"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 43 - 45
19. Juli bis 2. August 1923


43

Rückwanderer auf den Bahnhöfen - Ferien daheim! - Kammerjägerei - Täglich ein Schulze - Kinderlose Studentenehen - Eintritt: 25 Pfennige - Schneider Wibbel - Romeo und Julia in der Schönhauser Allee

Die ersten Rückwanderer quellen aus den Bahnhöfen und begrüßen mit etwas gequälten Gesichtern ihr altes Berlin. Sie haben vorzeitig ihre Ferienzelte abgebrochen. In dem Bewußtsein, finanziell für alle Fälle gerüstet zu sein, ist die Familie, ist der Einzelne in die Berge, in die Bäder gefahren. Die erste Woche verläuft herrlich. Der Hotel- und Pensionsindex von 15 000 ist ja ein bißchen happig, aber man hat sich darauf eingerichtet. Nun haben die Hotels und Pensionen ihre Schäfchen beisammen, die zweite Woche hebt an und - der Index 23 000 wird überall angeschlagen. Das beduetet von einer zur anderen Woche eine Verteuerung um mehr als 50 Prozent. Da wendet sich der Gast mit Grausen. Darauf war man denn doch nicht gefaßt. Allenfalls für die letzte Juliwoche. Also auf, und ächzend zurück nach Berlin, um den Urlaubsrest mit Tagesausflügen nach Tegel und Wannsee, nach Erkner und Wandlitz hinzubringen, - Berge gibt es da zwar nicht, aber Wasser die Menge. "In die Ferien schifft mit Tausendmarkscheinen der Jüngling; still, mit gerettetem Rundreiseheft, treibt in die Hauptstadt der Greis." Nun sind die Hotels und Pensionen aber nicht etwa leer geworden. Der Gästeersatz stand schon vor der Tür. Aus Mlawa und Tabor und Serajewo und Pera und Aarhus und Boston und Sziget und Braila. Nur sonderbar, daß alle diese Leute aus Polen und Tschechien und Serbien und der Türkei und Dänemark und Amerika und Ungarn und Rumänien sich mit einander so gut verständigen können und daß sie alle so aussehen, als stammten sie aus Troplowitz. Sicher ist es einer von ihnen, der das Staatszimmer im ersten Stock mit dem Balkon über der Haustür bekommt; und sicher spuckt er halbe Tage lang von dort aus Kirschkerne nach unten vor den Eingang.

Früher waren die Berliner, die einen Teil ihrer Ferien in Berlin selbst verbrachten, nicht die Dümmsten. Man lernt dann doch, ohne den ganzen Tag an den Beruf gebannt zu sein, endlich seinen Wohnort kennen. Und ich habe auch - wenigsten nach 1914 - noch nie ein Hotel oder eine Pension gefunden, in dem man so gut frühstückt wie daheim. Vor dem Kaffee draußen, wenn man ihn nicht als Mocca double eigens bestellt und bezahlt, kriegt man eine Gänsehaut, und für die Winzigkeit des einmarkgroßen Butterklexchens zur Semmel wird man durch das in die Butter geprägte Molkereiwappen nicht entschädigt. Wo sind die Zeiten, da Milch und Honig floß und der große gekochte Schinken zur Benutzung "a discretion" auf den Kaffeetisch gestellt wurde? Also bleibe noch ein Weilchen der Ferien daheim und nähre dich redlich. Der beruflich nicht beschwerte Familienvater geht vergnügt grunzend im Hause umher und bastelt, spendiert wohl gar hier einen neuen Vorhang und dort ein neus Bügelbrett, kriegt auf einmal den "Schmücke-Dein-Heim"-Fimmel und legt sich abends so behaglich wie in keinem Gasthof der Welt in sein höchsteigenes Bett, nachdem er bei der Julihitze ein kaltes Wannenbad genommen hat, das ihm hier nicht mit 16 000 Mark berechnet wird. Und die Hausfrau braucht nicht immer den Stundenplan in der Küche anzustarren, um nachzusehen, wann das Essen für den aus dem Bureau kommenden Mann bereit stehen muß, wann an diesem Tage Fritzchen aus der Schule und Lieschen von der Klavierstunde heimkehrt, - denn alle Lieben kann sie jetzt gemeinsam versammeln, es wird nicht gehastet, sondern mit Andacht gegessen, und dann macht man Bummelpläne, wandert miteinander und steigt zum erstenmal im Leben auf die Siegessäule. Im Semester wetzen die Buben immer wieder ihre Hosenböden durch, in den Ferien dagegen ist nie so viel zu flicken; und wenn die Kinder auch Indianerkämpfe in der Jungfernheide oder im Plänterwald ausfechten, so sind sie dafür eben auch indianermäßig angezogen. Geht Vater mit ihnen in das Naturkunde-Museum oder das für Meereskunde, so sind sie freilich gebürstet und gebügelt und sehen durchaus "standesgemäß" aus.

