno Käsebrötchen und Spinett. Man wird heute materiell besser, geistig schlechter genährt, und statt über klassische Dichtung spricht man mehr über Radiofunk und Deutsche Erdölaktien und Tanzsport. Zwei der alten über den Krieg und die Revolution hinübergeretteten Salons sind in diesen Tagen infolge Todes der Inhaberin eingegangen. Der eine gehörte der Frau Justina Rodenberg, der Witwe des Herausgebers der Deutschen Rundschau, bei der sich immer noch ein großer Teil des geistigen Berlins zu treffen pflegte. Der andere der 97jährigen Marie v. Olfers, der Bastlerin und Märchenerzählerin, die gestern als hilflose Greisin einer dummen aus dem Kamin herausgefallenen Kohle, die ihr Kleid in Brand setzte, erlag. Die neuen Salons haben noch nicht das Heimlich-traute der alten, haben noch nicht ihre Kultur und auch nicht ihre Gesellschaft, die früher doch enger beieinander in den Straßen in der Tiergarten-Gegend wohnte und heute über die Zwanzigkilometerstrecke vom Pariser Platz bis zum Wannsee zerstreut ist. Die Wärme, das Licht, die Lebensmittel hat man ja wieder. So versucht es denn manche Dame, die vor fünf Jahren in der guten Gesellschaft noch kaum bekannt war, aus ihrem Salon jetzt einen Mittelpunkt für größere Kreise zu machen. Es ist wieder so, daß man sich vor Einladungen manchmal nicht zu retten weiß, wenn man singen oder geigen kann oder aus Gott weiß was für einem sonstigen Grunde für ein interessantes Menschenkind gehalten wird. Nur gilt von manchen dieser Berliner Damen leider das alte Wort: wenn bei den Frauen die Nuits vorbei sind, dann fangen sie mit den Jours an.
10.Januar 1924 (Donnerstag)


20

Bismarcks Leibarzt - Was ein Skandal ist - Keine Bananen - Nach allem stets Shimmy - Klappstullen-Abende - Bitte paarweise einladen - Auf dem Kolonialball.

Meine damals blutjunge Frau - wir waren zusammen 43 Jahre alt - stieß mich an und zeigte mit den Augen nach dem schwarzen Mann und fragte leise: "Ist das ein Armenier?"

So sah er ja auch aus; bis über die Backenknochen, hart unter die Augen, wucherte der dunkle Bart Professor Dr. Ernst Schweningers, der da am Ofen in Varzin stand und, die Arme über der Brust verschränkt, mit einem wahren Tierbändigerblick ständig zu dem Fürsten Bismarck hinübersah. Erst allmählich wurde es uns klar, daß es der Blick des besorgten Leibarztes war; das bißchen Pose konnte man dem berühmten Helfer schon verzeihen, und der Altkanzler sprach ja wieder auch wohl mehr, als ihm gut war, zu der Tafelrunde, an der etwa ein Dutzend Fremder außer den ständigen Hausgenossen in jenen Tagen sich versammelt hatte.

Etwas unheimlich war Schweninger für Damen anfangs immer. Sie starrten auf seine feinen, aber dicht und schwarz behaarten Hände. Sie starrten in sein schweigendes Antlitz, und sie starrten noch mehr in das sprühend lebendige Gesicht, wenn er zu sprechen begann. Und wie konnte er sprechen! Er war mehr als bloß geistvoll; er war ein verwegener Causeur.

Wegen einer Skandalgeschichte hatte er einst seine eben begonnene Laufbahn an der Universität München aufgeben müssen. In reifen Jahren hatte er die geschiedene Frau Lenbachs geheiratet, eine geborene Gräfin Moltke. Sein Vater war nicht etwa ein Exote, sondern ein biederer bayrischer Bezirksarzt. Seine Mutter aber stammte aus einem alten freiherrlichen Geschlecht, das in seinem Blute italienischen Einschlag hatte. Diese Mischung brachte dem jungen Ernst Schweninger eine fast junkerhaft burschikose Note in sein ganzes Leben, eine gewisse adelige Unbekümmertheit um Hinz und Kunz. Er war ein Renaissancemensch. Er sprach und kurierte al fresco.

