"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 22 - 24
15. Februar bis 1. März 1923


22

Mensch, ärgere dich nicht - Arbeiter-Kabarett Rote Nachtigall - "Rinnsteinkunst" - Die neue Ausstellung der Sezession - Ein Lenbach-Wort - Keine Normaluhr mehr - Dalles und Pleite - Wie es manchmal kommt

Iba dajaja kaichmich deäkt äjan!

Das ist nicht etwa eine Begrüßung auf Papuanisch. Sonst würde man diese Worte auch nicht so häufig in der deutschen Reichshauptstadt hören. Am meisten in den Markthallen. Wenn es da einen Auflauf gibt, weil die Preise wieder einmal unverschämt in die Höhe geschnellt sind, sagt der Fleischer oder die Margarinefrau oder die Fischhändlerin regelmäßig und achselzuckend, daran seien nur die unverschämten Agrarier schuld, und die einkaufende Frau Schulze oder Frau Lehmann, schon halb besänftigt, pflichtet der Begründung bei und grollt nur: "Über die Agrarier kann ich mich direkt ärgern!" Das bedeutet nämlich der ürsprünglich rätselhafte und doch so oft gehörte Spruch. Bekanntlich ist der Berliner, was er übrigens mit manchen anderen Mitteleuropäern teilt, der Ansicht, daß er allein hochdeutsch spricht. Da kaichmich deäkt iba äjan. Denn wenn ich das Kölsch oder Frangfordersch oder Säksch auch keineswegs besonders schätze, so verschandelt der r-lose Bealina doch erst recht unsere schöne, wie ein Hammerwerk konsonantisch pochende Sprache. Wer jemals Italiener aus dem Volke hat debattieren hören, was wie Abra-Kadabra rollt, der findet, das Italienische sei von heldischer Härte. Das Berliner Deutsch aber zerfließt. Alles ist hier abgeschliffen, wo Hussiten und Hugenotten mit Teilen aller deutschen Stämme im Laufe der Jahrhunderte zu einem Gemengsel wurden. Von dem französischen Einschlag - das war zu Zeiten ein ganzes Drittel der Bewohner der Hauptstadt - blieb das Kecke, das Herausfordernde, das Naßforsche im Wort. In Wirklichkeit blieben die Berliner, schon weil sie stets so gemischt waren, duldsam und rücksichtsvoll und gemütlich. Auch die teuren Fleischpreise, an denen natürlich die Viehkommissionäre mehr schuld sind als die Agrarier, reizen nicht zu richtiger Wut, sondern, au contraire, zu vergnüglicher Feier. Da kostet der Sonntagsbraten, der in mehrfacher Verjüngung und Umarbeitung für die ganze Woche vorhält, einer starken Familie zum ersten Mal für die sechs Pfund 25 000 Mark. "Det müssenwa feian!" So beruhigt mancher Hausvater schmunzelnd die zersorgte Gattin, und schließlich fliegt auch ihr ein goldener Berliner Leichtsinn an. So häufen sich die Jubiläen. Sie folgen einander immer schneller. Von zehntausend auf hunderttausend Mark Wirtschaftsgeld monatlich war man schier besinnungslos gekommen, und die Million werden wir allesamt wohl noch in eiligerem Tempo erreichen. Mensch, ärgere Dich nicht. Feiere lieber. Heuer war sogar jeder Fastnachtsball verboten, erst von dieser Woche ab sollen wieder zwei Tanzabende wöchentlich freigegeben werden, und da haben wir statt dessen die doppelseitige Lungenentzündung eines angeheirateten Neffen festlich begangen. Das war nämlich die Gelegenheit, für ihn ein paar Apfelsinen zu kaufen, die wir uns diesmal nicht einmal zu Weihnachten gegönnt haben, und das Herz lachte uns bei dem schönen Anblick. Leberecht Hühnchen, der genügsame Phantast, könnte unser Nationalheiliger werden.

Nicht jeder ist so genügsam wie der Durschnittsberliner aus dem Mittelstande. Sogar der sozialdemokratische Abgeordnete Sollmann hat ja im Reichstage öffentlich anerkannt, daß es dem jungen Arbeiter heute viel besser gehe als etwa unseren hungernden Studenten. In sogenannten Proletarierfamilien, in denen mehrere Angehörige, nicht nur der Vater allein, Vollverdiener sind, kann man sich schon was leisten. Das ehemalige "lateinische Viertel" nördlich der Spree, wo früher der Musensohn nach der offiziellen Kneipe noch in das Café Greif oder in den Strammen Hund ging, ist heute der reine Vergnügungspark für das gehobene Proletariat geworden. Sogar Celly de Rheidts Nackttänzerinnen haben im Venuspalais der Elsasser Straße ihre Bleibe gefunden und treten allabendlich auch dicht dabei im Arbeiter-Cabaret Rote Nachtigall auf. Etwas süßsauer rezensiert der Vorwärts in seinem kleinen Feuilleton diese Kunststätte. Er hat an ihr nur das auszusetzen, daß darin zwei kleine Estraden als "Weinabteilung" anscheinend besonders für die Bourgeois reserviert sind. Keine Spur! Auch auf dieser Estrade, das kann ich als Ohrenzeuge, der gestern Abend unten daneben saß, versichern, verwechselt man mir und mich. Und unten kosten zwei kleine Seidel Bockbier auch 1540 Mark, was trotzdem die Hausdiener, Tischlergesellen, Packer, Ausläufer, Kohlenträger, Nähterinnen, Portierstöchter nicht abhält, zahlreich zu erscheinen. Mit Vergnügen werden schon die Wandinschriften in dem recht roh getünchten großen Raum studiert. "Willi is doof." "Jungfrauen Europas, wahrt Eure heiligsten Güter." "Du mir auch!" Es gibt viel Nackttanz - mehr nackt als Tanz -, es gibt allerlei sonst noch, also auf deutsch Variété, darunter einen famosen Schattenbildschneider, es gibt - das ist die Hauptgenugtuung des Vorwärts - Herrn und Frau Raffke wie früher Serenissimus und Kindermann, und es gibt sehr viele Zoten. Ein ungemein geschickter Schnelldichter, der sich ein Dutzend oder mehr Zitate aus dem Publikum (sie sind meist falsch) zurufen läßt und sie dann sofort zu einem Couplet verarbeitet, hat alle Mühe mit diesen eindeutigen Sachen. "Lerne lieben, ohne zu zahlen!" Das ist noch eine der sanftesten Sachen, die ihm beispielsweise gestern zugeworfen wurden. Die sozialdemokratischen Rezensionen stellen befriedigt fest, daß sie diese Rote Nachtigall in Berlin N. haben, im Gegensatz offenbar zu dem Blauen Vogel der Snobs in Berlin W. Aber, merkwürdig: im Blauen Vogel herrscht, von den farbenfreudigen Russen hergebracht, die reine - in jedem Sinne reine - Romantik, in der Roten Nachtigall dagegen ein etwas schmieriger Materialismus, ein Einschnappen auf jede schweinische Pointe. Die Raffkes mit Raffke-Geschmack, das sind hier in Wirklichkeit die Besucher selbst, wenn sie auch keine Raffke-Brillanten tragen wie Frau Raffke. Die demokratisierte Götzendämmerung der Moral. Sicherlich hat die Revolution zu diesem Ende mit beigetragen, obwohl auch schon vorher etwa auf Herrenabenden der Arbeiter-Athletenvereine schier Unmögliches geboten wurde. Aber nichts wäre doch unangebrachter als sittliche Entrüstung über diesen Tiefstand der "Kunst für das Volk". Kein Wasser fließt bergauf. Alles sickert von oben nach unten durch. Zuerst schwärmten die Bildungsphilister für Haeckels Welträtsel, bis sie dann zur Arbeiterbibel wurden. Zuerst verbreiteten die vornehmsten Stammtische den dümmsten Klatsch und Tratsch über den Kaiser, bis dann auch das Proletariat ihn für den impulsiven, gewalttätigen Autokraten hielt. Zuerst hat der Kurfürstendamm die Tanzkunst zur Fleischbeschau erniedrigt, ehe das Corps Celly de Rheydt in die Elsasser Straße übersiedelte. Der weniger gebildete Teil der Nation besteht aus großen Kindern. Ihre Seelen wird man von den oberen Zehntausend einst wiederfordern.