Also so weit wäre alles gut und schön, aber die Zahl der Familien, die daheim sich so wohl fühlen, nimmt leider ständig ab, da das Daheim immer unwohnlicher wird. Einige Luxusbauten im Westen sind natürlich propper wie stets. Aber die Mietskasernen gewöhnlicher Art, auch die für große Familien mit großen Ansprüchen, die mit Sieben-und Achtzimmerwohnungen, werden in wenigen Jahren den Eindruck von sehr östlichen Karawansereien machen. Es fehlen die Mittel zum Ersetzen morscher Fußböden und geplatzter Tapeten, kleine Löcher in den Wänden werden nicht mehr vermauert und vergipst, mit Schmierseife und Lysolwasser muß man auch sparen, kurz, die Vorbedingungen für gedeihliches Fortkommen allen Ungeziefers sind da. Über die "grüne Grenze" im Osten, abseits vom Schlagbaum der großen Landstraße, durch Busch und Baum, kommt immer neue Einschleppung nach Deutschland, nach Berlin; in Kleidern, Schafpelzen, in Säcken. In einem der besten großen Mietshäuser in der vornehmen Berliner Straße in Charlottenburg exerzieren die Flöhe brigadeweise. Noch häufiger ist die Wanzenplage.

"Sie, Frau Müllern, Se ham doch 'n kleenet Kind, da ham Se doch sicha ooch 'ne Klystierspritze?"

"Det stimmt, aber was ist mit se?"

"Die könnten Se mir mal 'n bisken pumpen, ick will de Wanzenlöcher mit Petroleum spritzen!"

Es ist nur ein schwacher Trost für die Berliner, daß diese Art Balkanisierung unserer Wohnräume auch im übrigen Mittel- und Westeuropa zunimmt. Der saubere Berliner, an dergleichen von früher her nicht gewöhnt, ist am Verzweifeln. Er gibt Hundertausende für Vergasen und sonstige Kampfmittel aus, aber wenn nicht die ganze Front mitkämpft, nämlich sämtliche Hauseinwohner, so ist der alte Zustand bald wieder da. Wir wehren uns ja noch, allerings unter sehr großen Kosten, gegen die Einwanderung der östlichen Kleinlebenwesen, aber was sollen die ganz armen Leute machen? Sie können ja nicht einmal das anlegen, was ich zum erstenmal vor zwei Jahren in einem "prima" Hotel in Innsbruck, dem Vorarlberger Hof, gesehen habe: eine Wanzenrutschbahn. Vorsorglich führte die Bahn aus poliertem Weißblech oben an dem Tapetenfries entlang, dann hinter den etwas abgerückten Betten auf der Wand schräg nach unten und mündete da in einem blitzeblanken Gefäß, an dessen glatten Wänden die braunen Blutsauger nicht mehr emporklimmen konnten. Jeden Morgen gab es abgerutschte Neulinge in diesem Hungerzirkus. Die Betten aber waren vollkommen frei. Dergleichen kann sich allenfalls ein großer Gasthof leisten, aber nicht jeder kleine Privatmann. Dieser ist darauf angewiesen, die Hilfe eines Kammerjägers in Anspruch zu nehmen, und das ist heutzutage ein sehr lukrativer Beruf in Berlin, mit Beschämung sei's vermeldet. Allein im Telephonbuch stehen 24 große Firmen, die sich mit Ungeziefer-Vertilgung befassen: "Tag- und Nachtbetrieb", "Jahresabonnement(!)", "viele Filialen". Die Bevölkerung Berlins ist seit 1914 ungefähr die gleiche geblieben. Die Zahl der vielen Hunderte von Kammerjägern aber hat sich seither etwa verfünfzehnfacht. Ich behaupte nun nicht etwa, daß wir unsere ägyptischen Plagen "nur" der Revolution und der Republik zu verdanken hätten, denn dazu habe ich vorher im Felde zu arg unter Ungeziefer gelitten, sicher aber läßt sich behaupten, daß die vielen Müllkutscherstreiks seither und die fast kontrollose östliche Menscheneinfuhr sehr wesentlich zur Verschmutzung Berlins beigetragen haben.

Etwas besser ist es ja schon geworden, und wir können hoffen, daß wir allmählich aller östlichen Plagen Herr werden. Noch wird in Berlin im Durchschnitt täglich ein richtiger deutscher Mensch namens Schulze - mit z oder tz, mit oder ohne e - geboren; annähernd 260 000 Schulzes sind im Laufe der Jahre durch die Listen des Berliner Einwohnermeldeamts gegangen. Und immer noch haben wir in Deutschland einen Geburtenüberschuß, im letzten Jahre von 513 692 Köpfen oder von 8,5 auf je tausend Einwohner. Gegenüber den schon längst stationären Franzosen haben wir also noch immer etwas voraus. Freilich nicht mehr das Tempo der Jahre um 1913. Im Vergleich zu jener Zeit haben wir schon einen Rückgang um ein Drittel des Überschusses. In Berlin ist die Geburtenzahl sogar von 20,2 auf 12,3 für das Tausend gesunken, aber dafür freilich auch die Sterbeziffer. Geheiratet wird wie noch nie. Nur leider häufig genug auf Kinderlosigkeit hin.