Es ist nur eine Legende, daß er, als Bismarck ihn das erstemal zu sich berufen hatte, auf die Aufforderung, zu sehen, was los sei, aber mit keinerlei Fragen zu kommen, geantwortet habe: "Dann müssen Durchlaucht sich lieber einen Tierarzt holen lassen!" Aber die Legende ist gut erfunden. Bismarck selbst hat einst bekannt: "Meine früheren Ärzte habe ich behandelt, der aber behandelt mich." Schweninger hatte sich in einer Art durchgesetzt, die kein anderer gewagt hätte. Er hatte dem von Schlaflosigkeit, von Atemnot, von Neuralgien geplagten Fürsten eine bestimmte Diät vorgeschrieben. Am nächsten Tage stellte Bismarck beim Mittagessen einen Teller mit verbotenen Dingen vor sich hin und stopfte mit spitzbübischem Lächeln noch einen ganzen Haufen Sauerkohl dazu. Da stand Schweninger, der unten am Ende der Tafel saß, auf, nahm dem Fürsten den Teller weg und schüttete den Inhalt einfach zum Fenster hinaus. Nun stand es für Bismarck fest: Der Kerl kann was! Eine verwandte Saite war angeschlagen. Genau so hätte der Junker Otto von Bismarck gehandelt, wenn er Arzt geworden wäre. Auch als Diplomat hatte er mitunter solche Taktik geübt. Dabei war dieser Professor Dr. Ernst Schweninger, obwohl er schon vor Robert Koch - nur, ohne es zu veröffentlichen - den Cholerabazillus entdeckt hatte, eigentlich gar kein berühmter Arzt. Vielleicht überhaupt kein zünftiger Arzt in hergebrachtem Sinne. Als Politiker hätte man ihn einen Feuilletonisten genannt; als Arzt nannte man ihn einen Charlatan.

Schweninger hielt sehr wenig von Arzeneien überhaupt. Er wollte nur der Natur mit natürlichen Mitteln helfen. Vor allem den Menschen individuell behandeln. Das ist für einen Leibarzt ein guter Marschbefehl, und so war das Studium der riesenhaften Physis Bismarcks denn auch erfolgreich und Schweninger bis zum Lebensende des Großen sein Helfer und Freund. Für den Chefarzt eines Krankenhauses aber gelten andere Regeln; und so mußte derselbe Schweninger später in unserem Berliner Vorort Lichterfelde, vielbefehdet von der Kollegenschaft, als Leiter des dortigen Kreiskrankenhauses scheitern, nachdem geradezu feuilletonistische Zustände in der Anstalt eingerissen waren.

Schweninger war ein faszinierender Mensch, fast noch mehr als Karl Ludwig Schleich, der gleichzeitig mit ihm - und im Hader mit ihm - in Lichterfelde amtierte; als Chirurg, während Schweninger "Innerer" war. Schweninger faszinierte als eine Art Svengali, der sein Medium nur einmal scharf anzusehen braucht, um es willenlos zu machen, Professor Dr. Schleich aber siegte am Krankenbett weniger durch Geist als durch seine unendliche Menschengüte. Außerdem konnte man sich auf sein Messer ebenso verlassen wie auf seine Aphorismen. Einen landläufigen Arzt mit viel Rezeptieren, mit dem nachdenklich an die Nase gelegten goldenen Stockknopf, mit viel lateinisch-griechischen Fachausdrücken konnte Bismarck nicht brauchen. Der eiserne Kanzler mußte sozusagen geritten werden. Und als ärztlicher Bereiter erkannte ein Mensch von seinem Wissensreichtum, von seiner federnden geistigen Elastizität auch nur einen an, der, wie Schweninger, ebenfalls - trotz alles robusten Auftretens im Einzelfalle - von feinster Kultur durchtränkt war. In erinnere mich einer wundervollen Plauderei mit ihm. Nicht damals in Varzin, sondern ein anderes Mal, schon vorher, in Friedrichsruh. Thema: Das Korsett. Schweninger fing bei dem Gesetzgeber Lykurg an und endete beim Robenkünstler Drekoll. Dazwischen sprach er vom Aussterben der hochgeschnürten Dachauer Bäuerinnen und auch ein wenig von dem Geschlecht, das für den kommenden Zweifrontenkrieg gesund geboren und gesäugt werden müsse. Wir waren hingerissen. Meine Frau, die, wie sie behauptete, "von Natur" die schmalste Taille aller Damen der ganzen Provinz besaß ("Herr Professor, ich schnüre mich wirklich nicht, man kann die ganze Hand dazwischen stecken!") schwor für Lebenszeit dem Korsett ab. Es gab keinen überzeugenderen Menschen als Schweninger.

Das Beste an ihm aber war doch das Schweigenkönnen. Füst Bismarck hat überhaupt nie über Indiskretionen seiner engsten Umgebung zu klagen brauchen. Kein einziger Brief Bismarcks an Schweninger ist bisher veröffentlicht. Still hat der Leibarzt des Kanzlers die letzten Jahre in München verlebt und ist wortlos in den Tod gegangen. Nur wir von damals kannten ihn noch bis zuletzt. Die Masse der Berliner hatte den Leiter ihres ehedem größten Krankenhauses längst vergessen.