Auf die Unternehmer der Cabarets und sogenannten Unterhaltungsrestaurants lohnt es sich nicht einen Stein zu werfen. Kunst ist für sie Geschäft. Sie selbst haben mit wahrem Künstlertum so viel Beziehung wie die Botokuden mit der Kontrapunktik. Aber wir anderen, wir Gebildeten, sind ja jahrzehntelang zu dem Widersinn erzogen worden, die Kunst solle uns garnicht erheben, denn sie "solle" überhaupt nichts; sie sei ein Ding für sich. Jede wirklich künstlerische Betätigung ist aber doch schon für den Künstler selbst Erhebung über die Misere der Umwelt, ist für ihn das Asyl, in das er sich flüchtet, wenn anderswo alles unwirtlich grau in grau im Alltagsregen liegt. Seine Erhebung teilt sich dann wiederum den Zuschauern, den Hörern mit. So fliegen wir ins Genieland. Man hat es dem Kaiser als Banausentum und spießbürgerliche Enge verdacht, daß er "Rinnsteinkunst" nannte, was manche Mitglieder der Freien Sezession zustandebrachten, und für sich privatim nur Bilder kaufte, die nicht hingepatzt, nicht mit dem Spachtel geschmiert, sondern sauber in der Zeichnung waren - und erfreulich oder erschütternd (jedenfalls nicht ekelerregend) im Gegenstand. Über Geschmack soll man nicht streiten. Erst recht nicht mit Kunstliebhabern, die aus eigener Tasche bezahlen, was sie kaufen. Selbst wenn sie als Kaiser und Könige mehr als andere Menschen der öffentlichen Kritik unterstehen. Nun sind inzwischen lange Jahre seit dem Wort über die "Rinnsteinkunst" verflossen. Die Freie Sezession mit allen ihren Ismen, von denen der Kubismus der unbeholfenste, der Suprematismus der irrsinnigste ist, vegetiert noch, nur nicht mehr im eigenen Heim am Kurfürstendamm, das zu einem Kinotheater geworden ist, sondern in einem privaten großen Gemäldeladen Unter den Linden. Die diesjährige Ausstellung ist in diesen Sälen eröffnet. Wer im Hasten und Jagen der Großstadt ein Stündchen der Ruhe pflegen will, der gehe hin: er wird kaum durch andere Besucher gestört und kann sich bequem in einen der hochlehnigen Stühle versenken. Nur ansehen soll er sich nichts, keine Bilder, keine Skulpturen, sonst bekommt er sofort einen akuten Stirnhöhlenkatarrh. Da sind zwar zwei Porträtköpfe in Bronze, die sind mit Liebe durchgearbeitet; da sind ein paar Akte in Tuschzeichnung, die haben Schmiß; alles andere ist vielhundertfaches Gestammel von Nichtskönnern, Effekthaschern, Verdrehten. Lenbach, der große Münchener Maler, ist einmal in seinem Leben in der Sezession gewesen. Er schaute sich lange alles an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: "Nach hundert Jahren wird man glauben, dies alles habe ein einziges kolossales Rindvieh gemalt!"

Immerhin: als Stelldichein ist die Sezession zu empfehlen. Die Säle sind geheizt. Und wenn ein Pärchen daherkommt, das nur Augen für einander hat, ist die Gefahr der Malvergiftung ja nicht groß. Es gibt doch auch noch Pärchen, die nicht sofort nachmittags auf die Tanzdiele gehen. Früher tat man dies überhaupt nicht, nicht etwa, weil man damals kein in Rhythmen pulsendes, zu Rhythmen drängendes Blut gehabt hätte, sondern weil man um die Zeit noch arbeitete. Der Achtstundentag, der schon um 4 Uhr nachmittags Myriaden junger Leute auf die Straße speit, ist der Vater der Tanzdielen. Als es ihn noch nicht gab, traf man sich "an der Normaluhr". Es brauchte nicht gerade die am Potsdamer Platz zu sein; es gab auch stillere Gegenden. Und allenfalls ging man dann in eine Konditorei, saß auf dem Plüschsofa Hand in Hand bei einander, friedlich und stundenlang, und wenn auch die Schlagsahne auf dem Apfelkuchen, Kostenpunkt 20 Pfennig, schließlich unbeachtet verkrustete, was tat's? Also die Normaluhren, an denen man damals sich traf, werden in Berlin abgebaut. Bei den heutigen Löhnen kommt ihre Wartung der Stadt zu teuer. Außerdem wurden ihre wertvollen Teile Nacht für Nacht gestohlen; mit Vorliebe die Barographen im Wetterhäuschen unter der Uhr.

