"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 4 - 6
27. September bis 12. Oktober 1923


4

Gehrock zu Tennisschuhen - Der Herr mit der Zeitung - Holladeria, Holladrio - Jungdeutschland in Waffen - Gute Musik - Der Reklamefeldzug für Mahler - Mazdaznanismus - Die Diktatur der Koalition.

Die melancholische Zusammenstellung von grauem Gehrock und weißen Tennisschuhen kommt mir auf der Straße entgegen. Zu dem grauen Gehrock gehörte früher ein dito Zylinder vor dem Pavillon des Unionklubs. Zu den weißen Tennisschuhen gehörte früher eine dito Flanellhose auf dem Spielplatz in Zehlendorf-West. Die neue Mischehe der beiden trauernd hinterbliebenen Bekleidungsstücke wäre früher so etwas wie ein öffentlicher Skandal gewesen. Heute fällt sie kaum auf; oder man lobt gar den tapferen Mann, der ruhig seine Fassade verschandelt, um Stiefel zu sparen. Ich kann dergleichen erzählen, ohne den mir so häufig Begegnenden zu kränken. Der alte Herr, der noch vor fünf Jahren jung aussah, kriegt das, was ich schreibe, doch nicht zu Gesicht, denn Zeitungen hält er sich nicht, Bücher kauft er sich nicht, sondern beschränkt notgedrungen seine geistige Tagesnahrung auf das, was an die Häuserwände plakatiert ist. Allenfalls erhascht er einmal ein paar Zeilen in der Straßenbahn, wenn ein weiter Weg ihn zu deren Benutzung zwingt. Das ist ja heute die freie Lesehalle für jedermann. Immer sitzt "der Herr mit der Zeitung" irgendwo in der Mitte. Die Nachbarn links und rechts machen Schlitzaugen, haben im Handumdrehen den Dollarkurs, den Markenbrotpreis, den Milliardeneinbruch in der Tiergartenvilla und die Schlager aus Poincarés letzter Rede herausgepickt. Zwei weitere Mitbürger links und rechts recken die Hälse und schlucken wenigstens die fettgedruckten Überschriften. Gegenüber aber sinkt eine Dame ganz in sich zusammen, hat ihr Kinn fast schon in Taillenhöhe und spießt ihre Blicke von unten her unter mühsamem Stirnfalten auf das interessante Blatt des Herrn mit der Zeitung. Er fühlt es, ohne daß ein Wort fällt; er fühlt es, daß er als Großkapitalist unter Verarmten gilt, weil er sich noch so etwas kaufen kann. In einer Regung von Menschenliebe läßt er die Zeitung, nachdem er sie durchgelesen hat, beim Aussteigen liegen. Noch nimmt sie keiner. Aber der Nachbar links und der Nachbar rechts rücken, während sie scheinbar uninteressiert geradeaus starren, unmerklich nach der Mitte zu, und schon legt einer wie achtlos die Hand auf das Blatt; da rückt der andere wieder ab. Fassung, Fassung! Immer Würde und Vornehmheit wahren, auch wenn ein Konkurrent zuerst am Ziele angelangt ist.

Solche kleinen, ein bißchen wehmütigen Geschichten erlebt man alle Tage, wenn man nicht mit geschlossenen Augen durch die Großstadt geht. Es ist rührend, wie klaglos unsere ehedem gebildeten Stände die Wandlung der Zeiten über sich ergehen lassen. Mitunter kriegt man freilich eine Wut auf alle diese Leute, die anscheinend überhaupt kein Temperament mehr besitzen und auch keine Faust mehr zum Wenden des Geschicks. Nur unsere gebildete Jugend, gerade auch die großstädtische, hat sich noch das heiße Herz erhalten. Die will noch ein anderes Deutschland. Ihre Leistungsfähigkeit verdreifacht sich. Der sogenannte Werkstudent arbeitet körperlich hart, um die Kosten für die geistige Fortbildung aufzubringen, lernt nebenbei mehr als jemals früher ein Bierstudent und hat trotzdem die innerliche Fröhlichkeit der Jugend nicht verloren. Das geht hinunter bis zu unseren Sekundanern, die manchmal doch nur noch Sonntags aufatmen können. Da sitzen ihrer viere, während gerade ein tüchtiger Regenhusch vom Himmel kommt, im Schutze einer Bahnunterführung im Grunewald und klampfen. Es klingt und klirrt und zirpt ganz heimlich vergnügt. Und dazu summen und singen sie, immer mit Holladeria Holladrio am Ende jeder Strophe, ihre köstlich fidelen Harmlosigkeiten:

Weil Frankfurt zu groß ist,
So teilt man es ein
In Frankfurt an der Oder
Und Frankfurt am Main.

Ich steh auf der Brücke
Und spuck in den Kahn,
Da freut sich die Spucke,
Daß sie Kahn fahren kann.

Holladeria, Holladrio, Holladeriaho. Die schlanken Burschen kennen ihren Xenophon seitenweis auswendig, haben aber auch im Turnen eine Zwei, kriegen zu Hause mittags meist nur Kartoffeln und Kohl durcheinandergekocht und verdienen sich ihre Stiefel und Kleider schon selber, indem sie - dies ist freilich nur ein seltener Glücksfall - Nachhilfestunden geben oder - häufiger - nachmittags als Radfahrer für ein Bureau tätig sind oder sonstwie im Erwerbsleben stehen.