Man hat ja heute auch ganz andere Sorgen.

"Een Skandal is et!"

Der dicke Berliner, Typ Bierfahrer, der neben mir vor dem Schaufenster des Feinkostgeschäftes steht, hat schon eine Weile unwillig gegrunzt und schmettert nun den "Skandal" mit einem Seitenblick auf mich nur so hin. Er hat sich die ganze Zeit gegiftet. Ich habe mich die ganze Zeit gefreut. Auch für mich ist alles das da in der Auslage nur Schaugericht, aber ich "schlampampe" im Geiste wie Leberecht Hühnchen, ich stelle mir die erlesensten Sachen zusammen und debattiere mit mir selber, ob ich den Hummer, wenn ich ihn hätte, kalt oder warm auftischen würde, und ob ich die Trüffeln, wenn ich sie bezahlen könnte, eigens und ganz in der Serviette geben oder in die Geflügelpastete schneiden lassen sollte. Solche Erwägungen kosten kein Geld und machen Laune, ich gönne sie mir fast täglich ein paar Minuten und bin davon ganz ungemein erfrischt. Aber nun schnauzt mein Nachbar. Skandal!

Was den, was denn, frage ich.

Ja, die Ananas, die 20 Ananas in einer Reihe! Ein Skandal, daß die Reichen so was fressen und dafür das sündhafte Geld, 6 Mark für das Pfund, ins Ausland schicken, wo es uns doch so dreckig geht.

Ob er denn wisse, woher die Ananas käme, frage ich.

"Na nadierlich, irgendwo hintern Äquator, det ham wa schon in der Schule jelernt; bei die ausländischen Plantagenbesitzer, die wo sich Sklaven halten!"

Ach was. Diese Ananas, mein Lieber, sind allesamt in Treibhäusern in Schlesien gewachsen. Sie sind klein, nicht wahr? Ja, das sind sie, die großen exotischen kommen vielleicht noch. Diese aber sind deutsche Zucht. Und ob er wisse, woher die schönen Brüsseler Weintrauben stammten? Aus Dallmin in der Mark, von dem Gute des verstorbenen früheren Landwirtschaftsministers v. Podbielski. Und der Allasch wird in Mecklenburg gemacht, der Curaçao in Berlin, der Angostura in Hamburg. Der "echt englische" Kammgarnstoff meines Anzuges hat in Cottbus das Licht der Welt erblickt. Ja, mein Lieber. Es ist so. Und wenn wir auf alles das und tausend andere Dinge verzichten, dann werden nicht nur soundso viele Gärtner und Likörbrenner und Weber brotlos, sondern unsere ganze Volkswirtschaft kommt in Unordnung. Was sollen die Schneiderinnen alle anfangen, wenn es keine modischen Damen mehr gibt? Wer soll die Zigarrenmacher ernähren, wenn wir allesamt, wo "es uns doch so dreckig geht", nur noch Pfäzer Tabak in der Pfeife rauchen? Übrigens sehe er, mein Herr Nachbar, doch auch nicht gerade schlecht genährt aus. Ich dächte, zweimal Eisbein mit Sauerkraut und fünf Nordhäuser dazu, das leiste er sich doch wohl gelegentlich, was?

Wir scheiden als die besten Freunde. Ich schlendere weiter und erfrische mich dann am nächsten Feinkostgeschäft wieder von außen. Merkwürdig, es ist "alles wieder da", aber in ganz Berli sieht man - keine Bananen. Für die war doch sonst jetzt die richtige Zeit. Vor etwa sechs Wochen sah ich zum letztenmal eine Banane. Eine junge Frau, die mir in der Trambahn gegenüber saß, kramte in ihrer Ledertasche nach dem Umsteigefahrschein, nahm ihre Siebensachen dabei alle heraus und hielt schließlich in der einen Hand eine Banane. Sofort prusteten ein paar Herren los. Dann lachte der ganze Wagen - und die junge Frau wurde puterrot. Dabei ist doch aber nichts! Warum soll man nicht eine Banane in der Hand haben dürfen? Je nun, man darf es eben nicht! Man will doch nicht angefeixt werden, weil ganz neuerdings die Banane einen amerikanisch-niggerhaften obszönen Nebensinn hat. Am Ende gar singt der ganze Chorus:

"We have no bananas to-day!"