Die Reichshaupstadt, die ja so viele östliche Zuwanderer hat, ist über zwei von ihnen nicht sehr erbaut und wird sie trotzdem nicht los: die beiden heißen Dalles und Pleite. Bei wem diese Gäste hausen, der verkauft und verschleudert sein bischen Hab und Gut, um nur wieder für ein paar Tage sein Leben fristen zu können. Für ein Darlehen von lumpigen 300 000 dänischen Kronen hat Berlin einer dänischen Gesellschaft für die Zukunft eine Art Monopol im Fleischhandel eingeräumt. Dann hat sie für etliche Papiermilliarden ihre riesigen Hafenanlagen, meines Wissens den größten Binnenhafen Deutschlands, auf fünfzig Jahre an eine österreichische Firma aus der Hand gegeben. Wir sind also, obwohl die roten Stadtväter den Mund mit dem Sozialisieren immer noch sehr voll nehmen, bereits mitten im Privatisieren, Entsozialisieren, weil die Stadt Geld braucht, sofort Geld, unmittelbar Geld. Aus demselben Grunde werden die Forsten von Lanke abgeholzt, dem großen Güterkomplex, den die Stadt kurz vor dem Kriege von Herrn Friedländer-Fuld erwarb, um den Wald in seiner Gesamtheit den Berlinern - zu erhalten und nicht den Holzspekulanten zu überlassen. Berlin verfällt. Wenigstens das, was wir unter Berlin verstanden, die alte, gut verwaltete freie Stadt. Den Abbruch übernimmt die renommierte Firma Dalles und Pleite. Ein wenig von diesem Geschick droht uns ja allen. Und nachgerade versteht niemand mehr die wirtschaftlichen Vorgänge:

Der Dollar fällt, die Preise steigen,
Der Frühling kommt, der Frost beginnt,
Franzosen klauen, Briten schweigen,
Wir sind total verrückt, mein Kind.

Immerhin hat Berlin noch einiges Anziehende für die Besucher aus dem Reiche behalten, hauptsächlich deshalb, weil es - so groß ist, weil drei Straßen weiter einen schon niemand kennt und weil man ruhig, ohne aufzufallen, selbst vormittags Unter den Linden mit roten Pumphosen herumlaufen könnte. Da beklagt sich ein guter Freund aus einem sächsischen Städtchen, daß er kaum ein Glas Bier ohne Kontrolle trinken könne; und daß in der Silvesternacht, härnse, noch bis ½3 Uhr morgens Licht bei ihm war, das wußten am Neujahrsmorgen bereits sämtliche Einwohner. Also beschließt er, eines Tages in das "dolle" Berlin zu fahren, und zwar keineswegs alleine, sondern zu zweit, und mal in das "dollste" Theater zu gehen. Dort prangt leider an der Kasse das Schild: Ausverkauft! Nun, dann wenigstens hin in das Apollo, wo die Russen tanzen. Auch da: Ausverkauft! Unser Paar stürzt nun in ein naheliegendes Kaffeehaus, um in einer Zeitung schnell nachzusehen, ob es um diese Zeit, schon 8 Uhr, noch etwas anderes gäbe, und bekommt vom Kellner die Auskunft, es solle doch hinüber in die Urania in der Taubenstraße. Da werde der Steinach-Film vorgeführt. Sehr pikant, sehr fesselnd, aus dem Liebesleben der Tiere, Naturaufnahmen! Also, nichts wie hin. Schon sitzt man da. Aber es scheint eine Programm-Änderung vorgefallen zu sein. Man ist in einen wissenschaftlichen Vortrag über - rechnerische Erleichterungen für Ingenieure geraten.

"Man kann nie so dumm denken, wie es kommt," sagt der Berliner.
15. Februar 1923 (Donnerstag).


23

Messina-Spende und Ruhr-Spende - Neue Klubsessel-Gelegenheiten - Der Rütli-Schwur im Schauspielhaus - Versteigerung des Passage-Panoptikums - Nichts wie Bank - Auswanderertrupps auf der Durchfahrt in Berlin

Das furchtbar Erdbeben in Messina. Ein großer Teil der Stadt zu Trümmern und Schutt zusammengestürzt. Zehntausende ohne Obdach, ohne Nahrung. Da: ein Funkspruch Kaiser Wilhelms. An alle deutschen Schiffe, die sich unterwegs im Mittelmeer befinden. Katastrophe in Messina; bitte sofort hin, helfen. Wenige Tage später ist eine Zeltstadt, eine Barackenstadt bei Messina durch unsere Arbeit entstanden. Nahrung, Betten, Medizin, Ärzte, Geld, - alles da. Eine prachtvolle Höchstleistung organisatorischer Kraft.

Merkwürdig, wie sich diese Kräfte inzwischen verkrümelt haben. Man lächelt wehmütig, wenn ein Begeisterter - diesmal war es sogar ein ordentlicher Universitätsprofessor - einem erklärt, es sei doch etwas Großes um die Demokratie, die so gute Gedanken hervorbringe, wie beispielsweise den der neuen Geldanleihe. Spaß! Früher hatten wir so etwas eben nicht nötig, weil unser Papiergeld so gut wie Gold war; und daß die Not erfinderisch macht, ist ja schon sprichwörtlich festgelegt. Überdies ist die Goldanleihe doch noch keineswegs sicher ein Erfolg. Aber selbst wenn sie ein glänzender Einfall wäre, - wie träge pulst jetzt sonst das Blut durch unser Gehirn! Schlimmer als einst das Erdbeben auf Sizilien wüsten die Franzosen bei uns am Rhein und an der Ruhr. Abgesehen von gewissen waschecht roten Mitbürgern (im sächsischen Vogtlande haben die Gewerkschaftsführer den Arbeitern jede Gabe für die Ruhrspende ausdrücklich verboten) gibt jedermann Geld für die vergewaltigten deutschen Landsleute. Im Handumdrehen sind schätzungsweise 20 Milliarden Papiermark beisammen. Aber noch heute, nach vielen Wochen, hat keine einzige Stadtverwaltung im Einbruchsgebiet die nötigen Überweisungen erhalten, um alsbald mit der Arbeit beginnen, etwa Suppenküchen für Kleinrentner und andere Arme eröffnen zu können. Das hätte sofort geschehen müssen. Telegraphisch über die Reichsbankstellen oder direkt durch Kuriere. Hier, Bochum, bitte, 80 Millionen; kauft gleich Lebensmittel oder was Ihr wollt, rechnet später mit uns ab. Da, Elberfeld, bitte, 200 Millionen; errichtet gleich ein Flüchtlingsheim für Ausgewiesene, spart an nichts, meldet nachher das Ergebnis. Nichts dergleichen ist bisher unternommen worden. Ausgewiesene, die keine Verwandte im unbesetzten Gebiet haben, irren mit Frau und Kind ohne Geld umher und leben auf Pump. Im Einbruchsgebiete selbst mehrt sich die Zahl der Leute, die von französischen Mannschaftsküchen gespeist werden, natürlich immer mit dem Photographen im Hintergrunde. In Berlin aber wird derweil organisiert. Man legt Fonds an. Man schafft einen Beamtenstab für die Ruhrspende. Überall entstehen Propagandastellen in der bekannten Art: Klubsessel, Stenotypistin, Dienstauto. Namentlich das Auto ist unumgänglich. An der Spitze stehen vielfach Sozialdemokraten, die nebenbei Propaganda - für eine Verständigung mit den Franzosen machen. Nun wird auch unser Breslauer Professor - eben erst hat er sich noch für die Gedankenfülle der Demokratie begeistert - stutzig; er begreift es, daß das "Los von Berlin!" im Lande mindestens das gleiche Echo wie das "Hinaus mit den Franzosen!" weckt.