Und nachts - exerzieren sie.

Alles Leid, das Deutschland betroffen hat, schreit in den Jungenherzen auf. Deutschland, die Mutter, in Not! Diese Jungen denken nicht an Klassenpolitik, an Bourgeoispolitik, an Lohnpolitik, sondern nur an das Vaterland und seine Feinde draußen und drinnen. Und eine Haßflamme sticht da empor, die noch manchen verbrennen wird - und manches schmelzen und läutern. Irgendwann einmal müssen wir die Franzosen doch mit den Fäusten hinauswerfen, irgendwann einmal der deutschen Verlumpung ein Ende machen, sagen sich unsere jungen Leute. Mit dem Gewehr wissen sie alle umzugehen. Allnächtlich rumort es auf den Waldblößen; die Frau Försterin wacht auf, bekreuzigt sich und denkt, es sei der wilde Jäger, es reite speerschüttelnd Wotan daher und die Seinen schlügen krachend die Schilde aneinander. Windzeit, Wolfszeit, Beilalter, Schwertalter.

Aber immer wieder sinkt die Flamme zusammen, und der Alltag ergreift auch von unserer Jugend wieder Besitz. Neue oder gute alte Bücher, die aufrütteln, kann sie sich nicht mehr kaufen, aber sie hat ja noch ihre Lieder. Nach dem Dreißigjährigen Kriege war Deutschland fast zur Wüstenei geworden, aber die Mütter vererbten den Kindern den Klang der Choräle, und daran rankten sich Hoffnung und Wiederaufbau empor. Auch jetzt wieder hört man, o Wunder über Wunder, gelegentlich wieder gute Musik aus den Fenstern der Berliner Zimmer auf Hof und Straße schallen, nicht mehr ausschließlich die Hopser aus den Operetten. Die Konzerte, zu denen das Eintrittsgeld vielfach schon "auf Goldbasis" erhoben wird, sind für viele zum verschlossenen Paradies geworden. Also spielt und singt man sich eins daheim, wie in der Zeit unserer Großmütter. Berlin war früher die Musikzentrale der ganzen Welt. Noch heute sind Berliner Kritiken die notwendige Grundlage für ausländische Kunstreisen. Wenigstens auf das Urteil von Männern wie Klatte oder Schmidt wird auch noch jenseits des Ozeans gehört. Nur gibt es keine programmatische Musikpflege mehr, kaum einen durchgeführten Zyklus, keine Vorführung aller wirklichen Meister des Podiums. Es ist der reine Trödelmarkt. Wer Dollars hat, der mietet sich eines der berühmten alten Orchester und spielt Zugstücke oder Überspanntheiten. Man kann sich als Zuhörer nicht mehr systematisch bilden; man bekommt als musikalischer Genießer abwechselnd sozusagen nur Eisbein und Froschschenkel vorgesetzt. Das Staatsorchester, auch wohl noch das Philharmonische, kann noch Tradition wahren, aber sonst regiert das blanke Gold den Markt. Hier und da auch die Konnexion durch bestimmte überall vertretene Kreise. Die neue Konzertsaison hat so in Berlin mit Mahler begonnen, und Mahler bleibt bis Ende Mai auf den Programmen. Da sein Vater ein kleiner jüdischer Kneipwirt in Iglau in Böhmen war, figuriert natürlich im Ehrenausschuß dieser Konzerte der tchechoslowakische Gesandte Tusarsch neben dem "Preßburger" Max Reinhardt hinter dem Oberehrenvorsitzenden Fritz Ebert, der hilflos die Sinfonien auf sich herniederprasseln läßt, wo er doch vielleicht viel lieber "Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion" hörte oder "Mang uns mang is keener mang, der nich mang uns mang jeheert". Es gibt Musiker, die da behaupten, ein Mann wie Mahler sei von Geburt und Natur Eklektiker, Sammler auf fremdem Acker, Nachahmer, und die berühmte hinreißende Steigerung im Altsolo der zweiten Sinfonie Mahlers sei beispielsweise ein notengetreuer Abdruck aus Bruckners siebenter. Das ist wohl ein bißchen engherzig. Es gibt manche gleiche Klänge bei Beethoven und Mozart. Wir finden bei Loewe Harmonien, die mendelssohnisch sind. Schließlich hat ja sogar Martin Luther sein "Ein' feste Burg ist unser Gott" bei aller ureigenen Wucht doch aus Motiven alter Messen entnommen. Greulich ist nur die Reklame, mit der die Berliner jetzt Mahler schlucken müssen. Sein Einführer Pringsheim, der Kapellmeister, schreibt in dem Programmheft, die Musik habe freilich - man reißt Mund und Augen auf - keine "politischen Funktionen", immerhin aber sei Mahler der "Führer, den Deutschland jetzt braucht", weil er "Geist von dem Geist ist, an dem dereinst allein die Welt genesen kann". Der urdeutsche Hanseate Emanuel Geibel, von dem der gläubige Vers stammt, daß an deutschem Wesen dereinst die Welt genesen werde, hat dabei sicherlich nicht an Herrn Mahler aus Iglau gedacht; übrigens auch wohl kaum an die Herren Tusarsch und Ebert und Pringsheim. Aber so weit ist es eben mit der musikalischen Weltstadt Berlin gekommen: sie wird das musikalische Geschäftszentrum für Dollars und Tchechokronen.