Alle Schlager der Saison sind mausetot, seit das Bananenlied der beiden - nicht ganz hundertprozentigen - Amerikaner Silbers und Cohen auf der Reise um die Welt auch Berlin erreicht hat. Es ist "der" Shimmy der Saison. Auf alle Klaviere wird mit Bananen gehämmert. Alle Kaffeehauspärchen trällern zur Musik auf deutsch: "Ausgerechnet Bananen!" Keine Grammophonplatte kann man kaufen, ohne die mit Bananen auch vorgelegt zu bekommen.

Dabei brauchen wir doch überhaupt keinen Shimmy und keinen Java mehr. Man kann doch alles nach jeder Musik tanzen. Dieser Tage haben wir zu Hause, in der großen Halle, wieder einmal "ganz zwanglos", so wie es die vorgeschrittene Minute eingab, ein Tanzvergnügen für die zahlreich erschienene Jugend der Familie samt Bekannten sozusagen vom Zaune gebrochen. Es ist nicht mehr das Vergnügen, das unsere Generation einst hatte. Damals schlugen nach jedem einzelnen Tanze die Pulse wie wild, die Dame fächerte sich, der Herr tupfte sich die Stirn, und auf dem Sofa sank man unwillkürlich näher zueinander hin. Heute wird der Tanz eiskalt serviert. Keine gebrannte Hamletlocke könnte dabei strähnig werden. Diese ruhige Gemessenheit ist nichts für mich, der ich mein erstes Tanzen an den Lagerfeuern der Steppe erlernt habe, also bin ich, um doch zu etwas nütze zu sein, in diesem Jahre zum erstenmal zum Grammophon-Andreher degradiert worden. Ich hantiere mit den Platten wie mit Diskusscheiben, sie fliegen nur so aus dem Kasten auf den Bolzen, die Walzer und die Onesteps, die Foxtrotts und die Rheinländer, Altes und Neues hintereinander und durcheinander, und wenn die Sachen abschnurren und ich aus dem roten Zimmer in die Halle sehe, wogt dort das junge Volk, scheinbar unbekümmert um die Rhythmen der Musik, immer in derselben hohepriesterlichen Art hin und her. Da kriege ich einen spitzbübischen Gedanken. Ich lege die Fanfare der Deutzer Kürassiere auf. Dann die Träumerei von Schumann. Dann Siegfrieds Schmiedelied. Dann Gounods Ave Maria.

Sie merken nichts!

Sie tanzen unentwegt weiter. Immer Shimmy. Nach jeder Musik. Ich glaube, das nächste Mal leihe ich mir heimlich noch ein zweites Grammophon, drehe beide gleichzeitig an und lasse auf dem einen "Lustige Schlittenpartie", auf dem anderen "Frühmorgens, wenn die Hähne krähn" laufen. Sie werden wieder Shimmy tanzen. Und womöglich fragen, wo ich die famose Jazz-Band auf einmal herhätte.

Aber so etwas kann, wie gesagt, nur improvisiert werden. Eine richtige Tanzgesellschaft kann man doch nicht mehr geben. Nicht etwas deswegen, weil das kalte Buffet oder der Apfelsinensalat oder die sanfte Bowle die Kräfte überstiegen.

Ach nein. Man ist ja so anspruchslos geworden.

Gerade habe ich mit meinem lieben Paul von Kügelgen gesprochen, dem Großneffen des "Alten Mannes" und Herausgeber seiner Erinnerungen. Er und sein Bruder Luscha, der einarmige, leben mit ihren Familien - sie sind auch deutsche Flüchtlinge - zusammen in einem Hause draußen in Zehlendorf und machen trotz veränderter Verhältnisse immer noch "ein Haus" mit viel fröhlicher Geselligkeit. "Wie fangt ihr das eigentlich an, du hast es doch eigentlich jetzt recht knapp?" frage ich. Da leuchten seine Augen. "Wir machen Klappstullenabende!" Jeder Gast bringe seine belegten Brote mit, und der Grog dazu werde gemeinsam bezahlt, aber lustig sei es immer, und jedermann sprühe von Geist. Da könnte ich fast neidisch werden, - ich kann bei Klappstullen nicht sprühen. Aber das ist es ja auch nicht, was bei uns und zahlreichen anderen Familien eine Tanzgesellschaft zu solch einem schwierigen Unternehmen macht, sondern etwas ganz anderes, nämlich das, was wir die Paarung der Menschheit nennen. Da kommt eine Tochter aus der Gegend von Schievelbein in Pommern und eine Nichte aus Cassel zu uns. Oder ein Sohn aus München und der Neffe Kunsthistoriker aus Bonn. Man will in dem einen Fall also zwei junge Herren, in dem anderen zwei junge Damen extra einladen, damit jedermann versorgt ist. Ausgeschlossen! Zu einem Tanzabend auch in der Familie lassen sich die Berliner jungen Leutchen heute eben nur noch paarweise einladen. Man hat jemand, mit dem man "eingetanzt" ist. Von dem ist man unzertrennlich. Eher könntest du einen siamesischen Zwilling halbieren. Ist das Glück gut, so ist das Paar verlobt oder will sich wenigstens verloben, aber nötig ist das nicht. Es gibt junge Mädchen, die zusammen mit ihrem Bräutigam gern zu einem Diner gehen. Aber zum Tanz nur mit ihrem Partner. Sonst haben sie für den vielleicht gar nichts übrig. Sie unterhalten sich kaum mit ihm. Er ist am Ende ganz fade. Aber er tanzt gut. Augenfälliger ist wirklich kein Beweis dafür möglich, daß im Tanz von heute gar keine Leidenschaft mehr steckt.