Ein Jahr lang haben wir einem Studenten, einem jungen Kiekindiewelt von 20 Jahren, viermal wöchentlich bei uns Freitisch gewährt. Der in einer Kleinstadt wohnende uns befreundete Vater, höherer Beamter mit großer Familie, konnte es nicht schaffen. Nun aber kommt der junge Mann nicht mehr. Er hat wortlos - geheiratet. "Auf was denn hin?", fragen wir entsetzt den Überbringer der Botschaft, einen Verwandten von ihm. "Auf nichts hin!", lautet die Antwort. Das Mädel, aus gutem Hause, älter als der Junge, ist städtische Beamtin. "Eine Bude zusammen ist billiger als zwei Buden", hat ihr Kiekindiewelt gesagt, und daraufhin sind sie zum Standesamt gepilgert und wirtschaften nun gemeinsam. Kirchliche Trauung folgt nach frühestens drei Jahren, wo er seine Frau ernähren zu können hofft, während augenblicklich ihr Gehalt erheblich mehr beträgt, als sein väterlicher Monatswechsel. Das werfen sie zusammen. Es ist eine G.m.b.H. mit der Devise: Kinder ausgeschlossen! Der junge Mann hütet sich, bei uns noch einmal vorzusprechen. Er weiß, daß wir ihm doch nur sagen würden, wir wünschen keinen Verkehr mit einem Studenten, der sich von seinem Mädchen aushalten lasse. Die Eltern des jungen Paares haben hatürlich hundert "Gründe" aus den veränderten Zeitumständen. Und dennoch, - wenn das überhandnimmt, was wir in dieser Art jetzt immer häufiger erleben, dann werden immer mehr junge Frauen nach ein paar Jahren sanatoriumsreif. An den deutschen Frauen sind wir immer wieder gesundet. Die waren Frische, Ursprünglichkeit, Reinheit, Kraft. So aber reiben sie sich auf zwischen Beruf und hausstandloser Ehe mit Mutterschaftsverbot. In nüchterne Zahlen gefaßt: wir haben im vorigen Jahre in Berlin mehr Eheschließungen als 1913 gehabt, aber 39 Prozent weniger Geburten. Die armen, armen Frauen!

Ich weiß schon, ich weiß schon. Natürlich kann man mir das Gegenteil begründen. Aber schöner war's doch, als man noch Donnerstags im Zoologischen Garten oder Sonnabends bei Kroll auf die Brautschau ging und nicht zu erröten brauchte, wenn der künftige Schwiegervater einen nach Stellung und Einkommen fragte. Heute ist Krolls Garten durch Bauschutt gesperrt, und der Zoo ist nicht mehr Familienlokal. Kinder vom Kurfürstendamm mit ihren Bonnen sind freilich immer noch da. Zuweilen kommt auch eine ganze Volksschulklasse unter Führung eines Lehrers. Und das größte zoologisch-anthropologische Wunder dabei ist, daß in diesem Falle noch die alten Vorzugspreise von 25 Pfennig pro Kopf gelten. Ich habe die majestätische Gebärde gesehen, mit der ein junger Lehrer, der für seine Schar 9,25 Mark am Eingang zu zahlen hatte, 100 Mark (das sind heute ein Fünftel Friedenspfennig!) hinlegte und dem Kassierer erklärte: "Den Rest können Sie behalten!"

Leider sind wir nicht allesamt Volksschüler und leider sind nicht alle Genüsse so billig. Aber selbst wenn das Eintrittsgeld erschrecklich hoch ist: in das Deutsche Theater zu gehen lohnt sich auch in diesem Fereiensommer. Müller-Schlössers "Schneider Wibbel", dieses possierliche, derb-gesunde rheinische Lustspiel aus der napoleonischen Zeit, das ungewohnt so manche Anklänge an das Heute enthält, wird wieder gegeben, nachdem es zuerst vor etwa zwölf Jahren im Künstlertheater im Berliner Westen über die Bühne gegangen war. Die alte Behaglichkeit umfängt uns aufs Neue; hier kann man doch wirklich herzhaft lachen, nicht nur faunisch meckern.

Wenn man noch mehr will, muß man heute in ein Vorstadttheater gehen. Das gibt es noch, wahrhaftig. An der Peripherie Berlins wandert sogar ein riesiger Zeltzirkus, der Zirkus Barum, mit zehn Wohnwagen, mit Elefant und Kamel und Lama, mit Pferden und sonstigem Getier herum und veranstaltet - billig, ganz billig - je ein bis zwei Wochen lang Aufführungen, deren sich selbst der Zirkus Busch nicht zu schämen braucht. Aber das Theater in der Schönhauser Allee, das ich einmal dort in unstillbarem Entdeckerdrange aufgesucht habe, das war doch mal "etwas ganz anderes". O, kein einziger Feinschmecker ahnte, daß es so etwas in Berlin gäbe! Gespielt wurde Romeo und Julia von Shakespeare. Es war zum Wälzen. Der selige Striese konnte es nicht besser machen, keine auf Teilung spielende Dorfschmiere könnte Shakespeare ärger verpatzen. Selbstverständlich war alles bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen, selbstverständlich schluchzte das Publikum vor Rührung. Ich - schneuzte mich auch. Als nun aber die Familie Capulet mit Gefolge auftritt und, wie im Theater die hohen Herrschaften immer, durch Trompetenstöße angekündigt werden muß, ertönt - der Dreiklang eine Autohupe, das "Tahi-Tatü!" des Kaisers, das bekannte Signal, das der Berliner mit "Selle-rie Sa-lat!" wiedergibt. Nun konnte ich nicht mehr. Nun platzte ich aus. Worauf mich eine umfangreiche Dame wütend anzischte:

"Sie unjebildeter Affe, wenn Se nischt von Thiater vastehn, denn jehn Se doch in Kientopp!"
19.Juli 1923 (Donnerstag).


44

Begrabene Lebensarbeit - Riesen-Solo-Edelkrebse - Keine "Eier" mehr - Kartoffelnot - Unsere Sechzehn- und Siebzehnjährigen - Der "Antifaschisten-Aufmarsch" in Berlin - Vor dem Lumpenkeller

Es war wirklich eine schöne Leich.