Nur sollten die Herren vom Rhein und von der Ruhr, wenn sie nach Berlin mit ihren berechtigten Beschwerden kommen, sich an die richtige Adresse wenden. Mögen sie die Ministerien und die Gewerkschaftsführer bestürmen und dort den Machern ihr Ultimatum stellen. Statt dessen halten sie sentimentale Vorträge in jeder Gymnasialaula vor dem patriotisch gebildeten Mittelstande und entrüsten sich da, daß wir in dieser Zeit überhaupt noch einen guten Tropfen über die Lippen bringen können. Ich lasse nicht davon ab, das offizielle Trauern im Haus und in der Öffentlichkeit für ganz nutzlos zu erklären. Als zu Beginn des Weltkrieges Ostpreußen von den Russen besetzt und verwüstet wurde und als nach dem zweiten Einbruch Zehntausende Deutscher aus dem Lande vertrieben und bis Sibirien gepeitscht wurden, Tausende am Wege starben und verdarben, hat man am Rhein und an der Ruhr deshalb auch nicht ein einziges Glas Wein oder Bier weniger getrunken; und man tat Recht daran.

Überhaupt sollte man mit der Heuchelei und Tuerei endlich aufhören und sich kalt und nüchtern sagen: noch ist alles vergebens, solange nicht die Massen gänzlich von dem Verständigungswahn geheilt und zu der Überzeugung gekommen sind, daß nur Gewalt entscheidet. Der berühmte "gewaltlose Widerstand" ist nur Aufschub. Die Franzosen weichen nur einer Volkserhebung, wie sie von der Geschichte in Irland, in den Niederlanden, in der Schweiz verzeichnet ist. An einen großen Krieg ist natürlich nicht zu denken. Die Grüppchen alter Offiziere, die jetzt in Berlin und anderswo sich ihren "Stab" am Stammtisch zusammenstellen, Kriegsspiele auf dem grünen Tuch mit Gleichgesinnten veranstalten und dergleichen Allotria mehr, sind ebensolche Narren, wie auf der anderen Seite die Wirth und Severing und andere Verhandlungsphantasten. Vieles ist nur Theater. Vor allem das Gerede von der bereits geschlossenen Einheitsfront der deutschen Nation. Da verschickt zum vorigen Freitag der Generalintendant der republikanischen Staatstheater Jeßner Einladungen zu einer Tell-Aufführung gleich mit je zwei Gratisbillets an alle Männer der Öffentlichkeit von Helfferich bis zu Scheidemann. Kaum jeh sah das Schauspielhaus eine so gemischte Gesellschaft. Und wenn dann in der Rütliszene auch Scheidemann die Schwurfinger wieder einmal hob, wie wir es schon vor der Annahme des Versailler Diktats erlebt haben, so konnte das doch keinen Zweifler bekehren. Der ganze Tell ist ja ein einziger Aufschrei gegen den tatenlosen Pazifismus unserer Zeit. Baumgarten hat nicht den Völkerbund angerufen, sondern:

"Da lief ich frisch herzu, so wie ich war,
Und mit der Axt hab' ich ihm's Bad gesegnet!",

wie ja auch der Schmied an der Ruhr (leider nur nach der Legende ein Deutscher) dem französischen Offizier, der ihn mit der Reitpeitsche traktierte, mit dem Hammer den Schädel einschlug. Auf dem Rütli ruft Rösselmann: "Man pflanze auf die Schwerter der Gewalt!" Die haben wir weggeworfen. Mit sattem Behagen triumphierte Ebert in der Eröffnungssitzung der Nationalversammlung: "Die alten Grundlagen der deutschen Machtstellung sind für immer zerbrochen! Die preußische Hegemonie, das hohenzollernsche Heer, die Politik der schimmernden Wehr sind bei uns für alle Zukunft unmöglich geworden! Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen!" Und nun sitzt derselbe Ebert in der früheren Königsloge zwischen seinen Novemberleuten und Parlamentariern auch anderer Parteien, alle zusammengetrommelt auf Gratisbillet, und hört sich Stauffacher an:

"Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht;
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben."

Nein, nicht das Schwert, sondern die Zunge, haben uns die Herren ja immer gepredigt. In der 6. Sitzung der Weimarer Nationalversammlung erklärte Scheidemann geschwollen, die neue Regierung der deutschen Republik wolle nicht einen "Frieden von jener Art, wie ihn die Geschichte kennt" machen, einen Frieden der Ermattung zwischen Kriegen, sondern "das harmonische Zusammenleben aller zivilisierten Völker auf dem Boden einer Weltverfassung, die allen gleiche Rechte verleiht." Da ist es denn begreiflich, daß man bisher den Tell nicht hören mochte. Auch diese neueste Staatsaufführung versucht ihn noch abzumildern. Der Tell, der da auf den Brettern stand, war nicht der Held, der unserer Jugend die Herzen heiß macht; ihm war nicht "die Milch der frommen Denkungsart in gährend Drachengift verwandelt"; er war mehr der holde Schäfer aus dem Rokokospiel, weichlich und schwächlich. Aber alles ist ja nur Mache und Zweck. Tells flammende Verurteilung Parricidas, der, nachdem er den Kaiser erschlagen, "wagt zu treten in Tells reines Haus", läßt Scheidemann nicht schamrot werden. Jenen Scheidemann, der schon am 7. November unseres Unglücksjahres namens der Sozialdemokratie erklärte, wenn Wilhelm II. nicht freiwillig ginge, werde man ihn mit Gewalt entfernen. Mit eherner Stirn hört man sich alles an, läßt man das bis vor kurzem verbotene Deutschland-Lied steigen, vereinigt man sich mit dem Publikum im Rütli-Schwur. Alles nur zu dem Zweck, um die Zügel in der Hand zu behalten, auf dem Bocke zu bleiben und im geeigneten Augenblick die etwa "nationalistisch" durchgehenden Pferde an der Kandare zurückreißen zu können. Theater; nichts wie Theater. Aber unsere Optimisten sind um eine neue Illusion reicher.