Von den großen hergebrachten öffentlichen Bällen Berlins hat der Kolonialball am vorigen Sonnabend wieder alle Räume der Philharmonie dicht gefüllt. Während der Aufführungen - o, Niddy Impekoven tollte zugunsten der verjagten Überseedeutschen über die Bühne - hatte ich für 26 Mark (die Wohltätigkeit frißt am Rentenmark) einen Sitzplatz hinter einer viermannsdicken Säule der letzten Parterreloge, aber sonst war es recht amüsant. Der Kolonialball ist der solideste von allen. Exzellenzen mit Halsorden und ihre Gattinnen arrangieren ihn mit Hilfe jüngerer Herren von draußen, man sieht mehr als sonst irgendwo Offiziere in Uniform, es trifft sich da alles, was jemals im Kameruner Busch oder am Viktoriasee oder in Herbertshöhe oder auf einer samoanischen Pflanzung zu tun hatte, mit denen, die in der gleichen Zeit in der Wilhelmstraße Nr. 62 den kolonialen Assessorismus vertraten. Es erregt Aufsehen, daß eine Dame in einer lachsfarbenen Toga erscheint, die über die rechte Schulter geht und die linke Brust freiläßt. "Ganz frei!" zischelt mir die Frau eines Kapitänleutnants zu. Ach nein, Gnädigste, Sie irren sich, so etwas ist auf dem Kolonialball unmöglich; ich habe mir vorhin für diesen Fall, da es die einzige mich interessierende Toilette war, eigens die Schießbrille aufgesetzt, die ich einst trug, als ich im Kriege hoch in den Lüften mit dem Daumen am Maschinengewehr auf feindliche Fliegerhäschen pürschte, aber ich habe nichts Derartiges entdeckt: die linke Brust ist von einer feinen silberdurchwirkten Tüllspitze bedeckt. Es ist überhaupt fast lauter nettes, gutes Familienpublikum da. Man sieht sogar - unter viel Jungvolk - grauhaarige Damen in hochgeschlossenem Kleide tanzen, so hoch geschlossen, daß der Kragen noch extra durch eingelegte Stäbchen bis hinter die Ohren emporgehoben wird. Entsprechend der Mischung der Generationen wird gleichzeitig Walzer und Boston und Shimmy nach derselben Musik getanzt. Und selbstverständlich fängt auf dem Kolonialball die Musik gleich exotisch an:

"We have no bananas to-day!"

Das macht nichts. Man ist harmlos vergnügt, man trifft unzählige Bekannte, man ärgert sich auch nicht über das Fehlen einer Kleiderordnung. Die Mehrzahl der Herren ist zwar im Frack erschienen, ein kleiner Teil im Smoking, die Mehrzahl der Damen in der Ballrobe, ein kleiner Teil im Teekleid, aber eine Dame tanzt auch mit dem Trotteurhütchen auf dem Kopf, und ein Herr ist im braunen Straßenanzug mit grüngestreiftem Zephirhemd und violetter Krawatte genau so vergnügt - und seine Tänzerin auch - wie die Korrekten. Schade nur, daß, abgesehen von einigen bekannten Afrikanern, denen aber nicht jeder Fremde diese Eigenschaft ansieht, so gar nichts auf diesem Ball an unsere Kolonien erinnert. Nicht mal in der Tombola, wo man Fläschchen Likör, Torten, Shimmynoten, Schönheitskrem und andere Sächelchen gewinnen kann. Wären wir Franzosen, so wäre auch hier mitten in der Luft irgendein Memento aufgebaut worden, irgendein Denkedran für die leichtfüßige und leichtherzige Jugend, damit wenigstens einen Augenblick lang eine Welle heißer nationaler Leidenschaft um alles Geraubte durch den Saal hätte fluten können.