Zwar hat kein Pfarrer trostreiche Worte am Grabe gesagt, kein borstiger Kriegervereinszylinder lüftete sich und kein Männerquartett sang: Es ist bestimmt in Gottes Rat. Aber schön war es doch. Ich habe nämlich - meine Lebensversicherung bestattet. Ich ließ sie nicht in der Erde oder in Flammen zu Asche werden, denn das ist es ja eben, je länger die Versicherung existierte, desto weniger reale "Asche" blieb von ihr nach. Nein, ich ließ sie einen Wikingertod sterben. Auf Wellen trieb sie dahin. Auf Wellen köstlichen Weines. Meine Kehle herunter. Also ein halbes Leben lang habe ich gespart und geschafft, um die Gewißheit zu haben, daß, wenn ich einmal stürbe, meine dann mehr oder weniger greisen Hinterbliebenen doch von den Zinsen meines Erarbeiteten, der Versicherungssumme, bescheiden weiter existieren könnten. Pizarro, glaube ich, war es, der seine Schiffe hinter sich verbrannte; und der Freiherr vom Stein lachte ingrimmig, als Moskau in Flammen aufging, und sagte, er habe schon mehrmals im Leben sein Gepäck verloren. Was die können, kann ich auch. Lächelnd sah ich die Summe in ihrem Kaufwert schrumpfen. Die aufgespeicherte Mehrarbeit eines halben Lebens schwand dahin. Im vorigen Sommer hätten noch die weiblichen Angehörigen der Familie sich dafür in Trauerschwarz einkleiden können. Leider starb ich nicht so passend. In diesem Sommer würde das viele Geld nicht einmal mehr zu einem Leichenhemd für mich selber langen. Also nun sterbe ich erst recht nicht. Als man gerade noch zwei Flaschen guten Rheinweins für das Geld (das mir notabene noch garnicht ausgezahlt ist, denn ich lebe ja noch) bekommen konnte, und ich schon darauf aus war, warf mich ein Unfall für vier Wochen in die Matratzengruft. Nun der erste Gang hinaus. Nun sollte die Lebensversicherung endgültig vertrunken werden. O, es war eine schöne Leich. Ich habe nur noch eine halbe Flasche bekommen, aber es war 1921er Liebfraumilch.

Mit dem ersparten geht es ja vielen Tausenden ähnlich wie mir. Da ist eine alte weißhaarige Dame unserer Bekanntschaft, deren Vater, ein Gutsbesitzer, vor langen Jahren seinen Töchtern so viel hinterließ, daß sie davon leben konnten. Aber was macht man heute mit 2400 Mark Zinsen - jährlich? Am besten ist es da doch, man nimmt gleich das "Kapital" und macht sich damit einen guten Tag, ich meine, ein nettes Viertelstündchen. Zu meinen drei Glas Liebfraumilch habe ich mir noch zwei Krebse gegönnt. So hießen diese Schalentiere wenigsten früher, als wir noch Buben waren und sie tags im Bache mit den Händen griffen oder nachts bei Beleuchtung mit dem kleinen Stocknetz hoben. Heute heißen sie im Restaurant: Riesen-Solo-Edelkrebse. Dieser Namenschwindel hat von Berlin aus schon längst auf ganz Deutschland übergegriffen. Früher kaufte man sich für einen Groschen ein paar Eier, und selbstverständlich mußten sie gut sein, sonst gab man sie zurück. Heute unterscheidet man Kalkeier, Kisteneier, Landeier, Trinkeier; und für "frische Land-Trinkeier" muß man eben mehr bezahlen als für die anderen. Im übrigen sind es aber ganz gewöhnliche Hühnereier. Auch die Riesen-Solo-Edelkrebse sind nur Mittelgut. Durchaus nicht auffällig groß, auffällig vereinzelt, auffällig edel. Es ist wie mit der Gans, von der man in Pommern sagt, sie sei ein unpraktischer Vogel: für einen Esser zu viel, für zweie zu wenig. Mit zwei Krebsen hätte früher niemand etwas anzufangen gewußt. Der verstorbene Leibarzt Dr. v. Hirsch, der drei russischen Zaren gedient hat, ein gebürtiger Balte, aß sie für sein Leben gern. Einmal im Jahre - und einmal machte ich dieses Einmal mit - pflegte er sich, weit weg von Petersburg, in deutschem Lande, vor eine Schüssel mit 60 Krebsen zu setzen. Andere Männer mit ähnlichen Schüsseln waren geduldet. Damen nicht. Denn man saß in aufgestreiften Hemdsärmeln zu ernster Arbeit da und nicht zu leichtfertiger Konversation. Heute gibt es dergleichen wohl nur noch dort, wo die nächste Eisenbahnstation zehn Meilen entfernt ist. Allüberall anderswo bringen heute die Buben die von ihnen gefangenen Krebse zum Aufkäufer, und der schickt sie nach Berlin oder in andere Großstädte, und da heißen sie Riesen-Solo-Edelkrebse und jeder einzelne kostet soviel wie früher sieben Mastochsen.