Ein Allheilmittel für alle Schäden des Leibes und der Seele bleibt uns noch. Nämlich der Knoblauchsaft. Herrschaften, lacht nicht vorzeitig. Ich will nicht etwa Witze über die Grenadierstraße in Berlin machen oder von Herrn Chapse Apter aus Galizien erzählen, der binnen drei Monaten eine schöne Wohnung in der Reichshauptstadt bekam und vier Brüder und mehrere Schwäger nach sich zog, insgesamt 43 Personen, die allesamt schöne Wohnungen im Handumdrehen bekamen. Sondern ich meine eine "Bewegung", und Bewegungen sind immer deutsch. Die Bewegung soll in der Gegend von Merseburg entstanden sein, floriert jetzt großartig in dem aufgeklärten Berlin und bepappt alle Anschlagsäulen mit meterhohen Anzeigen über die Heilkraft des Knoblauchs. Es genügt nicht einmal, daß man ihn ißt. Um ganz durchknoblaucht zu werden, muß man auch täglich abends eine Darmspülung mit Knoblauchsaft vornehmen. Ich schüttele mich noch in der Erinnerung an eine lang zurückliegende Zeit, wo ich in Metz stand und bei gewissen militärischen Vermessungsarbeiten gelegentlich darauf angewiesen war, nicht bei Moitrier in der Stadt, sondern in der Kneipe irgendeines Schangels draußen in einem Dorfe zu essen. Da gab es unweigerlich Nudelsuppe mit Knoblauch, Hammelfleisch mit Knoblauch und Gemüse mit Knoblauch. Aber die "Bewegung" diesmal ist ernst, ist nicht nur eine neue Diät, eine neue Stoffwechsellehre, sondern sogar eine neue Religion, und nennt sich daher mit einem unverständlichen Fremdwort. Es ist der Mazdaznanismus, der so überhand nimmt. Neulich wollte ich zu einer Versammlung der Mazdaznanisten in einem großen und gutgelüfteten Saale Berlins, aber als ich an der Billetkasse stand, hinter der ein Mazdaznanist waltete, ließ dieser - so wie ein Säugling, den man zu diesem Behufe nach dem Milchtrinken zu beklopfen pflegt - ein wohliges kleines Aufstößerchen los, und da mußte ich besinnungslos fortstürzen. Nur die Literatur der Knoblauchreligion habe ich jetzt vor mir. Sie lehrt, wie uns der Knoblauch von allen schlechten Säften befreit, auch von der Sinnlichkeit, und unsere Seele vergeistigt. Sie lehrt, wie alsdann das Kinderzeugen zu einer Art Gottesdienst, von hohem Verantwortlichkeitsgefühl getragen, wird. Davon muß ja in jeder neuen Religion unbedingt die Rede sein. Die Berliner heranwachsende Jugend fühlt sich ungemein geadelt. Friß Knoblauch und liebe in den Zwischenpausen mit Verantwortlichkeitsgefühl. "Einfach Puppe," sagt zu so was der Berliner.

Er muß dergleichen haben. Sonst wäre das Leben doch zu triste. Die Reichsbank stampft jetzt schon täglich 18 Zentner Papiergeld, kursfähiges Papiergeld ein, das niemand mehr haben will, Hundertmarkscheine und ähnliches Läpperzeug. Und der große Staatsstreich, dem in diesen Tagen die Berliner mit fröhlicher Neugier entgegensahen, will auch nicht kommen. Überall wird abgeblasen. Es bleibt nur eine im wesentlichen sozialdemokratische Diktatur zur Aufrechterhaltung der Republik, zur Aufrechterhaltung des Herrn Stresemann. Dieser Kanzler hat ja endlich die Große Koalition erreicht, die gute Partie mit der roten Karline, und da er ein braver Deutscher ist, geht es ihm wie allen braven Deutschen nach der Hochzeit:

"Ich bin der Herr im Hause, und was meine Frau sagt, wird gemacht!"
27.September 1923 (Donnerstag)


5

Droschken zweiter Güte - "Willem" muß her! - Man wirft Geld weg - Das Tanzturnier des Reichskartells - Der Korrespondent für Schweden - Von unseren ehedem Regierenden.