Jetzt sind unsere Kolonien, von uns sorgsam als Kulturträger aufgebaut, Ausbeutungsobjekt für die Fremden. Für was für Fremde! Für was für eine culture! Die letzten Ritter der "Akademischen Palmen" in Paris sind die beiden Clowns Fratellini und der Filmfratz Chaplin.
17.Januar 1924 (Donnerstag)


21

Dem Dichter des Deutschland-Liedes - Ebert in der Staatsbibliothek - Ist Hoffmann von Fallersleben Demokrat gewesen? - Ordensfest-Erinnerung - Vom Schmarotzen und vom Wohltun in Berlin - Nothilfe mit 116 Volksküchen - Etwas von der Komiteedame.

"Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald!", klimperten wir als kleine Bübchen selig mit einem Finger auf dem Klavier, und dann haben es unsere eigenen Kinder getan, und deren Kinder werden es wohl wieder voll Staunen über die Leistung versuchen. Aber wer in diesen drei Generationen weiß es denn, daß das Liedchen wie auch so vieles andere Schelmisch-muntere bis auf den "Honigkuchenmann" von Hoffmann von Fallersleben stammt, dem Dichter unseres Deutschlandliedes? Je nun, bei Kinderliedchen fragt man nicht nach dem Verfasser, die nimmt man so eben hin wie Märchen und Küchenrezept und Armeemarsch und Tischgebet. "Die Kinderwelt ist mein Lustgarten!", hat der Alte einmal fröhlich erklärt, wie sein Sohn, jetzt selber ein Alter, beim Fünfzig-Jahr-Gedenken des Todes von Hoffmann von Fallersleben uns erzählt. Eine schlichte Feier in der Berliner Staatsbibliothek, verbunden mit einer Ausstellung von Büchern, Handschriften und sonstigen Erinnerungen, vereinigt dazu ein paar hundert gute Deutsche, für die der 1874 verstorbene greise Bibliothekar Dr. Hoffmann mehr war als bloß Kinderliederdichter und Stammtischpoet und Volkstumerforscher: nämlich der gute Deutsche schlechthin, der uns "Deutschland, Deutschland über alles" gab.

Ein bißchen viel Trara ist um den liebenswürdigen Hoffmann v.Fallersleben jetzt gemacht worden. Daß der sozusagen erste Gentleman der Nation, Herr Fritz Ebert, im Cutaway und mit funkelnden Brillanten im Schlips die Feier verschönte und durch sein strotzend gesundes Aussehen bewies, um wieviel sorgloser es sich doch in einer Republik regieren läßt als in einer Monarchie, gehört auch dazu. Herr Ebert hat ja nicht nur Goethe für das deutsche Volk entdeckt, der "bisher nur einem kleinen Kreise Fachgelehrter" bekannt gewesen sei, sondern auch Hoffmanns Deutschlandlied zur Nationalhymne erklärt. Ja, so unterstützt die Sozialdemokratie unsere verkannten Genies! Trotzdem möchte ich niemand raten, in einer Versammlung roter Genossen "Deutschland, Deutschland über alles" anzustimmen, wenn er nicht halbtot geschlagen sein will; denn in Wahrheit hassen unsere Internationalisten nichts so sehr als jedes Bekenntnis zum Deutschtum, das in ganz anderen Kreisen mit Freuden gesungen zu werden pflegt. Hoffmann von Fallersleben sprach es in stolzer Hoffnung aus. Wir singen es in wehmütiger Erinnerung. Dazwischen liegt die Erfüllung durch Bismarck - und dann der Trümmerhaufen vom November. "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt" reicht Hoffmanns deutsches Deutschland; heute wird an diesen vier Ecken alles Deutsche ausgerottet, sogar unsere innerdeutschen Ströme Rhein, Elbe, Oder sind unter Kommissaren fremder Nationen Gefangene - und wir sollen noch dazu nach dem Wunsche aller Demokraten schleunigst in den Völkerbund eintreten, den Versicherungsverein der Einbrecher, dessen Mitgliedschaft an die feierliche Anerkennung der neuen territorialen Zustände gebunden ist. Das allergrößte Trara hat zum Hoffmann-Tage selbstverständlich die demokratische Presse gemacht, denn - ein Demokrat durch und durch sei Hoffmann von Fallersleben gewesen. Man lächelt. Sicherlich wird es auch Bismarck einst ähnlich gehen. Begründung etwa: laut eigenem Bekenntnis war er als Primaner republikanisch gesinnt, und außerdem hat er das allgemeine Wahlrecht eingeführt und schließlich sehr harte Worte wider Wilhelm II. gefunden. Merkwürdig, daß trotzdem nicht Tausende von Demokraten, sondern nur einige hundert meist ganz rechts stehende Männer und Frauen außer den nächsten Angehörigen und Bekannten der Familie Hoffmann zu der stillen Feier in der Staatsbibliothek kamen. Wir können nur mit leisem Schmunzeln feststellen, daß von den Deutschvölkischen bis zu den Sozialdemokraten heute jedermann offiziell zur Fahne Hoffmanns stehen will, wie einst ja auch sieben Städte um den Ruhm sich stritten, Homers Geburtsort zu sein. Aber das dröhnende Lachen des alten Hoffmann selbst möchten wir hören, wenn jemand ihm heute in die Gefilde der Seligen melden könnte, er - sei zum Demokraten avanciert und daher u.a. auch mitverantwortlich für das blutige absolutistische "Gesetz zum Schutze der Republik" wider nationale Demagogen, unter denen er doch, der begeisterte Sänger Theodor Körners, einst einer der hervorragendsten war.