Unsereins begreift das wenigstens. Schlimm ist es aber für die Vielen, für die Masse, die nicht verstehen, warum uns nun der Brotkorb höher hängt. Denen wird ganz dumpf vor Wut im Kopf. Früher konnten sie bei Aschinger für 15 Pfennig ein Kaviarbrötchen bekommen. Heute gibt es für viele tausende von Mark häufig nicht einmal mehr ein Pfund Kartoffeln in der Markthalle. Man behilft sich, so gut es geht, mit Reis oder Polenta oder mit Mehlklößen, aber nicht jede Hausfrau versteht es, sich zu behelfen, und wenn die Kinder Hunger haben, dann wird sie rabiat. Nützt es etwas, diesen Müttern die Lage zu erklären?

"Die Provinz Posen allein hat früher ein Fünftel unseres gesamten Kartoffelbedarfs gedeckt; und um diese Provinz haben wir nicht gekämpft, sondern sie mit dem Mut zur Geduld den Polen überlassen; aus Malta und anderen Gegenden kamen früher reichlich die ersten Kartoffeln, die heute für uns unbezahlbar sind; und das naßkalte Juniwetter hat die Ernte im Inlande sehr beeinträchtigt."

Solche Erklärung nützt garnichts. Niemand hört darauf hin. "Totschlagen müßte man sie!", heißt es immer wieder. Wen denn? Die Wucherer, die, die unsere Lebensmittel zurückhalten, um nachher mehr dafür zu bekommen! Das ist natürlich Unsinn, denn das "Mehr" nachher ist es nur in Zahlen, nur in Papier, ist oft in Wirklichkeit ein Weniger, und das Land jedenfalls liefert, was es nur kann, ihm wird ja von Aufkäufern alles aus den Händen gerissen. Es stünde vermutlich ganz anders um uns, wenn wir, statt Hände hoch zu machen und "Nie wieder Krieg!" zu greinen, wie die Türken gehandelt hätten. Das weiß aber die große Masse bei uns nicht.

Vor allem wissen es die Halbflüggen nicht, die während des Krieges ohne Erziehung geblieben sind, weil Vater im Felde und Mutter auf Arbeit war. Diese jetzt Sechzehn- und Siebzehnjährigen sind mit ihrer kaltschnäuzigen Revolutionslust und Plünderungssehnsucht viel gefährlicher als die Mütter mit ihrer Verzweifelung. Zwei Berliner Mädels stehen in der Frühstückspause gestern vor ihrer Fabrik. Schrippe mit Schlackwurst. Schmeckt ihnen gut. Sind rund und rosig, kaum aus dem Backfischalter heraus. Unterhalten sich über das Thema des Tages. den angeblichen Antifaschisten-Aufmarsch, den die Kommunisten für den nächsten Sonntag in ganz Deutschland angesagt haben.

"Au Backe, det machen wa mit, det jibt Laune!"

"Is doch vaboten?"

"Quatsch, vaboten! Uns kann keener!"

"Die Lektrische fährt aba nich."

"Janz einjal, ick loofe; denkste denn, ick will nischt haben, wenn de annern alle mit neue Stiebel und neue Kleider zurückkommen?"

"Det schon; un ick möchte 'n Jramophong!"

"Alles kannste ham!"

"Na denn mach' ick den Feez mit."

Hier sind wirklich keine moralischen oder sonstigen Hemmungen mehr vorhanden. Bei der männlichen Jugend des arbeitenden Groß-Berlins wohl noch weniger. Da hilft natürlich kein behördliches Verbot mehr. Auch durch wohlgemeinte Reden und Aufrufe kann man das nicht wieder einebnen, was die rote Erziehung der letzten Jahre aufgerissen hat. Gegen Gewalt ist nur mit Gewalt etwas auszurichten. Der nächste Sonntag soll, wie der Edelkommunist und Milliardär Cassirer, der Gatte der Tilla Durieux, erklärt, erst die Vorprobe bringen. Wird sie energisch "abgeklopft", dann haben wir Ruhe. Dann können wir schwer atmend weiter. Dann können wir noch hoffen, der äußeren Last Herr zu werden und das Ruhr-Joch einst abzuschütteln. Sonst aber gehen wir natürlich den Weg Rußlands, auf den Hungertod von Millionen nach dem Mord von Zehntausenden los. In Berlin heißt es heute, die Warenzufuhr stocke bereits. Es komme nichts mehr herein. Wer klug sei, der verproviantiere sich so schnell als möglich. Ach was. Angesagte Revolutionen bleiben immer aus. Außerdem hilft kein Verproviantieren dem Einzelnen. Wir werden gemeinsam leben oder gemeinsam untergehen: der Bourgeois und der Proletarier. Wobei der großstädtische Arbeiter heute vielfach schon das Erstere ist.