Sie rumpelten im Tempo eines rüstigen Fußgängers daher, die Berliner Droschken "zweeter Jüte", die zum Unterschied von denen erster Klasse, denen klares Glas behördlich vorgeschrieben war, dunkelblaue Laternen führten; sie waren - Wagen und Pferd und Kutscher - so altersschwach, daß es sprichwörtlich hieß: "Was ist der langsamste Tod? Von einer Droschke zweiter Güte überfahren werden!" Die letzten ihres Stammes gingen während der Kriegszeit ein. Von da ab gab es nur noch eine Einheitsklasse von Taxameterdroschken. Der Typ des Berliner Droschkenkutschers ist aber wohl seit der Zeit, wo Friedrich Wilhelm I. die ersten 15 "Fiaker" in Berlin konzessionierte und mit je 90 Talern jährlich unterstützte, bis heute derselbe geblieben. Der Wiener Schani ist viel eleganter als der Berliner Aujust, und im Vergleich zu beiden, die beide nur erwerbstätige kleine Spießbürger sind, ist der Bukarester Lichatsch ein Sportsmann, der Londoner Cabman ein Diplomat. Die Gesichter unserer öffentlichen Rosselenker oxydieren, scheint es, an der Luft; von Rostrot über Lederbraun bis ins Violette. Im übrigen zeigen diese Herrschaften besser als der Kalender den Wechsel der Jahreszeiten an. Daß heute, diesmal also sehr spät, der Herbst eingesetzt hat, weiß der Berliner: denn zum erstenmal zeigen sich einzelne Kutscher wieder mit "Klotzen" an den Füßen, diesen unförmlichen, gefütterten Lederstiefeln mit mehrzölliger Holzsohle. "Na du mit deine joldkäferne?" grunzt vergnüglich ein Dienstmann dem Kutscher zu. Der lacht breit und behaglich. "Goldkäferschuhe", wie sie vor 20, 30 Jahren das tanzlustige junge Berliner Ding trug, sind es nun gerade nicht, und wie er jetzt näherklotzt, klingt es, als würden Pflastersteine gestampft. Schon ist ein Gespräch im Gange. Vox populi, vox Dei, pflegte man früher zu sagen, Volkesstimme, Gottesstimme. Nach den ungezählten Dummheiten des deutschen Volkes in den letzten Jahren hat der alte, derb-aufrichtige Junker v.Oldenburg das Wort gewandelt: "Vox populi, vox Rindvieh!" Aber wenn er wie ich dieser Zwiesprach von Dienstmann und Kutscher zugehört hätte, scheinbar daran uninteressiert einem Schaufenster zugewandt, so würde er wohl wieder an den göttlichen Funken glauben. Die beiden Leute aus dem Volk, dabei sicherlich Leser der demokratischen Morgenpost, unterhalten sich über die schlechten Zeiten und über das schlechte Geld, über Republik und Kaiserreich, und der Kutscher sagt endlich: "Et hilft allens nischt, et wird bald nötig sind, det wa Willem zu Fuß auf'm Schubkärrchen wieder herholen!"

Der Alltag mit seinem "Stehen" nach irgend etwas und mit der ständigen Angst, nur ja über Nacht kein unausgegebenes Papiergeld zu behalten, weil es am nächsten Tage doch wieder 50 v.H. weniger wert ist, läßt einem im übrigen wenig Muße für politische Gespräche. Leberwurst ist wichtiger als Stresemann. Hie und da gibt es noch einen krampfhaft Fidelen. So wie jenen Gymnasialdirektor, der an Magenerweiterung litt, seinen Primanern immer ein von nächtlichen Schmerzen zerquältes Gesicht zeigte, aber ein Buch über die Freude für die Jugend schrieb. Da ist weiter ein wackerer Mann, der jeden Bekannten mit dem Rufe begrüßte: "Hab' Sonne im Herzen!", bis er es endlich aufgab, weil er nachgerade regelmäßig die Antwort erhielt: "Hab' Kohlen im Keller!" Vor sechs Wochen sagte der sozialdemokratische Kaffeehausliterat Dr.med Hilferding, bis heute früh deutscher Reichsfinanzminister, zunächst einmal wolle er der Dollarbewegung Herr werden. Nun ist die Entmutigung um so tiefer, und auch die Wut auf dieses elende Geld des heutigen Staates. Kleinere Scheine zu 50, 100, 500 Mark werden, weil niemand mehr sie annimmt, einfach weggeworfen. Irgendwo übers Gitter eines Vorgartens. In der Großbeerenstraße sah ich einen alten Mann noch hinüberklettern und eine Anzahl solcher vom Regen durchfeuchteten Scheine aufsammeln. Auf dem Belle-Alliance-Platz stand einer, riß einen Haufen derartigen Papiergeldes ohne jede Ehrfurcht vor dem neuen Adler darauf (der Mann müßte vor den Staatsgerichtshof!) Stück für Stück mitten durch und warf das Zeug so weg; viel Volks stand umher, niemand aber hielt es der Mühe für wert, die Scheine aufzuheben, um sie wieder zusammenzukleben. In der Nettelbeckstraße steht ein junger Mensch auf dem Verdeck des fahrenden Autobus und läßt Hundertmarkscheine flattern, von denen er die Paletottasche voll hat. Aber selbst "ganz große" Scheine werden in einer Gemütswallung weggegeben, wie man es früher wohl bei besonders froher Laune mit einem Zehnmarkschein tat, der ja in der Tat sogar noch mehr wert war, als heute 1000 Millionen. In der Friedrichstraße steht ein schlicht gekleideter, offenbar den besten Ständen angehörender alter Herr und fragt in einer zurückhaltenden Art, die sofort Bildung verrät, geeignete Entgegenkommende, ob sie nicht das schöne alte Lederkissen kaufen wollten, das er da habe; Preis 700 Millionen. Einer bleibt stehen, sieht dem alten Herren einen Moment in die Augen, legt ihm dann einen Milliardenschein auf das Kissen, ohne es zu nehmen, und - verschwindet schnell und spurlos in der Menschenmenge. Der mit dem Lederkissen wird blutrot, stolpert alsdann hinterdrein, ruft, winkt; aber nichts zu machen. Ich bin gerade auf dem Wege zu Kunze in der Schützenstraße, um eilends eben empfangenes Geld in wertbeständige Seife für den Haushalt umzusetzen. Da steht geduldig, mit einem Packen Schreiberei in der Hand, ein müder Weißbart hinter der Menschenmauer. Endlich ist er dran und wird nach seinem Begehr gefragt. Er haucht: "Ich muß abends soviel schreiben, das Gas ist so teuer, könnte ich vielleicht ein paar weggeworfene Lichtstümpfe kriegen?"