Ganz ohne Gepränge ist ein anderer Berliner Erinnerungstag vergangen, der 18. Januar. Ich meine nicht den Gründungstag des Reiches; der hat manchen Geistesgewaltigen Redner auf das Katheder gelockt, darunter als den hinreißendsten unserern preußischen Tyrtäus, den Rektor der Berliner Universität Geheimrat Roethe. Nein, der 18. Januar hat für Berlin noch etwas Eigenes und Besonderes. An dem Tage - zum letztenmal vor zehn Jahren - waren immer alle Räume des Königlichen Schlosses für das größte und demokratischste Fest bei Hofe hell erleuchtet, für das Ordensfest, bei dem hoch und gering nebeneinander in bunter Reihe tafelte: alle die zu diesem Tage Dekorierten. Ob sie den Roten Adlerorden 1. Klasse oder das Allgemeine Ehrenzeichen, das Eichenlaub zum Pour le Mérite oder die Kronenorden-Medaille bekommen hatten, war gleich. Der General und der Bäckermeister, der königliche Prinz und der Nachtwächter, der Minister und der Feuerwehrmann, der Professor und der Logenschließer schmausten einträchtig alle Herrlichkeiten und sprachen dem guten Weine zu und freuten sich gemeinsam mit dem Landesvater, der nachher das Hoch auf sie ausbrachte, an der gesegneten Arbeit für der Väter Staat. Auf den Tafeln standen in Kristall-Aufsätzen ganze Pyramiden von Bonbons und Süßigkeiten für den Nachtisch, waren aber meist schon vorher verschwunden, weil - unter gutmütigem leisen Zureden der Lakaien - jedermann "für die Kinder zu Hause zum Mitbringen" sich etwas davon einsteckte. Und da konnte es denn geschehen, daß ein fröhlich beschwipster Schornsteinfeger aufstand, querab auf den Kronprinzen zusteuerte, ihn auf die Schulter klopfte, lautschallend rief: "Hahaha, Ihr seid ja jarnich so! Et is ja janz jemütlich bei Euch!" und dabei sein mir Pralinen wohlgefülltes buntes Taschentuch schwang, so daß die Knoten sich lösten und der Inhalt auf die Diele kullerte. Im selben Moment lag der Kronprinz lang auf dem Bauche und half suchen; und lustiger konnte es auf keinem Volksfest sein.

Damals war man doch noch so etwas wie eine einzige große Familie. Damals war man doch noch ein Herz und eine Seele. Wir sind seither nicht um einen Millimeter einander näher gekommen, eher haben sich die Gegensätze zwischen reich und arm, hoch und gering noch vertieft. Das Prassen der Revolutionsgewinnler kannte man damals noch nicht; es galt in guten Gesellschaftskreisen als unanständig, und nach den guten Gesellschaftskreisen richtete sich doch die Sitte. Und in diesen Kreisen vielfach nach dem Hof. Solch ein Mittelpunkt fehlt heute. Den wird ein Präsident uns nie ersetzen, weil er - auch wenn es ein anderer wäre als gerade Fritz Ebert - doch nie so tonangebend werden kann. Hie und da - das gilt besonders von dem benachbarten Potsdam - versucht man noch die alte Tradition hochzuhalten, die bei allem Reichtum doch Schlichtheit hieß, aber das ist sehr schwer; modernes Protzentum dringt durch alle Schlüssellöcher ein. Und auf der Gegenseite starrt die entsetzlichste Armut.