Erstaunlich ist in dieser schwülen Zeit, in der jedermann fatalistisch auf das Losbrechen des Gewitters wartet, eine kleine Zahl beherzter Männer sich aber statt mit Lebensmitteln mit Waffen eindeckt, das Erwachen - antisemitischer Instinkte in der Masse. Die Rote Fahne selber, die doch nicht von Deutschen redigiert wird, hetzt gegen die "jüdischen Kapitalisten". Gelegentlich kommt es schon zu kleineren Ausbrüchen des Volksunwillens. Auch das muß man als getreuer Chronist der gegenwärtigen Kulturgeschichte, der die Wahrheit sehen und sagen will, der Mit- und Nachwelt draußen im Lande vermelden. Nur eine kleine Beobachtung. Ecke Großbeeren- und Möckernstraße. Ein kleiner Plattenwagen, mit Lumpen bepackt, die ein alter Fuhrmann, ganz eiserne Ruhe, ordnet. Ein dicker vierschrötiger Bierkutscher, Lederschürze, schimpft unbändig: "Ihr Gesindel, Ihr saugt uns jetzt aus, aber wir werden es Euch heimzahlen!" Das Publikum, kleine Leute, sammelt sich, freut sich, ist erwartungsfroh. Nun taucht auch der Auftraggeber auf, blaurasiert, Stoppeln über den Backenknochen bis unter die Augen. Geht geschäftig zwischen dem Wagen und dem Lumpenkeller hin und her. Da holt unser Bierkutscher einen Eimer voll Wasser, gießt ihn dem Exoten über den Kopf, haut ihm links und rechts wortlos ein paar mächtige Backpfeifen hinterdrein. Rings beifälliges Gemurmel. Wortlos setzt sich der Geschlagene auf den Wagen und läßt den Kutscher anfahren. Niemand hat Mitleid mit ihm. Arbeiterfrauen rufen: "Was will das fremde Pack hier? Unsereins kriegt keine Wohnung!" und hinter dem abrollenden Wagen rufen Klassenbewußte hinterher: "Jud, mach die Straße sauber!" In der Pfütze, die der Eimerguß gemacht hat, liegen nämlich noch ein paar Lumpen.

Auch für die buchstäbliche Wahrheit dieser Geschichte kann ich mich verbürgen. Ich erzähle nur Erlebtes. Ich ziehe gar keine Schlüsse daraus. Ich erinnere mich nur, daß 1898 die Frankfurter Zeitung eine Chronik der Revolution von 1848 veröffentlichte. Da wurden zuerst Behörden abgesetzt, Schlösser erstürmt. Nach ein paar Tagen aber hieß es von demselben Ort: "Man prügelte und plünderte Juden." Wenn die Herren Cassirer und Genossen klug sind, lernen sie aus der Geschichte.
26.Juli 1923 (Donnerstag).


45

Hinaus in die Freiheit! - "Festangestellte" - Das verrückte Berlin - Haschischraucher - Wohnungsnot und Wiederaufbau - In der Zeppelinhalle

Als heißblütiger junger Dachs wurde ich einmal auf Festung geschickt, um etliche Zeit von meiner Zweikampflust abzukühlen. Der nahe Schwarzwald grüßte herüber, unten in der Kaserne wurden Feldartilleristen gedrillt, ein Mitgefangener erwies sich als famoser Kamerad, die Verpflegung war ausgezeichnet, unser alter Aufseher erzählte so schön von 1870, wenn wir mit ihm Ausgang hatten: wirklich, es ist mir noch heute eine liebe Erinnerung. Und doch, die Freiheitsentziehung allein schon war für den jungen Unband eine Qual. An dem Tage, an dem ich meine Papiere wieder erhielt und mich zur Abreise fertig machen durfte, jubilierte alles in mir, und mit so stolz erhobenem Haupte habe ich selten ein Quartier verlassen.

Das erlebe ich nun alle Jahre wieder. Der Beruf ist ein härterer Aufseher als der alte Unteroffizier a.D. Zachmann von damals. Die imaginären Ketten von Berlin drücken ärger als die ebenso imaginären von Rastatt. Wenn man elf Monate "Sitzen" am Schreibtisch hinter sich hat, jauchzt man dem zwölften Monat der Freiheit wie ein Kind vor dem Christbaum entgegen. Ich wünschte nur, alle Berliner wären dann wieder in Berlin, und ich träfe draußen keine. Aber es scheint, daß das Reisen jetzt erst recht epidemisch wird. Am letzten Juli stehen wieder, dank der Verteuerungsreklame der Reichseisenbahn, ungezählte Tausende bis weit auf den Potsdamer Platz hinaus vor der Mitropa, mühsam gebändigt von mehreren Schutzleuten, und erstehen sich stundenlang ihre Fahrkarten. Ich kann das noch nicht, ich humpele noch. Aber meine Hausgenossen, dienende und liebende, sind zu Festangestellten geworden. Ich habe sie um Fahrkarten und um allerlei sonst noch in der ganzen Stadt angestellt. Sie stehen irgendwo eingekeilt. Gegen Abend kehren sie zurück, legen ein Weniges auf den Tisch, das sie erstanden haben, und bringen von den Unsummen, mit denen man sie ausgesandt hat, so gut wie garnichts wieder heim. Einerlei. Im Kampf um die Freiheit spielen die Kriegskosten keine Rolle, - man möchte sich den Kragen vor Freude aufreißen, daß man nun dem Gefängnis von Stein und Asphalt wieder entrinnt, dem ganzen Irrenhaus Berlin Valet sagen darf, in wenigen Tagen Gorch Focks "blankem Hans", der See, wieder in die unergründlichen Augen sehen kann. Luft, Luft!