Natürlich erlebt man derlei nicht, wenn man nur auf der Tauentzienstraße flaniert. Da gibt es immer noch so viel gut, ja elegant gekleidete Menschen, die so wohlgenährt aussehen, daß man an ein blühendes Deutschland glauben kann. Es wird auch immer noch dem "Tanzsport" gehuldigt. Aber schon werden doch, um uns kaufmännisch auszudrücken, die Aktien des Tanzklubs zusammengelegt. Reichskartell und Reichsverband derer, die aus dem Tanzen einen Sport machen, waren bisher feindliche Brüder, wollen sich aber jetzt verschmelzen. Das Turnier des Reichskartells, das sonst im großen Marmorsaal des Zoo stattfand, konnte - oder mußte - diesmal im viel kleineren Kaisersaal abgehalten werden, und den kostbarsten Toiletten war anzumerken, daß sie noch bei einem Dollarstand von 1:20 000 angefertigt waren. Ich kann mir nicht helfen: auch die tanzenden Paare, die doch in Beschwingtheit sich über alle Misere erheben müßten, sahen so aus, als addierten sie bei jedem Pas Leberwurst und Margarine. Es ist eine Pfennigfuchser-Art des Tanzens. Es wird mit der Genauigkeit eines Geizhalses getanzt. Die katzenhafte Weichheit der letzten Jahre ist dahin; die neuen Tänze werden "exkutiert" wie eine Nummer im Variété.

Es ist ein wahrer Segen, daß in so knappen Zeiten die Betriebsamen, die nicht proletarisiert sein wollen, immer noch ihren Nebenverdienst finden. Im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße sitzt von Amts wegen ein Herr Dr. Cohn als Informator der ausländischen Presse, ein der großen Koalition innig versippter jüngerer Politiker. Er war kürzlich auf der Göteborger Woche - so erzählen wenigstens die Schweden, aber er selbst sagt, es müsse ein Doppelgänger von ihm gewesen sein - und verlangte dort Freikarten für ein Theater. Als ihm bedeutet wurde, diese seien nur für Pressevertreter bestimmt, bestand er trotzdem darauf, als Vertreter des Auswärtigen Amtes ebenfalls Freikarten zu bekommen. Er ging dann zu einem Theater, verlangte nochmals freien Eintritt und - erhielt ihn auch, da die Schweden keinen Skandal wünschten. Am Schluß der Göteborger Woche verschickte Herr Dr. Cohn dann Briefe an alle bedeutenden Zeitungen Schwedens, in denen er sich ihnen als Berliner Berichterstatter anbot; er habe vorzügliche Beziehungen zu den deutschen Behörden. Man machte auch den Versuch mit ihm. Jetzt ist er Tagesgespräch im Kreise der ausländischen Pressevertreter, die ihn dienstlich in der Wilhelmstraße aufzusuchen haben, während er außerdienstlich sozusagen ihr Kollege ist, aber ein Kollege, von dem sie sagen: "Wirkliche Informationen, die über das hinausgehen, was in deutschen Zeitungen bereits steht, schickt er nicht, aber essen will er immer im Esplanade oder Bristol oder Adlon, um dort Informationen zu holen." Es ist doch schön, daß auch in sotanen schlechten Zeiten ein geistiger Arbeiter auf diese Art sich der Mit- und Nachwelt erhält, und es zeugt für die Stümperhaftigkeit des alten Systems, daß damals die Angestellten des Auswärtigen Amtes sich solchen Nebenverdienst nicht zu verschaffen wußten.