Im Auslande ist jetzt das Gerede nicht ohne Mitschuld amtlicher deutscher Stellen verbreitet, wir selber täten nichts für unsere Notleidenden, ließen uns nur durch fremde Liebesgaben füttern. Das ist ebenso falsch wie die Behauptung von den 70 Prozent deutscher Luxusreisender in Graubünden. In diesem Schweizer Kanton, in dem Arosa und Davos den Lungenkranken winken, die jetzt endlich auch aus Deutschland wieder hin können, waren vor zehn Jahren 51 Prozent aller Hotel- und Sanatoriumsgäste Deutsche, heute nur 22 Prozent. Und ebensowenig stimmt der Klatsch über unsere eigene Untätigkeit gegenüber deutscher Not. So hat die deutsche Landwirtschaft allein in das Ruhrgebiet im abgelaufenen Jahre als Liebesgabe 3891 Waggons voll Lebensmitteln geschickt, die einen Wert von 13,4 Millionen Goldmark hatten; das ist mehr, als sämtliche Länder der Welt für uns getan haben. Dazu sind mehrere Hunderttausend arme deutsche Kinder monatelang umsonst auf dem Lande verpflegt worden; und es gibt kein deutsches Land, keine deutsche Provinz, wo - aller öffentlichen Ststistik entzogen - nicht in der Stille noch mehr von unseren Landwirten getan worden wäre. Rein zufällig höre ich, daß eine der größten Volksküchen Berlins völlig von Herrn v.Arnim-Kröchlendorf und 14 anderen märkischen Gutsbesitzern unterhalten wird, aber so ohne jegliche Reklame, daß es mir Mühe gemacht hat, das von der Pastorin Hesse geleitete Unternehmen überhaupt aufzufinden. In den Berliner Nachbarkreisen, Teltow, Barnim usw., gibt es kein Bauernhaus, in dem nicht täglich durchschnittlich ein ganzes Brot, die Speckschnitten und das Sonstige ungerechnet, an bedürftige Städter ausgeteilt würde. Die Städter selbst, die noch etwas hergeben können, geben auch reichlich. Allein der "Notdienst Berliner Frauen", an dessen Spitze die organisatorisch so befähigte Anna v.Gierke, die frühere deutschnationale Abgeordnete, steht, gibt an 116 Stellen der Stadt für 20 Pfennig eine gute und ausreichende Mittagsmahlzeit an jeden Bedürftigen. Es wird also genug getan; nur ist die Not auch riesengroß.

Es wird so viel getan, daß mir fast sogar der Spott versagt, wenn ich wieder etwas von Komiteedamen höre. Im Grunde liebe ich sie sehr wenig. Sie sind unglaublich geschäftig, aber ihre eigenen Kinder sind frech und haben Löcher in den Strümpfen. Von ihrem armen Manne nicht erst zu reden! Aber diese Berliner Komiteedamen, wirklich eine ganz besondere Spezies der Menschheit, wissen so schön zu seufzen: "Ja, und dann noch der eigene Haushalt!" Ich habe in solch einen Haushalt hineingesehen und durfte sogar mitanschauen, wie die Hausfrau, obwohl eine dringende Komiteesitzung sie erwartete, sich dazu herabließ, persönlich für den Gatten das Frühstück zu bereiten. Das fing so an: "Anna! Meine weiße Schürze, bitte!" Dann knisterte die Dame heran und rief: "Anna! Den Teekessel, bitte!" Dann, nachdem sie ihn gedankenvoll betrachtet: "Anna! Etwas Wasser, bitte!" Nun stand das Kesselchen auf dem Gas und davor die Dame, die ihn mit den Blicken einer Schlangenbändigerin zehn Minuten lang, die Arme über der Schürze verschränkt, anstarrte, damit es zu kochen beginne. "Anna! Einen Topflappen, bitte!" Schon zischt der Dampf aus dem Schnabel. "Anna! Eine Tasse, bitte!" Die arme Anna, die Mohrrüben schaben und Kartoffeln schälen muß, ist zu nichts gekommen, ist nur herumgesprungen. Meine Komiteedame hat im Grunde derweil nichts getan, wirft mir aber einen triumphierenden Blick zu und sagt:

"Sehen Sie, so schufte ich mich auch noch für meinen Mann ab!"
24.Januar 1924 (Donnerstag)



Glossen 16 - 18

Jahresinhalt

Glossen 22 - 24

© Karlheinz Everts