Für Schiller war das Theater in nationalem Sinne eine moralische Anstalt. Für uns ist es Vergnügungs-Etablissement oder Problem-Laboratorium. Neuerdings wird es vielfach zum Panoptikum in wörtlichem Sinne, wo die Darstellerinnen "alles sehen" lassen. Stücke ohne Entkleidungsszenen ziehen im Durchschnittstheater nicht. Ein Panoptikum alter Art, das Castansche, ist im vorigen Jahre eingegangen und hat seine Bestände an historischen Reliquien und an Schauerdingen, an denen der Kleinbürger aus dem Reich sich ergötzte, verauktioniert. Jetzt folgt ihm das Passage-Panoptikum. Alles "Provinzielle" aus Berlin verschwindet. Das Interesse für Wachsfiguren ist ja schon längst vorbei, aber es gab doch in der Passage manche andere Lockmittel, mal eine exotische Völkerschaft, mal ein paar als "letzte Azteken" vorgestellte Idioten, die aus einer im engen Ghetto degenerierten Judenfamilie aus Gablonz in Böhmen stammten, mal eine Zwergengesellschaft. Ich erinnere mich noch des schwammigen Druckes der weichen Pranke des Riesen Machnow, der in keine geschlossene Droschke paßte und in der offenen seine Beine, während er selber auf dem Rücksitz saß, zu beiden Seiten des Kutschers über den Bock herunter hängen ließ. Ich sehe auch noch den Schuster Voigt vor mir, den Räuberhauptmann von Cöpenick, der nach Verbüßung seiner Strafe in der Passage mit stumpfer Miene seine Unterschriften für 1½ Mark das Stück verkaufte, bis Frau Wolf Wertheim ihm dann eine lebenslängliche Rente aussetzte. In den letzten Jahren war dies alles keine Attraktion mehr. Man machte mit Cabaret-Vorstellungen mehr Geld. Und die 380 plastischen Präparate aus der Embryologie und aus gewissen Krankheitsgebieten, "nur für Erwachsene", reizten selbst den hergereisten Stift aus der Stralsunder Heringshandlung nicht mehr. Alles ist nun Gerümpel. Verstaubt werden die auf der Auktion erstandenen Dinge beiseite gestellt. Alte Richtschwerter, ein ausgestopftes Krokodil, die Kinderwiege des Königs von Rom, eine echte Mumie, ein Schlitten des Kurfürsten von Bayreuth, antike Elfenbeinsachen und tausenderlei sonst noch. In einem Saal sind die Köpfe der Wachsfiguren zusammengeworfen. Es sieht eigentlich grausig aus. Ich denke an die vielen Schädel erschlagener Armenier, die aus einer Schlucht in Kurdistan emporblickten. Im Körbchen des kleinen Moses hier der Kopf von Yvette Guilbert, im aufgebrochenen Gipsschoß der Tochter Pharaos der Hofprediger Stoecker und Graf Zeppelin. Kunterbunt durcheinander mehrere hundert lädierter Köpfe von Rotkäppchen bis zu Papst Leo XIII., von Napoleon I. bis zum Raubmörder Sternickel. Für die Slowakei und ähnliche bildungshungrige Länder wird einiges für einen Pappenstiel, weniger als Wachswert, von Aufkäufern erstanden, aber die meisten halten sich an reellere Dinge, etwa an Theater-Polsterstühle, Reihenklappstühle von je 22 Stück, die für 98 000 Mark abgehen. Einer hat - fabelhaft billig - für 30 000 Mark einen Geldschrank erwischt; er erweist sich nachher als Attrappe aus Blech. Niemand von den Erschienenen hat irgend einen Gemütswert an den Dingen. Es werden auch keine Witze gemacht, weil keine Sentimentalität zu bekämpfen ist. Nüchtern und sachlich wird der "Powel" verklopft.

Ein Paradies der Berliner Kinder von dereinst ist wieder dahin. Selbstverständlich zieht eine Bank in die geleerten hohen Räume ein, die Hamburger Handelsbank. Es gibt schon mehr Banken als Schulen in Berlin. Mitten auf dem Fahrdamm der Kronenstraße, mitten Unter den Linden, mitten in der Tauentzienstraße neue kleine Häuschen: Bank- und Wechselstube. Schon etablieren sich Bänkchen in einem Sonderverschlag von Zigarrengeschäften. In der Lindengalerie will angeblich der demokratische Abgeordnete Graf Bernstorff, der frühere Botschafter, seine erheirateten Dollars auch bankmäßig arbeiten lassen. "Wie stehen Phönix heute?", fragt der Dreikäsehoch, der die Kurse im Schaufenster nicht lesen kann. Dichtgedrängt stehen Deutsche vor den Zetteln. Auf der anderen Seite aber in der Lindengalerie werden magisch Ausländer herangelockt. Da gibt es Helme, Kartuschen, Bandeliere, Degen, Kürasse, Epaulettes, aus der Zeit des kaiserlichen Deutschlands, und Londoner Hausdiener und Mailänder Kastanienröster kaufen da ihre "Kriegsandenken".

Man kann schon den Humor bei solchem Anblick verlieren. Aber es gibt immer noch Leute, denen es noch schlechter geht als uns. Fast allabendlich, wenn von Eydtkuhnen und von Oderberg her die Züge kommen, werden ganze Kolonnen fremdartig aussehender Leute durch Berlin geführt. An der Spitze meist der Beamte irgend einer Schiffahrtsgesellschaft, der diesen Hunderten eine Notunterkunft auf blanker Diele anweist und sie tags darauf weiter auf den Schub nach Amerika bringt. Viel junges Volk darunter, aber auch zahnlose steinalte Greise. Einer sitzt da auf seinem Bündel in dem Saal in der Königgrätzerstraße und wackelt mit dem Kopf und murmelt immer dasselbe. Ich kann das nicht verstehen. Der Lloydbeamte lacht und sagt es mir: "Gott unserer Väter, warum hast Du uns herausgeführt aus dem Lande des Pharao, wo doch heute das ägyptische Pfund noch zwei Piaster besser steht als das englische, und wir müssen jetzt leben mit polnischer Mark!"
22. Februar 1923 (Donnerstag).