Auf dem Rundgang bei seinen Festangestellten sieht man sich noch einmal mit grimmigem Lächeln die Berliner an. Man hat sie mitunter sogar lieb gehabt. Jetzt haßt man sie die letzten Tage über. Sie kommen einem alle wie taumelnde Irre - oder wie Irrenwärter vor. Da begegne ich einer Dame mit Schlitzrock. So etwas sah man früher im Palais de danse um Mitternacht und es gehörte nicht zur Gesellschaft, jetzt gehört es zur Gesellschaft und tänzelt in praller Sonne über den Königsplatz. Der Rock ist an der einen Seite über Kniehöhe offen, der Unterrock an dieser Seite ganz hochgesteckt; an der anderen schlampt er. "Du bist verrückt mein Kind, Du mußt nach Berlin; wo die Verrückten sind, da gehörst Du hin!" Die Menschen werden einem unerträglich. Man möchte den Briefträgern an die Gurgel, die so langsam daherschlendern, als lohne es sich garnicht mehr, für diese Welt von 1923 seine Pflicht zu tun. Tagelang habe ich die im Voraus bezahlte Antwort auf ein Telegramm erwartet, das ich an das Hotel unseres ersten Reiseziels geschickt hatte. Die Antwort kommt endlich an. Auf dem Formular ein Stempel: "Wegen Überlastung der Telegraphenleitungen mit der Post versandt!" Dieser Staat von heute nimmt die Gebühr für das Funken, zahlt auch nichts zurück, funkt aber nicht, sondern läßt mit Hüh und Hott nur seine Postkarre trotten, und wenn ich das ein unreelles Geschäftsgebahren nennen wollte, käme ich statt an die See vielleicht vor den Staatsgerichtshof.

Das ist die wilde Ungeduld, die selbst den Weisesten packt, wenn er die Tore der Freiheit schon knarren hört. Man müßte wieder einmal im Orient versinken, um die große Ruhe zu lernen. Dann würde man selber nicht mehr hasten, sondern dem würdigen Postsekretär freundlich Salaam bieten, wenn er just vor einem den Schalter schließt. Nachdem man anderthalb Stunden davor Schlange gestanden hat und nun endlich herangekommen ist.

Aber siehe, die Tröstungen des Orients sind auch für die Berliner bereit. Nach dem Kokain, dieser Erfindung der unruhvollen westlichen Teufel, ist das Haschisch wieder erschienen, das im Osten die bösen Bilder scheucht. Viele Menschen in diesem brütenden Steinhaufen Berlin gehen zu Husseen el Arslan, wenn sie meinen, irgend etwas in ihren Adern stürbe und das große Frieren werde ihr Herz erstarren lassen. Hussee el Arslan, der bleiche stille Egypter, reicht ihnen die erste Pfeife Haschisch, und alsbald läuft es durch ihre Adern gleich flüssigem Feuer. Die bösen Bilder schwinden, das Gewissen schweigt, dann kommt die große Ruhe, und alles wird rundum vollkommen. Man hört das silberne Plätschern eines Brunnens der Oase, wie ein leises Lied, und jeder Gram der Welt ist tief unter einem wie ein fernes Summen. Den Leib fühlt man nicht mehr, und die Seele fliegt durch unendliche Räume voll zitternder Wärme. Husseen el Arslan ist billig und von milder Güte, er wuchert nicht mit seinem Balsam, sondern sichert sich nur ein bescheidenes Dasein und fällt den Häschern daher nicht auf. Die schleichen des Nachts umher, um nach Spielhöllen und Weibhöllen zu spähen, er aber tröstet die Seinen am hellen Tage. Beim Scheich Abu el Omar habe ich einst meine zehn Pfeifen unter dem blühenden Judendornbaum neben der Dattelpalme geraucht und mich mit der Weisheit des Orients getränkt, die Vergessen heißt. Aber ich, ich will nicht vergessen, was war und was ist, ich brauche im ratternden Berlin kein Haschisch, denn sein Raucher sinkt schneller als die Papiermark zum Hades; wer im Jahr die tausendste Pfeife am Herdfeuer enttündet hat, der vermag den Arm nicht mehr zu heben, um sich der Feinde zu erwehren. Mögen die Schwachen, die das Geschick überrannt hat, daran sterben. ich will leben und wirken, leben und erleben, daß alles wiederkehrt, was wir verloren haben.

Will leben, bis wieder wir alle auch ein Dach über dem Haupte haben, wie es ehedem war, ein Dach über eigener Wohnung. Heute sind in der Großstadt noch Zehntausende unstet und flüchtig und drängen sich mit ihren Gesuchen und ihren "beigekniffenen" Fünf-Millionen-Mark-Scheinen an die dafür "zuständigen" Beamten heran. Eine Zeitlang muß es bei den Berliner Wohnungsämtern Richtlinien gegeben haben, wonach diejenigen Verlobten besonders zu berücksichtigen seien, bei denen es "so weit war", wie man zu sagen pflegt; und findige Leute vermittelten Wohnungsuchenden gegen reichliche Gebühr zunächst - eine "Braut" zum Vorzeigen, die guter Hoffnung war. Auch mit diesem Kniff ist nichts mehr zu machen, die Ämter sind unerbittlicher denn je, und die Schar der Wohnungslosen, die für ein Heidengeld ein Unterkommen in einer möblierten Bude mit üblen Türnachbarn nehmen müssen, wächst von Tag zu Tag.