Sie schweigen ja auch alle fein still, diese Vertreter des alten Systems, schweigen still und schämen sich. Kein Angehöriger der früher regierenden Familien "riskiert eine Lippe". Die beiden ältesten Söhne des Kronprinzen, drüben in Potsdam im Cecilienhof von Major a.D. v.Ditfurth betreut, arbeiten emsig und haben bei der Herbstzensur wieder die beiden ersten Plätze in der Klasse bekommen. Der Gymnasialdirektor rang die Hände. Er sah sich schon im "Vorwärts" als Byzantiner abgemalt. Er berief eigens eine Lehrerkonferenz ein, um festzustellen, ob man aus Nummer 1 und 2 nicht wenigstens Nummer 2 und 3 machen könne. Aber das Kollegium sagte, was Recht ist, muß Recht bleiben, Prinz Wilhelm und Prinz Louis Ferdinand hätten die ersten Plätze bekommen müssen, auch wenn sie Fritz Schulze und Karl Müller hießen. Da hat sich die Mutter aber gefreut! Sie, die Kronprinzessin, ist dieser Tage in Schloß Saabor bei der zweiten Gattin des Kaisers gewesen. Ihr war die Heirat des Kaiserlichen Schwiegervaters höchst unsympathisch gewesen. Nun haben die beiden Damen, die ältere und die jüngere, sich aber richtig kennengelernt und vortrefflich verstanden. Man dankt der "Kaiserin Hermine" ehrlich für ihren Schritt. Sie hat, wie man weiß, bei der Heirat sich das Recht vorbehalten, in jedem Frühling und Herbst, um nach ihren Gütern und nach ihren großen Kindern sehen zu können, zwei Monate in Deutschland zu verbringen. Diesmal treibt es sie schon nach vier Wochen zurück nach Doorn. Das ist eine arge Enttäuschung für alle Klatschmäuler. Im übrigen sind alle unsere alten Herrschaften, die an nichts weniger als an Verschwörungen, immer aber weh an Deutschland denken, zufrieden, wenn man sich möglichst wenig um ihr friedliches Leben kümmert. Ganz köstlich ist das ja neulich zum Ausdruck gekommen, als König Friedrich August von Sachsen auf einer Reise nach Oberbayern durch sein altes Stammland kam. Er ist ja wirklich ein leidgeprüfter Mensch. Seine durchgebrannte Frau Luise, ehedem Habsburg-Toskana, zuletzt Toselli, ist schließlich ganz unter die "Masse" gekommen und war in diesem Sommer in einem Brüsseler Vorort - Mädchen für alles bei einer belgischen Familie. Es gibt immer noch Leute, die Friedrich August quälen, indem sie Stufe für Stufe den Niedergang der Mutter seiner Kinder ihm hinterbringen. Aber er hat doch noch ein bißchen von seinem alten Humor behalten. Als auf dieser Reise der Zug, mit dem der König fuhr, auf einer sächsischen Station hielt, drängten Hunderte hinzu, wollten ihren König sehen, riefen erst schüchtern, dann immer lauter Hoch, Hoch, Hoch und klopften schließlich an das Fenster. Da steckte er den Kopf heraus und sagte:

"Ihr seid mir aber scheene Rebubliganer!"
4. Oktober 1923 (Donnerstag)


6

Gulaschkanone! - Bei der Heilsarmee - Doof bleibt doof - Der französische Leierkasten - Höhere Töchter im Beruf - Verzweifelte Käufer und Verkäufer - In der Markthalle - "Chabbe Kartofelj".

Gulaschkanone! Gulaschkanone!

Man hastet durch die Großstadt, ohne viel nach den übrigen Hastenden zu sehen oder auf die Stehenden zu achten, aber dieser Ruf läßt einen doch aufmerken. Auf dem Potsdamer Platz und an anderen Stellen, wo der Verkehr brandet, hält je ein Heilsarmeesoldat eine Sammelbüchse vor sich hin und läßt dazu immer nur das eine Wort "Gulaschkanone" erschallen. Da ist man denn sofort im Bilde. Es handelt sich um die Volksspeisung, die von der Heilsarmee öffentlich auf dem Alexanderplatz und in anderen Stadtvierteln veranstaltet wird, und in die Sammelbüchse kommen reichlich große Papierscheine. Früher war die Heilsarmee, dieses englisch-methodistische Reklamegewächs, ein Spott für die Berliner, die dann die frech-elektrisierende Tanzweise

Ich bin die Josefine von der Heilsarmee,
Der Heilsarmee, der Heilsarmee

trällerten und mit Lachen und Gejohl jeden Aufmarsch der unsäglich komisch kostümierten, größtenteils weiblichen "Armee" begleiteten, aber allmählich ist das Lachen den Berlinern vergangen. Früher hatten wir so etwas ja auch nicht nötig. Man ärgerte sich, daß so viel gutes deutsches Geld, vielfach bei den Ärmsten erschnorrt, von den deutschen "Divisionen", die dazu noch meist von englischen Stabsoffizieren der Heilsarmee geleitet wurden, nach England abgeführt wurde, um dort in die Londoner Slums und sonstige Elends- und Verbrecherstätten geworfen zu werden. Uns selbst ging es ja unter dem Kaiserreich noch so gut, wir hatten in Berlin kein Whitechapel, wir hatten eine geregelte Armenversorgung, und wer fleißig und arbeitsfähig war, der konnte zurücklegen und es zu etwas bringen. Auch ich habe eigentlich nie mit Ergriffenheit, sondern stets nur mit leisem Lächeln gelegentlich die Versammlungen der Heilsarmee besucht. Zuletzt noch Anfang Mai dieses Jahres in Essen, als ich zehn Tage lang mit falschem Paß auf Erkundung im Ruhrgebiet mich umhertrieb. An einem und demselben Tage hatte ich so Besprechungen mit deutschen Großindustriellen, frühstückte in einem französischen Kasino unerkannt mit den Einbrecher-Offizieren, lag mit Kumpels auf der untersten Sohle eines Kohlenbergwerks, sah dem Exerzieren einer roten Hundertschaft zu und ließ am Abend das Tschingtara der Heilsarmee über mich ergehen. Die einzige Armee, die im besetzten Gebiet zugelassen ist, ist ja die Heilsarmee. Ihre schmetternde Militärmusik lockt bei dem Umzuge. Im Saale wird weitergeschmettert, das Tongewoge wirkt auf die Nerven der mühseligen Besucher, stoßweise werden dann in flottem Marschrhythmus Choräle gesungen, dazwischen werden die Nerven immer wieder wie mit Zangen von der Beschwörung gepackt: "Heute noch mußt du an der Bußbank knien, komm' zu Jesus, heute noch, heute noch, in dieser Stunde!" Alles ist rein methodistisch auf die einmalige plötzliche Bekehrung eingestellt. Schließlich liegt hie und da ein leise weinendes Bündel Elend jüngeren Jahrganges, oder eine ungemein zungenfertig bekennende ältere Stabsoffizierin. In Essen kniete neben mir eine brünstige Maria Magdalena, ein wirklich süßes junges Engelsbild, sonst hätte ich es mit meinem gesunden lutherischen Christentum wohl auch nicht so lange da ausgehalten. In Berlin habe ich manchmal mit der oder jener Hallelujah-Schwester, wie sie hier genannt werden, gesprochen. Viele von ihnen verlassen das "Offizierkorps" wieder, wenn die ersten Zeiten der Extase und der - namentlich bei späten Jungfrauen - leicht erotisch angehauchten Religiosität vorüber sind, denn die Ausnutzung dieser Frauen bei weniger als dem Existenzminimum ist vielfach ein Skandal. Jetzt läßt sich der Berliner das alles schmerzlich gefallen. Es sind eben andere Zeiten. Man ist dankbar, daß jemand überhaupt etwas tut. Mit dem alten englischen Heilsarmeegeneral Booth, dem Begründer der ganzen Organisation, von der er übrigens samt Familie nicht schlecht lebte, habe ich vor langen Jahren einmal einen Nachmittag verplaudert. Er betrieb das religiöse Geschäft in großem Stil, war ein mächtiger Redner, der wie der Erzvater Abraham aussah, fühlte sich wohl in seiner Internationale, scheffelte das Geld aber doch vornehmlich für London. Nun ist Berlin auf Londoner Stufe gesunken. Nun ist Berlin für die öffentliche Suppenküche auf den Straßen reif. Und das muß man ja sagen: die Heilsarmee-Leute schrecken selbst vor dem äußersten Elend, der äußersten Verkommenheit nicht zurück.