24

Jugend von heute - Geld ist Dreck - Sechstagerennen - Eine Prämie: Zwei Paar Stiefelsohlen - "Wacht am Rhein" - Monstrekonzert der Militärkapellen - Ebert zwischen Cunos - george anteil pianist futurist - Auslandsmusik

Nein, diese Jugend von heute! Notabene, wenn sie solche Stoßseufzer hört, so lächelt sie, die Jugend von heute; lächelt und sagt durchaus mit Recht, daß die gleiche Klage in jedem Zeitalter ertönt sei. Immer haben die Tanten weiblichen und männlichen Geschlechts sich entrüstet. Immer hat die Jugend dazu gelächelt. Als meine längst heimgegangene Mutter Kind war, wollte sie Schlittschuh laufen. Der exzentrische Wunsch kam vor den hohen Familienrat, und es hieß damals auch: "Nein, diese Jugend von heute!" Solch kleines Frauenzimmerchen habe sich im Schlittenstuhl schieben zu lassen. Laufen täten nur Buben. Für ein Mädchen sei das einfach uhnahnßtändig, einfach uhnahnßtändig, eine junge Dame aus gutem Hause schleudere eben nicht vor allem Volk ihre Beine. Über solche Weisheit lächeln heute selbst wir. Also die Jugend hat schon ganz Recht, wenn sie die Einwendungen gegen ihre Art olle Kamellen nennt. Alles schon dagewesen; und alles kommt wieder.

Und doch ist da ein Unterschied. Bis vor wenigen Jahren bekamen unsere jungen Leute, durchschittlich bis zur Volljährigkeit, alles vom Elternhause; und wenn sie selbst verdienten, gaben sie das Geld den Eltern ab. Man war also auf Taschengeld gestellt. Auf den "Badeschilling", wie es in ganz alten Zeiten in deutschen Städten hieß. Das ist in der Mehrzahl der Fälle ganz anders geworden, denn erwerbstätig sind heute ja sogar fast alle unsere jungen Mädchen, und die Eltern bekommen bestenfalls ein knappes Verpflegungsgeld, der Rest aber wird zumeist verjuchheit. Das führt dazu, daß die Jugend von heute weit über ihre und unsere Verhältnisse lebt, mehr als je dem äußeren Putz trotz allgemeiner Verelendung des Volkes fröhnt und als Selbst-, Groß- und Schwerverdiener sich eine sogenannte gottlose Schnauze angewöhnt hat. Man begegnet in der Friedrichstraße einem Jüngling, lilaseidene Strümpfe, Hose auf Halbmast, und denkt, er sei der unnütze Filius eines Schieberpapas; er ist aber bloß Falzer und Ableger in der Reichsdruckerei, und sein Vater Ritzenschieber bei der Trambahn. Man begegnet in der Tauentzienstraße einem Mädel, wasserstoffsuperoxydblond, Autopelzjacke, und denkt, das Mädel sei der kleine Luxus eines valutastarken Zahlers; es ist aber durchaus ehrsames Tippfräulein mit Überstunden aus einem Bankgeschäft und legt spätabends seinen müden Kopf der Mama Rechnungsrat in den Schoß. Geld ist Dreck, sagen alle diese Leutchen. Immer raus damit.

Sie sind es in der Hauptsache, die Nacht für Nacht jetzt den riesigen Sportpalast in der Potsdamerstraße füllen, weil das alljährliche Sechstagerennen der Radfahrer zu den Dingen gehört, die man gesehen haben "muß", wenn man in der Fabrik, in der Werkstatt, im Büro, in der Bank bei seinen Kollegen überhaupt etwas gelten will. Man trifft da junge Menschen, die vielleicht noch nie in ihrem Leben ganz saubere Fingenägel hatten, aber eine Perle im Selbstbinder tragen und ohne Wimperzucken 20 000 oder 30 000 Mark für den Sitzplatz bezahlen; oder, wenn sie bescheiden sind, 10 000 Mark für einen Stehplatz in der Promenade des ersten Ranges. Dafür dürfen sie dann acht Stunden in dieser ungeheuren Menschendunstkiepe verweilen und unaufhörlich ihre Augen mit der bunt glitzernden Radfahrerschlange rund um die Bahn rollen lassen. Alle acht Stunden wird das Haus geräumt, und neue 15 000 Menschen strömen herein. Leider kann die Luft nicht ebenso häufig ganz gewechselt werden. Es ist schon fast keine Luft mehr, Es ist eine Mischung von Schwefelwasserstoff mit Bierneigen und Zigarrettenstummeln. Nur mit Mühe bohrt sich das Licht der Bogenlampen und Scheinwerfer hindurch. Rund 3 Milliarden Papiermark vereinnahmen die Kassen des Sportpalastes in diesen sechs Tagen an Eintrittsgeld. Dafür allein hätte die Masse Mensch nur ein mäßiges Vergnügen, sähe nur in maschinenmäßiger Gleichförmigkeit die Fahrer dahingleiten. Aber man will doch Aufregung, Nervenkitzel, und wenn auch keine Stürze, so doch wenigstens erbitterte Wettkämpfe. Dazu dienen die vom Publikum ausgelobten Prämien. Soundsoviel dem, der in den nächsten 10 Runden der Schnellste ist! Dann flitzen die bezahlten Oberschenkel los wie verrückt, dann erhebt sich ein Brausen vieltausendstimmiger Erregung, dann erdröhnt das rhythmisch gellende "He, he, he, he!" der Galerien, diese aufpeitschende Warnung an einen Liebling da unten auf der Bahn, der in der Gefahr steht, von einem nachfolgenden Radler gerade in mächtigem Spurt überholt zu werden. In der letzten Nacht regnet es die meisten Prämien. Da ist die Spannung schon fast so fieberhaft, wie in den letzten Minuten des Sechstagerennens überhaupt, am Freitag Abend kurz vor 10 Uhr. In dieser letzten Nacht zum Freitag bin ich auch da, um dann um 4 Uhr morgens nach Hause zu torkeln, müder wohl als selbst die berühmten "Kanonen" da unten unter den Rennradlern. Bei meinem Kommen am Abend beschwören mich wilde Billethändler schon vor dem Eingang. Nichts mehr da, alles ausverkauft, ich solle mich garnicht erst an die Kasse bemühen, - aber einen Platz für den Innenraum hätte er, der Händler, noch, bitte, nur 25 000 Mark, koste ihm selber 22 000. Nein, danke, zu teuer.

"Mensch, wenn Se keene Linsen ham, so bleim Se doch zu Hause!", lautet die nun grobe Antwort.