Aber auch in diesem Berlin ist unmittelbar neben dem Niederziehenden das Erhebende zu finden. Mein erster Ausflug ins Freie hat mich an die äußerste Peripherie eines Berliner Vorortes zu Verwandten geführt. Jenseits des Weges - Straße kann man eigentlich garnicht sagen - ist ein Neubau gerade unter Dach gekommen. Tagsüber ist es da still. Aber in aller Herrgottsfrühe und am spätesten Abend wird gewerkt. Das Haus erbauen sich ganz allein Mann und Frau! Ein blutjunges Arbeiter-Ehepaar, deren im Frühling geborenes erstes Kindchen im Korbe daneben liegt. Der Mann ist Lagerist irgendwo in der Stadt, die Frau arbeitet auch, jede ersparte Mark wurde sofort in Sachwerten angelegt, mal in ein paar Ziegeln, mal in einer Latte, statt acht Stunden arbeiten beide unverdrossen zwölf, und in drei Jahren hatten sie ihre Baustoffe beisammen. Nun kommen sie morgens um 5 Uhr und werken bis 7, wo sie nach Berlin hineinfahren müssen, kommen nachmittags um 5 wieder heraus und bauen weiter bis um 9, und so Tag für Tag, und den Sonntag ganz, und zum Winter haben sie ihre vier Stübchen mit Küche und Keller und Boden und Hühnerstall fertig. Sie hatten nichts außer dem kleinen Grundstück, das einst billig ihnen zugefallen war, und ihrem eisernen Fleiß. Nun haben sie es geschafft, vorbildlich geschafft. Freilich haben sie sich sonst kaum etwas gegönnt. Aus solchem Holze aber werden Männer und Frauen geschnitzt, deren Söhne einst große Industriekapitäne werden. Die Voreltern unserer Größten haben nicht viel anders angefangen. Für ein paar hundert ersparte Taler kaufte der Großvater von Hugo Stinnes sich seinen ersten Rheinkahn. Auch damals waren wir eine arme Nation, ausgepreßt vor noch garnicht langer Zeit durch die Franzosen, aber auch damals gab es eben Männer, die von "Wiederaufbau" nicht redeten und schrieben, sonder einfach - wieder aufbauten.

Das kann man ruhig mit einem winzigen Häuschen, wie etwa mit dem der Krupps in Essen, oder mit einem Kahn oder mit einem Zwergbauernhof anfangen. Das übrige wächst dann schon unversehens hinzu, wenn nur die rechten Männer da sind, die mit Zähigkeit und Gottvertrauen weiter ans Werk gehen. So einer war der alte Graf Zeppelin, von dem jeder Kellner in Stuttgart und Friedrichshafen einst den Fremden lächelnd zuwisperte "Dees isch e Narr, er moint, mer kennte fliege", und der dann doch - mit gefalteten Händen laut betend vor allen seinen Arbeitern - zum ersten Fluge sein Luftschiff aus der Halle bringen lassen konnte und auch noch die Vollendung seines Werkes erlebt hat. In Staaken bei Berlin steht noch die Riesenhalle, zwölftausend Quadratmeter groß, über fünfzig Meter hoch, von der aus 1920 die "Bodensee" in nicht mehr als 3½ Stunden quer durch ganz Deutschland von Berlin nach Friedrichshafen flog. Das war eine der schönsten Luftreisen meines Lebens. Der alte Graf hat diese Rekordfahrt nicht mehr erlebt, auch vorher allerdings nicht mehr den Zusammenbruch Deutschlands. Seine Staakener Halle aber, die laut Ententegebot ihren eigentlichen Zwecken nicht mehr dienen darf, ist heute das größte Filmatelier der Welt, das seinesgleichen nicht einmal in Amerika hat. Vor wenigen Tagen haben sich Männer der Presse dreier Erdteile dort versammelt. Es ist ein ungeheures Theater mit Kuppelhorizont, mit verschiebbaren Bergen, Städten, Wüstenlandschaften, und gedreht wird im hellen Scheine der Jupiterlampen die Bergpredigt. Kontraste über Kontraste. Richtige Nachkommen der alten Juden, nur hier im Tennishemd und Shimmyschuhen, dirigieren das ganze Drama I.N.R.I, das so nach den Initialen der Aufschrift am Kreuze heißt, von riesenhoher Kommandobrücke aus. Unten sitzt, holdselig und blond, die Mutter Jesu, Maria. Natürlich ist es Henny Porten. Noch im biblischen Kostüm. Weiterhin aber, auf einem Bänkchen, schon wieder ausgehfertig im Tagalhut und Schleier und langen Wildlederhandschuhen, mit dem berühmten Beben ihrer Nüstern, - Asta Nielsen, die soeben noch die Maria Magdalena gemimt hat.

Volk, viel Volk ist da, Römer, Galiläer, Juden. Sie sind es für diesen Tag, sonst sind sie Berliner. Zum großen Teil klassenbewußte Proletarier. In der Pause werden Margarinestullen gekaut; Dattelbrot und Feigen werden nicht geliefert. In einer Ecke führt ein vielleicht Zwanzigjähriger das große Wort. Das alles sei Sage, Märchen, Schwindel, sagt er. Kommt dann auf Politik zu sprechen. Jahrhundertelang seien wir vom Königtum geknechtet worden. In Not und Tod immer wieder hineingepeitscht. Dann endlich habe die Revolution uns Freiheit, Frieden, Brot gebracht. Und der Endsieg des Proletariats sei die Glücksstunde der Menschheit.

Aber es gibt Zweifler an solcher Weisheit. Immer mehr Zweifler. Von Jahr zu Jahr ein wachsendes Heer. Ein Vierzehnjähriger in Staaken hört zu und schürzt endlich die Lippen. Es fällt ein Wort, für das ich den Bengel umarmen möchte. Er sieht den Redner mit abgründiger ruhiger Verachtung an und sagt nichts als:

"Un det jloobste?"
2.August 1923 (Donnerstag).



Glossen 40 - 42

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© Karlheinz Everts