Unter freiem Himmel Versammlungen abzuhalten, ist unter dem Belagerungszustand gegenwärtig verboten. Bei den kleinen Zusammenrottungen der Heilsarmee drückt die Polizei aber wohl noch ein Auge zu. Da steht ein Mann mit dem gelben S.A. - "salvation army" - auf dem roten Mützenrand auf dem Bürgersteig, um ihn herum eine kleine Gruppe, der er predigt. Ein Berliner Lausbub hört auch ein Weilchen zu, ruft dann aber dauernd "de be de, de ha ka pe" dazwischen; so wie wir im Kriege in feindliche Funksprüche mit derselben Wellenlänge drahtlos hineinbrüllten, um sie unverständlich zu machen. Was meint der Junge eigentlich? Ein Heilsarmeerekrut, noch in Zivil, der sicherlich die leidende Sanftmut seines Berufes noch nicht erfaßt hat, geht dem Jungen zuleibe, versteht ihn also offenbar. Das "d. b. d., d. h. k. p." ist nämlich die gegenwärtig verbreitetste Berliner Begrüßungsformel und bedeutet: "Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen!" Alles verzeiht der Berliner, selbst einen "Chochem", einen gewerbsmäßigen Türknacker, kann er bewundern, aber wenn man doof ist, dumm ist, ist man gerichtet.

Unsere Leierkastenmänner sind nicht doof. Früher wußten sie, daß sie dort die reichste Ernte an Kupfer-Dreiern und Nickel-Sechsern oder gar Groschen hatten, wo gefühlvolle Dienstmädchen aus den Küchenfenstern lugten. Da war auch die etwas sentimentale Musik die beliebteste. Heute ist bei den Dienstmädchen nichts mehr zu holen, weil die trotz "gestiegener" Löhne viel ärger als andere unter der Geldentwertung leiden, nichts mehr für "Musike" übrig haben, aber in den Höfen großer Geschäftshäuser und Fabriken lohnt sich das Leiern noch. Und merkwürdig: sämtliche Leierkästen haben als Nr. 1 auf ihrer Walze jetzt immer den aufpeitschenden feurigen Sambre-et-Meuse-Marsch der Franzosen. In ahnungsloser Gutmütigkeit haben wir dieses Sturmlied des Feindes aus dem Feldzuge heimgebracht. Ich glaube nicht, daß die Leierkastenmänner in Frankreich jemals die Wacht am Rhein spielen könnten, wir aber freuen uns harmlos an der Musik aller Gegner. In der Zentralbar in Lille sang Lolotte mit sprühenden, haßerfüllten Blicken, zu denen die Besucher freundlich lachten, den Sambre-et-Meuse-Marsch den jungen deutschen Offizieren ins Gesicht, die mal dienstlich oder beurlaubt von der Front auf einen Tag in die Stadt hereinkamen. Selbst die Kinder in den Etappendörfern sangen unbekümmert das Lied, das auch dem Trägsten in die Beine fährt, den alten Landsturmmännern ins Gesicht, und die Graubärte nahmen es gelehrig auf und sangen es nach, beschenkten womöglich die Kinder und trösteten sie, der Krieg werde ja bald zu Ende sein und damit auch Sambre und Maas wieder frei. Es klafft auch ein Abgrund zwischen der Sinnesart der Deutschen und der Franzosen; im besetzten Gebiete bei uns haben diese sofort das Singen bestimmter vaterländischer deutscher Lieder verboten, was übrigens schon vorher die deutsche republikanische Behörde getan hatte.

Nachher hat sie freilich das Deutschlandlied zur Nationalhymne erhoben. "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt." Leider stimmt das nicht mehr ganz. Die Maas ist französisch, die Memel litauisch, die Etsch italienisch, der Belt dänisch, und bald wird an allen diesen vier Enden keine deutsche Zunge mehr klingen und Gott im Himmel Lieder singen. Für die Germania irredenta, für das unerlöste Deutschland in fremder Hand, bringen wir zurzeit auch kein Interesse auf. Die Alltagssorgen lassen nichts anderes aufkommen. Es gibt auch nur noch wenig Familienleben, weil alle Familienglieder um Brot draußen arbeiten müssen. Von 607 Berliner jungen Mädchen, die in diesem Herbst das Lyceum verlassen haben, konnten nur 22 berufslos bei der Mutter bleiben, nur 24 sich eine kurze Erholungszeit gönnen, während 561 unmittelbar in das Berufsleben - oder die letzte Vorbereitung dazu - eintreten mußten. Früher waren diese Zahlen etwa umgekehrt. Die meisten "höheren Töchter" drängen sich in den kaufmännischen oder Sekretärinnenberuf, das Wort "Bank" lockt noch immer. Eines der jungen Mädchen (die Daten habe ich vom Landesberufsamt Berlin) wäre so gern, ach so gern Kindergärtnerin geworden, aber seit der vorgestrigen neuen Erhöhung können die Eltern - das Fahrgeld bis zur Ausbildungsstätte nicht mehr aufbringen. Die Mütter laufen derweil den ganzen Tag herum, um festzustellen, wo sie dies oder das noch etwas billiger erhalten können als anderswo. Es gibt schon verschiedene Preise in den einzelnen Ständen der Markthalle; ferner ist es in den Hallen des Westens um fast 20 v.H. teurer als in denen des Zentrums. Ein Meter Ripsband kostete gestern in einem Kaufhaus in der Tauentzienstraße 1900 Millionen, das gleiche Band in einem Kaufhaus in der Leipziger Straße nur 500 Millionen Mark. Käufer und Verkäufer haben den Kopf verloren. Man irrt durch die Stadt wie ein Nachtwandler, sagen die Frauen. In den Markthallen sind manche Stände ganz geschlossen, weil der Kleinhandel mit der Papiermark nicht mehr zurechtkommt oder unter die irrigen Wucherbestimmungen kommt, während die Großbanken ihr Publikum ungestraft plündern dürfen. Im Norden und Osten Berlins haben sehr viele Ladenkaufleute auch schon darauf verzichtet, ihr Lager zu ergänzen, haben in den letzten Wochen nach Möglichkeit die letzte Büchse Konserven und das letzte Backpulver ausverkauft und dann die eisernen Rollvorhänge wortlos - vielleicht für immer - heruntergelassen. Nun brauchen sie wenigstens keine Angst mehr davor zu haben, daß ihnen alles zerschlagen wird, "wenn es losgeht", und daß es losgeht, davon sind sie alle überzeugt, weil es "so" eben nicht mehr lange weitergehen "kann". Es ist eine dumpfe Stimmung in der ganzen Riesenstadt. Satte Menschen machen keine Revolution, deshalb ist sie auch in den letzten Jahren, wo selbst der jugendliche Handarbeiter gut verdiente, nicht gekommen, aber nun fürchtet jedermann den Hunger, da doch irgendwann einmal der Moment eintreten müsse, wo für die Papiermark buchstäblich nichts mehr zu haben sei.

Das alte vergnügte Berlin sieht seit einigen Wochen sehr müde aus; täglich erlebt man auf offener Straße Verzweiflungsausbrüche, namentlich von Hausfrauen. Die Kartoffeln, unser Hauptnahrungsmittel, sind knapp. Der Vorschlag des Landbundes, allen übrigen Frachtverkehr für kurze Zeit einzustellen und zunächst nur Kartoffelzüge unter billigen Tarifen fahren zu lassen, liegt unter Aktenstaub bei der Regierung. Die zum Bersten gespannte Stimmung machen sich gewisse Agitatoren zunutze. Ich schlendere durch die Markthalle in der Lindenstraße, in der eine Riesenkette von Menschen "nach Kartoffeln steht". Mit einem weißen Säckchen unter dem Arm geht ein großer, gutgekleideter Mensch die Reihen entlang und sagt immer nur den einen Satz: "Zenn Funt Kartofelj, chabbe gekauft, zweichundert Millionen Mark!" Das wirkt aufreizend, wirkt wie ätzende Lauge. Der teuflische Mensch - und solcher Agenten sind hunderte unterwegs - ist natürlich Sowjetrusse. Er erreicht es zwar, die Wut der armen Leute zu steigern, aber sie richtet sich zu seiner eigenen Verblüffung gegen alles, was rot ist.

Wenn die Schöpfer des Gesetzes zum Schutze der Republik heute durch die Markthallen gehen und umherhören wollten, so würden sie gewahr werden, daß 99 von 100 Berlinern durch "Herabwürdigung der Republik" sich täglich zuchthausreif machen.
12. Oktober 1923 (Freitag)



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© Karlheinz Everts