Nun bin ich erst in der richtigen Berliner Stimmung und gehe vergnügt auf meine Stehplatz-Promenade im ersten Rang, wo ich mich durch die Menschenmauer allmählich etwas vorschiebe und dann 4 Stunden lang - alles für Euch, verdammte, geliebte Leser - mir die Augen ausrollen und die Beine erstarren lassen kann. Alle Tage werden ein paar wilde Händler verhaftet. Sie verkaufen nämlich vielfach Eintrittskarten, die keinen Kontrollabschnitt mehr haben, die von hinausgehenden Besuchern weggeworfen sind. Der Käufer ist geprellt, denn er wird nicht hereingelassen. Es ist ein blühendes Geschäft, ein Millionengeschäft auf dem Vorplatz zum Sportpalast. In dieser letzten Nacht hat Huschke, der immer mehr zum Favoriten des Publikums wird, auf der Rennbahn übrigens mit gewonnenen Prämien auch ein Millionengeschäft gemacht. Man rechnet zusammen, was er sich an Geld- und Sachwerten (unter diesen ein Motorrad) erstrampelt hat: 3½ Millionen. Bei den Sachwerten handelt es sich manchmal um ein Paar Flaschen Cognac oder einen Posten Seife oder sonst etwas, was ein Besucher "an der Hand hat" und was die Rennfahrer dann so "mitnehmen", aber in der Hauptsache ist es doch Geld, deutsches Papiergeld oder Dollars, Pfunde, Gulden, Fränkli. Man kann sich ja heute alles kaufen. Noch 1919 erlebte ich es, daß das Begehrteste die nahrhaften Prämien waren, 2 Sack Mehl, ein halber Hammel, 50 Pfund Honig, aber heute wird mit Paketen von Tausendern geschmissen. In dem Weinrestaurant hinter dem ersten Rang, wo ohne Rücksicht auf die Polizeistunde gebechert wird, wenn man sich etwas erholen will, bestürmt manche Huldin ihren Galan, sich doch nicht lumpen lassen zu wollen und ein paar "Grasgrüne" als Prämie flattern zu lassen, ein paar 50-Tausend-Markscheine. Aber natürlich ein paar, mehrere. Einer der mikrocephalen Jünglinge opfert gerade, während ich mich vorbeischiebe, einen, einen einzigen 50-Tausend-Markschein. Verächtlich sagt ihm seine Donna:

"Für lumpige zwei Paar Stiefelsohlen wird sich keiner in den Finger schneiden!"

Mein Gott, sie hat ja so Recht. Wir sorgenden Familienväter aus dem sogenannten gebildeten Mittelstande haben immer noch die ungeheure Ehrfurcht vor den vielen Nullen. Aber was sind denn 50 000 Mark? Wahrhaftig nur zwei Paar Stiefelsohlen. Zum Glück wissen die Rennfahrer fast nie, um was es geht. Sie sehen nur, daß einer der Bahnordner eine Papptafel mit einer großen 5 oder 8 oder 10 hochhebt. Sie sollen also um irgend eine Prämie 5 oder 8 oder 10 Runden wettrasen. Das maschinenartig Gleichmäßige hört auf. Fester, schneller wird in die Pedale getreten. Auch die letzten bunten Glieder der schimmernd gleitenden Schlange schließen dichtauf. Tief vornüber liegen die Oberkörper. Das Surren über die hohle Holzdiele wird zum Dröhnen. Nun die letzten drei Runden, die Entscheidung: um die wohl 200 Meter lange ovale Bahn sausen die Fahrer so schnell, wie der Faden von dem Garn abläuft, das der beglückte junge Mann der guten alten Zeit seinem Mädchen zum Knäuelwickeln zu halten pflegte. Noch schneller, noch schneller! Gebannt stieren 15 000 Zuschauer auf die Bahn. Nahezu wagerecht fliegen in den überhöhten Kurven die Radler herum. Ein Glocke dröhnt: es ist geschafft! Man fällt langsam ab. Die Ersatzleute - je ein Paar bestreitet ja das ganze Sechstagerennen - werden aus ihren Kojen, wo sie vielleicht gerade 10 Minuten totenähnlich geschlafen haben, herausgerissen, auf das Rad gehoben und zur Ablösung vorgestoßen. Bis auch sie, wenn irgend ein Menschenvieh aus dem Publikum sich ein Prämienrasen erkauft, ausgepumpt werden und ihrerseits - ein keuchendes, zitterndes Muskelbündel - wieder abgelöst, massiert, bespritzt, getrocknet und in die Koje verstaut werden.

Wir haben uns in Jahrtausenden nicht geändert. Wir sind noch genau dasselbe grausame auf Augenlust erpichte Pack wie in den Zeiten der Gladiatoren. Die ganze Veranstaltung aber wäre unmöglich, wenn eben nicht die "Jugend von heute" so leichtfertig ihre Zehntausender wegwürfe und, namentlich auf den Galerien, nicht auch noch so viele ältere Männer aus dem Arbeiterstande zu denselben Narren geworden wären. Diesmal hat man ja eine etwas andere Note hineinzubringen versucht, die Musik spielt Rheinlieder, alte Honoratioren der Radfahrerei und Boxerei sammeln für die Ruhrspende, kurz, der Vater Staat, der sechs Tage und Nächte hindurch geflissentlich die Polizeistunde übersieht, kriegt ein bißchen Patriotismus vorgesetzt, wie ansonsten manche Tanzerei ein bißchen Wohltätigkeit. Aber als die Musik einmal die "Wacht am Rhein" anstimmt, da wird auf den Galerien - gellend gepfiffen . . .

An einer anderen Stelle haben wir am letzten Sonntag die Wacht am Rhein in tiefer Ergriffenheit gesungen. Im Zirkus Busch. Bei der großen Veranstaltung der vereinigten Musikkorps der Reichswehr zu Gunsten der Ruhrspende. Man mag nur nicht mehr den alten Text singen, der heute eine Lüge ist, denn keine Wacht steht mehr fest und treu am Rhein, alles ist damals im roten November zerbrochen. Also man singt die neue Hindenburg-Fassung, die der Feldmarschall in einer nationalen Versammlung jüngst ausgegeben hat:

Lieb' Vaterland, sollst ruhlos sein,
Bis wieder steht die Wacht am Rhein!,

was nicht nur eine Feststellung, sondern, mehr noch, ein Gelöbnis ist, und man geht von diesem Festtag heim wie ein Träumender, den Kopf heiß und das Herz übervoll. Ich habe nichts für Berlin übrig, es sei denn jenes unsichtbare Berlin, das schärfer arbeitet als irgend eine deutsche Stadt, aber das muß ich doch sagen: so etwas wie diese erhebende Massenwirkung des militärischen Monstrekonzerts, des großen Zapfenstreichs, der Männerchöre wäre anderswo kaum möglich. Der Höhepunkt für manchen mag es gewesen sein, als im Tritt und Schritt, im Schritt und Tritt - unwillkürlich zitiert man Liliencron - die Spielleute, daß die Beine vorneweg nur so flogen, dröhnend hereinmarschiert kamen, die Querpfeifen schrillten, die Trommeln brummten, das große "Locken" der Musik begann und, diszipliniert und machtvoll, die verkörperte gebändigte Kraft, die Masse der Hornbläser einsetzte. Ein ungeheures kriegerisches Getöse. Eine Fata Morgana des Vergangenen, Zerstörten, Weggeworfenen und, ach, so Großen. Da schämte sich der und jener unter den Tausenden der Gäste auch wohl der Tränen nicht. Und doch steilt auch der Zorn sich empor, wenn man sieht, daß die offiziellen Vertreter der regierenden Sozialdemokratie, für die das alles doch ein Abscheu sein müßte, leutselig hier mitmachen. Oder sollten sie schon im großen Umlernen sein? Wie zwischen zwei Riesengardisten, nämlich zwischen dem blonden baumlangen Cuno und dessen baumlanger Frau, sitzt drüben in der Fremdenloge, von der eine Purpurdecke herabhängt, ein kleines, rundes, schwarzes Etwas und beteiligt sich lebhaft an den Ovationen: der Reichspräsident Ebert. Er, der im Herbst 1918, noch bevor die Entente es forderte, unsere Abrüstung vollzogen hat, klatscht Bravo zu dem Männerchor: "Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte!" Er, für den die Religion allenfalls offiziell Privatsache ist, als Volkssache, als Staatssache aber perhorresziert wird, klatscht Bravo zu dem Männerchor: "Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten." Geschehen wirklich Zeichen und Wunder oder wird nur eine lästige Monarchenpflicht erfüllt? Einerlei, uns anderen ist das Herz wieder einmal erhoben, die Erinnerung wieder einmal wachgerufen worden. Noch nie klang uns, von groben Soldatenfäusten gespielt, die Lenoren-Ouvertüre doch so schmelzend. Noch nie hat uns der friderizianische Hohenfriedberger, der Siegesmarsch der Ansbach-Bayreuther Dragoner, des späteren Kürassierregiments Königin, zu solchem Jubel emporgerissen. Vorbei. Vorbei.

In Konzerte geht man sonst nur selten, um sich aufrütteln zu lassen, sondern meist, um sich von der Tretmühle zu erholen. Für mich ist es schon eine Erholung, dort das manchmal absonderliche Publikum zu sehen. Weltabgewandte Köpfe von ganz eigenartigem Bau, verblüffende Haartollen bei Männlein und Weiblein, Trachten von mitunter exotischem Farbenreiz oder Schnitt. All dieses gänzlich Ausgefallene heute mehr denn je und in Berlin mehr als anderswo. Der Grund liegt nahe. Diejenigen deutschen Jünger der Frau Musica, die uns früher erfreuten, können heute einen Konzertsaal und das ganze Drum und Dran nicht mehr bezahlen, müssen also, wenn sie nicht schon eine berühmte Zugkraft sind, auf Konzertgeben verzichten. In einer einzigen Sonntagsausgabe der Voß las ich dieser Tage neben 26 Anzeigen ausländischer Künstler nur 21 Anzeigen von deutschen. Für die Ausländer ist nun Berlin die große Experimentierbühne: die wunderlichsten Propheten kommen her und finden ihr wunderliches Publikum.

"george antheil pianist futurist."

So lockt mich ein Plakat an den Anschlagsäulen, interpunktionslos und majuskellos. Antheil klingt ein wenig östlich so wie Goldmund oder Herzlieb, es soll polnisch-amerikanische Kreuzung sein, aber wie ich in die Singakademie komme, finde ich am Flügel einen korrekten blonden Gentleman, ein gutes Jungengesicht, sehr nach gesicherter Gegenwart und sehr wenig nach schweifendem Futurum aussehend. Das Publikum aus allen Erdteilen. Ein Sprachgewirr wie vor den Trümmern des Babelturms. Mitten darin, wie verloren, ein deutsches, bebrilltes Wandervogel-Paar, wobei der weibliche Teil daran zu erkennen ist, daß er pagenartig kurze Haare trägt, während dem männlichen die Mähne weit in den Nacken fällt. Außerdem trägt das Mädel eine Fellweste, das Fell nach außen, Typ Savoyardenbub. Schier sinnverwirrend sind aber die Frisuren und Kostüme der fremden Besucher, derer aus allen Längengraden zwischen Odessa und Los Angeles.

Was treibt sie her?

Sonst ist es für uns in der Kunst das "Es". Es - wirklich: es - klingt in einem Künstler auf, und dann gibt er es wieder, in Wort und Ton oder Farbe oder Form. Die modernen Experimentatoren aber haben dieses "es" kaum; oder sie unterdrücken es. Das Denken kommt bei ihnen vor dem Fühlen. Was er denkt, das will solch ein Musiker, auch dieser Georg Antheil, uns klar machen, nicht, was in ihm emporquillt. Er ist ein subtiler Denker, und das Handwerkmäßige versteht sich am Rande, er hat eine fabelhafte Technik, und durch intellektuelle Beherrschung aller Ausdrucksmittel bringt er uns seinen Denkvorgang wirklich näher. Im Anfang war der Rhythmus, denkt er etwa. Dann wurde der Lärm geboren. Rhythmischer Lärm aber ist Musik. Hoch oben im Diskant seines Steinway hämmert er, wimmert er, daß wir deutlich ein Schlagzeug vor uns sehen, und im Baß und in der Mittellage gibt es gleichzeitig, gräßlich dissonierend, aber jedes rhythmisch für sich, Kinderliedchen: wieder sieht man deutlich vor sich zwei Gruppen von kleinen Buben und Mädeln quiekend im Reigen. "Kinderblätter" heißt diese Komposition. "Abstrakte Sonate Aeroplane" eine andere. "Der Tod der Maschine" eine dritte. Der verhältnismäßig noch junge Antheil streut verschwenderisch seine Schöpfungen aus, die samt und sonders seine Denkarbeit sind.

Ich pfeife auf die Bildung. Ich bewundere sie, aber lieber ist mir in der Kunst das Gefühl. Berlin wird immer gebildeter. Wir sind zur Versuchsschule für die ganze Welt auserkoren, die auf uns herumtrommelt.
1. März 1923 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts