"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 16 - 18
4. bis 18. Januar 1923


16

Tartarin in Zivil - Seine Tips - Vom Bleigießen - Ein Besuch  bei dem berühmtesten Wahrsager - Was wird aus Deutschland? - Silvester-Radau - Eindeutige Nachtvorstellungen

Aus dem Straßenbilde sind unsere Frohnvögte nicht etwa verschwunden, aber darin doch nicht mehr ganz so aufdringlich sichtbar. Sogar die Franzosen flanieren großenteils in Zivil. Nur einige Intendanturoffiziere und einige sehr unmilitärisch aussehende Herren, die in ihrem eigentlichen Beruf wohl Chemiker oder Industrielle oder Exportvertreter sind, führen neben dem Horizontblau der Felduniform auch noch irgend ein farbenbuntes Bekleidungsstück der Friedensgarnitur, zum mindesten das Käppi, zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz spazieren. Auch der Pfau schlägt ja ein Rad, wenn er Weibchen anlocken will. In der wirklich guten Gesellschaft, etwa der der akademisch gebildeten Herabkömmlinge unserer Tage, hat man aber inzwischen die große Kunst gelernt, die im Kriege vornehme belgische Damen beim Passieren deutscher Offiziere so wundervoll zu üben wußten: gänzlich uninteressiert durch einen Menschen hindurchzusehen, als wäre er Luft. Die Franzosen in ihrer aufgeplusterten Eitelkeit werden dadurch, daß kein anständiger Mensch von ihnen auch nur Notiz nimmt, am empfindlichsten getroffen. Selbst ein verächtliches Lächeln würden sie eher ertragen, obwohl sie auch da manchmal aufbegehren; hat doch die französische Regierung einmal sogar amtlich bei der italienischen dagegen protestiert, daß die in aller Welt herumziehenden italienischen Leierkastenmänner ihre Äffchen stets in französische Offiziersuniformen steckten, rote Höschen, blauen Waffenrock, rote Fransenepauletts, goldbordiertes Käppi.

Unsere Quäler in den Entente-Kommissionen - wenigstens diese französischen Offiziere und Sozusagen-Offiziere - entschädigen sich für die öffentliche Nichtachtung durch privates Geldmachen. An sich sind sie ja filzig und geben nicht einmal die deutsche Verpflegungszulage ganz für ihr Wohlleben aus, zumal da sie deutschen Schaumwein zoll- und fracht- und spesenfrei zu ganz unglaublich geringen Preisen aus dem besetzten Gebiet bekommen. Aber - sie spekulieren. Ein deutscher Verbindungsoffizier, der mir schon manchmal seine Not über diese seine jetztige Stellung geklagt hat, hatte heute Mittag dienstlich bei einem der Herren zu tun und fand ihn vor seinem Schreibtisch beim Ordnen großer Banknotenhaufen. Und grinsend erklärte Monsieur le Capitaine:

"Les affaires sont les affaires, Geschäft ist Geschäft, vor vier Tagen habe ich Dollars gekauft, soeben wieder losgeschlagen, hier diese 450 000 Mark sind der Erlös!"

Und dieser Erlös wird nun gleich wieder in Effekten angelegt. Dann kommen wieder die Devisen an die Reihe. Für einen richtigen Franzosen gibt es stets drei erstrebte Dinge: Das Weib, den Ruhm, die Rente. Daß er in seiner Berliner Ausgabe jetzt meist in unscheinbarem Zivil herumläuft, bedeutet aber doch nicht ganz, daß er nun nur noch dem dritten Ideale nachjagt. Auf der nächtlichen Pürsch ist er nach wie vor überall zu finden, wo die Großstadt schlammt, nur zahlt er höchst ungern bar, sondern entschädigt statt dessen das weibliche Friedrichstraßengesindel durch - Tips. Er weiß immer viel früher als andere, wie die Entente sich darüber verständigen wird, wo man aus unserer Haut neue Riemen schneiden soll; darnach prophezeit er Steigen oder Fallen der Kurse und diese Tips werden wie gute Wechsel weitergegeben. Die Friedrichstraßen-Diva kriegt dafür von ihrer Konfektioneuse vielleicht ein neues Kleid. Die Konfektioneuse von ihrem Börsen-Galan vielleicht drei Aktien Stöhr-Kammgarn. Eine schmutzige Hand wäscht immer die andere.

Jedenfalls steht soviel fest, daß ein guter Tip heute goldwert ist. Schon beim Bleigießen in der Silvesternacht hat man sich nicht mehr so wie sonst dafür interessiert, welches Schicksal dem einen oder andern aus der Gesellschaft winkt. Das flüssige Blei zischt ins Wasser und klirrt, sofort erstarrt, auf den Boden des Beckens. Nun wird es herausgeholt und seine Form gedeutet. Der im ersten Stock eingeladene Leutnant hat, natürlich, ganz klar, den Lorbeerkranz des künftigen Feldherrn. "Mensch, Du wirst sicher noch mal Oberstleutnant a.D.!" sagt ihm sein jungverheirateter Vetter, der Bankbeamte. Der hat, wahrhaftig, es ist richtig auffällig, eine Kinderwiege gegossen. "Ein bißchen breit, sicher für Zwillinge!" So scherzt man sich hindurch bis in das Dachgeschoß, und selbst unten im Portierkeller steht der Tiegel mit Blei auf der Gasflamme. Der alte Hausbesorger stülpt den Löffel erst im Wasser selber um, es gibt einen dicken Klumpen. "Det is Vatern seine Neese, da hängt ooch 'n Droppen dran!", kohlt der Jüngste. Aber alles das ist diesmal mehr oder weniger gemachte Fröhlichkeit, genauso wie die Konfettischlacht und das Anstecken "humoristischer" Pappkärtchen in den öffentlichen Lokalen. Man ist nicht mehr recht mit dem Herzen dabei wie in der guten alten Zeit, wo es noch Haustöchter gab, die wie die Blumen im stillen Garten emporwuchsen und auf ihre Verpflanzung in das eigene künftige Heim warteten. Da war immer eine, die da nähte, und eine anderee, die Beethoven spielte. Heute tippen beide; und die elterliche Wohnung ist meist nur Schlafstelle. "Was soll der ganze Unsinn mit dem Bleigießen?", heißt es da wohl. Gewiß: besser wäre ein Tip, wie ultimo der Dollar stehen wird; oder ob man sich am besten schon jetzt für den Sommer "mit Strümpfen eindeckt".

So aufgeklärt angeblich die Großstädter auch sind: mehr denn je laufen sie heute zu dem Wahrsagervolk. Selbst ausgekochte Börsianer trifft man nach Tips für 1923 begierig bei Kartenlegerinnen. Um Neujahr herum hatten alle Berliner Propheten, und ihre Zahl ist Legion, einen geradezu ungeheuren Zulauf. Die Spekulation auf die Dummheit ist doch noch rentabler als alles andere. Wie hoch hinauf die Dummheit reicht, das darf man eigentlich nur flüsternd weitersagen. Ich werde mich auch hüten, den Namen des Generals zu nennen, der während des Weltkrieges wiederholt eine berühmte Berliner Sibylle aufsuchte. Man kommt schwer an diese Berühmtheiten heran. Irgend eine speckige Alte, die im Kaffeesatz rührt und mir nachher sagt, ich würde eine Reise tun und solle mich vor einer großen Dunkelhaarigen hüten und ich bekäme drei Kinder und ich würde 82 Jahre alt, finde ich natürlich in jeder Straße. Diesen traurigen Ulk habe ich mir ein einziges Mal in lustiger Gesellschaft gegönnt. Aber noch nie war ich bisher bei einem großen Hellseher von Welt. Dazu - sind Empfehlungen nötig. Nun hatte die Frau des Generals die Adresse der Prophetin einer Gräfin gegeben und die einer Frau von Soundso und die einem Major und der mir und so kletterte ich die Reihe wieder zurück und meldete mich mit allen Empfehlungen und - wurde doch nicht angenommen. Aber dafür wenigstens an ein männliches Mitglied der Gilde weitergegeben. Das sei der beste aller lebenden Wahrsager. Also ich nichts wie hin, sagt der Berliner. Feiner alter Westen. Treppenhaus in dem üblichen Marmor. Eine geschlagene Stunde muß ich im Wartezimmer sitzen, obwohl ich als Erster zur Sprechstunde um 11 Uhr vormittags erscheine. Dann endlich geruht Hoheit mich zu empfangen. Es ist gar kein Brimborium dabei, wie ich es von gewissen "Séancen" her gewohnt bin; das große Herrenzimmer, in das ich geführt werde, ist von Tageslicht durchflutet, ein großer Perser von etwa zwanzig Quadratmetern liegt unter einem Arrangement von Klubsesseln, der elegante große Schreibtisch ist schlicht und doch kostbar ausstaffiert, auf der mächtigen Bibliothek in schwarz Eiche - das ist das einzige, was an "Übersinnliches" wohl erinnern soll - befinden sich ein echter Totenschädel, ein siebenarmiger Judenleuchter und ein kleiner vergoldeter Buddha, aber alles in freundlichem Sonnenschein, wie auch sonst wohl bric-à-brac in manchem modernen Wohnraum in dieser Zusammenstellung sich findet. Dazu ein paar Bilder. Zwei von ihnen enthalten "mediale" Zeichnungen, die ein Fräulein v. Berlepsch "im Traumzustand" mit bunten Kreiden gefingert hat. Und nun ist er auch da. Ein gepflegtes kleines Spanferkel. Künstler-Samtjacke. Also kommen wohl auch kleine Leute her, denen so etwas imponiert. Aber sonst alles äußerste moderne Korrektheit. Am kleinen Finger der rechten Hand am Doppelring zwei Solitäre, Brillanten von außerordentlicher Größe und reinstem Feuer, wie man sie nur selten sieht. Dieser Mann - nennen wir ihn Jasper Ingwersen - trägt ein Vermögen von mehrstelligen Millionen an der Hand. Wir setzen uns, nachdem er meine Visitenkarte mit den empfehlenden Namen gelesen hat, und er fragt mich, sanft wie ein Frauenarzt:

"Ihre drei Fragen, bitte?"

Ich hätte keine für mich, sage ich. Mein Schicksal sei mir höchst gleichgültig. Ob es am Laternenpfahl oder auf dem Daunenbett ende, interessiere mich garnicht. Ich fürchtete nichts. Ich genösse immer jeden Augenblick. Aber Deutschland! Deutschland!

"Bitte sehr, wie Sie wünschen." Der Prophet erhebt seine Hand - die fetten milchweißen kleinen Finger haben keine Knöchel, sondern nur Grübchen - und beschattet damit die Stirn, reibt sie zärtlich, dann höre ich ein leichtes seufzendes Schnaufen, wie von einem schlafenden Hündchen, und die Prophetei geht los.

"Ich habe nicht den Eindruck, daß 1923 uns schon Gutes bringt. Die Franzosen ..." und nun gibt es einen ausgewachsenen Leitartikel, gelegentlich nur durch asthmatisches Schnaufen unterbrochen; der Prophet liest offenbar während seiner Frühstückszeit von 10 bis 12 Uhr und auch sonst noch ausgiebig die Zeitungen. Weiter, weiter. "Trotzdem werden wir wieder ein führendes Volk, aber nicht militärisch, sondern technisch. Ich habe den Eindruck, daß 1924 der Aufstieg beginnt. Ich habe den Eindruck, daß wir im Osten unsere alten Grenzen wiederbekommen. Und noch mehr. Wenn erst Deutschland und Rußland und China ... Ich habe nicht den Eindruck, daß wir im Westen Verlorenes wiederbekommen, und es wäre auch nicht zu empfehlen. Es kommt auch kein gewaltsamer Umsturz. Als Reichspräsidenten sehe ich in Zukunft einen Aristokraten. Das Horoskop des Kronprinzen (die Frage nach ihm hatte ich eingeworfen) versagt ihm den Thron. Sein Sohn wird viel zu abgeschlossen erzogen (das ist kompletter Unsinn, verehrter Herr, denke ich still für mich; der Junge ist Potsdamer Gymnasiast wie alle anderen), ich sehe die Hohenzollern nicht in vorderster Linie. Wir haben 1923 im Frühling große Unruhen. Ich habe den Eindruck, daß die Mark sich nicht erholt, ich sehe den Dollar zwischen neun und zehntausend ..."

Halt. Danke sehr.

Herr Jasper Ingwersen - er heißt so ähnlich - tut, als ob er erstaunt erwache. Er ist wieder ganz Frauenarzt.

Tausend Mark, wenn ich bitten darf.

Bitte sehr!

Danke sehr.

Mit schmerzlich bewegter Miene - so etwas fällt mir besonders schwer und mir zuckt es ja schon in allen Fältchen - drücke ich ihm die Hand, scheinbar innerlich tief bewegt durch seine Offenbarungen, und plaudere beim Anziehen noch ein wenig mit ihm. Von Beruf war er eigentlich Ingenieur. Er hat sich dann 1917 im Lazarett in Metz entdeckt. Dann ist er zu dem berühmten Professor v. Schrenck-Notzing ins Lazarett nach München gekommen. Er hatte Zustände. Er war wie ein Fakir unempfindlich gegen Schmerz. Und - er "sah hell". Das ist totsicher, ein heller Junge ist er; und als ich durch das Wartezimmer, das sich inzwischen mit betrübt dreinschauenden trostbedürftigen Leuten gefüllt hat, hindurchschreite, kann ich es mir überschlagen: so rund eine halbe Million Mark erbringt das Geschäft in jedem Monat im Durchschnitt gewiß.

Und von dieser Gilde - Menschheit, halte den Atem an - gibt es viele Hunderte in Berlin, von ihren kleineren Handwerkern viele Tausende; und alle sind überlaufen. Kein Stand und Beruf fehlt im Wartezimmer. Da ist ein Dienstmädchen, das aus schwerwiegenden Gründen wissen möchte, wie es die Adresse des Mannes herausbekommen kann, dem es so sehr, ach, so sehr vertraut hat. Da will Herr Lehmann wissen, ob er die Destille an der Goldecke kaufen soll. Da fragt eine bekümmerte Mutter, was aus ihrem Jungen werden werde, der wieder einmal in ihre Haushaltskasse gegriffen hat. Da erkundigen sich ungezählte Frauen nach der jetzigen und künftigen Treue des Gatten und nach allen Gefahrenquellen. Da kommen mit leichter Scham im Herzen sogenannte Politiker und holen sich Rat und Mut für ein Ja oder Nein. Da erscheint der Hotelbesitzer und möchte einen unentdeckten Dieb hellsehen. Da will der Schauspieler wissen, wie die Rolle beschaffen sein wird, die ihn im kommenden Jahr zum Star macht. Da kommt das Mädel mit dem Hängezöpfchen und schluchzt ihr Sehnen nach dem Bonvivant dem Propheten vor. Wenn selbst ein General ... ach, auch Wallenstein wurde schwach und befragte seinen Seni; es ist wirklich so, daß die Menschen in allen Jahrhunderten die gleichen bleiben.

Ein bißchen toller mag es ja heute sein als sonst. Die Gegensätze sind größer. Noch nie waren die Wartezimmer der Wahrsager, aber auch noch nie die Kirchen in Berlin so voll, wie um diese Jahreswende. Und noch nie war der "Krach" so arg auf der Straße, noch nie das Sudelzeug im Theater so frech. Den Krach hat man noch von den Spartakistenkämpfen her schreckhaft im Ohr. Dann hat man das Ohr beim Bau der neuen Untergrundbahnstrecke immer wieder gespitzt, aber die Kanonenschläge erzeugte ein Stampfhammer und das Maschinengewehr wurde durch Preßluftnieter vorgetäuscht. In der Neujahrsnacht war dann die Hölle los. Was da an Feuerwerk verknallt worden ist, das könnte die Pariser Konferenz zu der Überzeugung von unserer vollkommenen Zahlungsfähigkeit bringen. Nicht einmal viel schönes Feuerwerk. Wenn es nur Radau machte. Und in den Theatern gar saß doch, nicht wahr, das wohlhabende deutsche Volk! Was sich da auf den Plätzen für 6000 Mark und mehr rekelte, das sind jetzt in neun von zehn Fällen Wiener, die aus Sochaczew in Polen oder aus Kischinew in Bessarabien stammen. Ihr Geschmack ist das "pschütte" Witzblatt, wie es früher von Ofenpest aus die Welt verseuchte. Auf der Bühne sind sie über Zweideutiges längst hinaus. Nur noch eindeutige wiehernde Gemeinheit reizt sie. Für diese und ein paar andere Ausländer haben verschiedene Berliner Theater Silvesterstücke herausgebracht, die ich garnicht nennen mag. Die gesamte zünftige Berliner Kritik, und die ist doch wahrhaftig nicht prüde und stammt doch zum Teil auch aus Polen und Bessarabien, lehnt sie voll Ekel ab. Aber das Übel ist schon eingenistet. Wir haben die "Nachtvorstellung" als ständige Einrichtung bekommen. An verschiedenen Stellen Berlins kann also die östlich-allzu-östliche Berliner Intelligenz, vom Filmbengel bis zum Börsengreis, ehe sie "in angenehmer Begleitung" für den Rest der Nacht verschwindet, von ½11 bis 12 Uhr sich das Programm der nächsten Stunden vorspielen lassen. Etwa im sogenannten Intimen Theater. Von den mäßigsten männlichen und den reizlosesten weiblichen Darstellern. Garnicht mehr intim, sondern offen und gemein. Ein Einakter: "Freundinnen". Ich muß mir versagen, mehr als den Titel wiederzugeben; auf der Bühne steht ein breites Brett, auch eine Rute gehört zu den notwendigen Requisiten. Im Zwischenakt wird getanzt. Orientalisch. Sagt der Zettel. In Wirklichkeit zeigt eine zaundürre sogenannte Tänzerin bei dem üblichen Spitzentanz ihre sämtlichen Rippen. Der Tanz heißt "Morphium" und ist von Mischa Spolianski, auch aus Polen oder Bessarabien. Wirkliches Morphium ist schmerzstillend, dieser Tanz aber tut einem weh. Ich kann so viel Rippen nicht vertragen. Ich muß immer an die bekannte Berliner Drohung denken: "Noch een Ton, denn hau' ick Dir so uff'n Kopp, dettste zwischen de Rippen durchkuckst, wie der Affe im Zoo aus'm Jitter!" Nach dem Tanz wieder ein Einakter: "Jeder die Hälfte". Diesmal stehen zwei Betten auf der Bühne, je eines in je einem Hotelzimmer. Eine Dirne und zwei Hotelgäste sind die, wenn man so sagen darf, Spieler. So erbricht sich Berlin zum Jahresanfang. Daraufhin kann man schon prophezeien, man habe den Eindruck, daß es 1923 noch keinen Aufstieg für uns gäbe. Erst müssen wir uns des fremden Taumelgiftes, dieses "Wiener" Methylalkohols der Bühnen, entledigen. Die heilige Scham muß wiederkehren. Ihr folgt die Ehrfurcht vor der Größe. Und dann wird ein Volk, auch ein so zerbrochenes, von fremdem Geifer überflutetes, wie das unsrige, wieder stark.
4. Januar 1923 (Donnerstag).


17

Der Index - "Hätt'ste doch!" - Gemüse-Sozialisierung - Professor Westphal als Denunziant - Wie sich die Novemberleute amüsieren - Pelzstiefel überall - In was man tritt - Zur Kulturgeschichte des Taschentuches

Tante Malchen hat in ihrer Jugend die höhere Töchterschule besucht und ist ein Jahr lang in einer Pension in Lausanne gewesen. Sie liest noch heute "Au coin de feu" zum zwanzigsten Male, und im Französischen kann man ihr nichts vormachen. Wenn nur die nachrevolutionären Fremdwörter nicht wären! Daß die Valuta, von der im vorigen Jahr so viel gesprochen wurde, kein spanisches leichtes Frauenzimmer sei, das glaubt sie jetzt endlich auch. Aber nun spielt wieder der Index eine große Rolle, und da hat Tante Malchen den in klassischen Sprachen bewanderten Quartaner der Nachbarsfamilie nach der Bedeutung des Wortes gefragt. Der Junge wurde rot und sagte:

"Index ist ein Körperteil."

Und nun zerbricht Tante Malchen sich den Kopf, warum ihre neue Stütze unter Berufung auf den Index eine Lohnerhöhung verlangt. Wenn die gute Tante Zeitungen läse, würde sie natürlich wissen, daß der Index ständig anschwillt, vom November zum Dezember beispielsweise um 53,6 Prozent, und daß er weiter nichts ist, als - der Gradmesser der Daseinskosten. Unsere Durchschnittsausgaben für Nahrung, Wohnung, Kleidung werden so aufgezeichnet. Aber schließlich - bei allem überheblichen Lächeln - sind wir selber noch garnicht viel klüger als Tante Malchen. Index hin, Index her: Tatsache ist, daß die Kosten sich sehr verschieben, je nach dem, wo man einkauft. Für das Wenden und Neufüttern eines alten Wintermantels berechnet im Zentrum Berlins der eine Schneider 10 000, der andere 32 000 Mark. Für das Pfund Markenzucker zahlen wir heute bei Gutschow in der Friedrichstraße 185 Mark, wenige Häuser weiter bei Groh in der Friedrichstraße 260 Mark. Diese Unterschiede dauern meist nur nicht lange. Der billigere Mann schließt sich, wenn er von den anderen Preisen hört, stets dem teueren an, nie umgekehrt. Wer darauf angewiesen ist, und das sind wir ja fast alle, seinen persönlichen Index zu drücken, der muß rechtzeitig billig kaufen. Versäumnis bringt Ärger. Denn kluge Leute sagen einem dann immer vorwurfsvoll: "Hätt'ste doch damals Dir mehr davon hingelegt!" Natürlich. Dieselbe Zigarre, die Oktober für 2,10 Mark zu haben war, wenn man sie tausenderweise kaufte, kostet heute 162 Mark. Aber, Verehrtester, damals hatten wir doch nicht so viel Papiergeld wie heute! In unserer Familie ist das Wort "Hätt'ste doch" laut stillschweigender Verabredung auf den Index gekommen. Niemand darf das Wort aussprechen, und seither sind wir viel glücklicher. In dieser Verbindung ist Index nun freilich weder Gradmesser noch Körperteil, sondern - Verbotsliste. Es ist schon ein Kreuz mit diesen Fremdwörtern. Man weiß nie, was sie bedeuten.

Aber unsere Berliner Sozialisten, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, machen sich anheischig, dem geschwollenen Index durch Sozialisierung beizukommen. Alles muß verreichlicht, verstattlicht, verstadtlicht werden, dann wird alles billiger. So schaffte Berlin-Neukölln sich eine Dampferflotte für die Nordsee an, um der zielbewußten Rixdorfer Einwohnerschaft preiswerte Seefische zu besorgen. Die Folge davon war aber nur das anscheinend vollständige Aussterben der Seefische. Man war nicht imstande, den Privathandel zu ersetzen. Schließlich kam Berlin-Neukölln noch mit einem blauen Auge davon, indem es schleunigst mit Verlust seine Fischdampfer verkaufte. Nun hat man aus diesem Betriebe eine Menge "bewährter" Beamter übrig, denen doch, da sie Genossen sind, ein hohes Gehalt gebührt, und da hat man eine neue Sozialisierung begonnen, - die des Zuckers. Diesmal ist nicht der Geestemünder Hafen, sondern die Tangerhütter Zuckerraffinerie der Kriegsschauplatz. Die ersten Wunden hat man auch schon davongetragen: der Neuköllner Zucker will partout nicht billiger werden, o nein, im konträren Gegenteil. In Alt-Berlin ist man auch nicht faul. Eine Reihe tatendurstiger kommunaler Vertrauensleute der Partei sollte den Gemüsehandel kommunalisieren, sozialisieren, organisieren, und wurde - wie einst die Kundschafter in das gelobte Land - zuerst nach Holstein, in die gesegneten Vierlande bei Hamburg, und dann in den Spreewald, das märkische Gurkenparadies, entsandt. Sie kamen aber ohne irgendwelche Beute, ohne irgendwelche Verträge zurück, nur mit einr ganz gewaltigen Spesenrechnung; unter deren Einkalkulierung werden also die kommunalen Kohlköpfe, falls wirklich einmal welche kommen sollten, ein artiges Sümmchen kosten.

Das macht nichts.Dann steigt der Index der Lebenshaltung, und damit steigen auch die Gehälter derer, die uns alle als Beamte die Kohlköpfe besorgen. War schon die Revolution, wie ihre eigenen Führer zugeben, weiter nichts als eine Lohnbewegung, so ist in diesen nachrevolutionären Jahren erst recht der Grundsatz durchgedrungen: wer hat, der hat. Gemeinde und Volk, Stadt und Reich sind Chimäre; wenn nur der Einzelne und die Klasse ihre Fettlebe haben. Sogar der neue Raubzug der Franzosen in das Ruhrgebiet löst in einem Berliner roten Organ den Stoßseufzer aus, daß die Genossen über dem peinlichen Ereignis "nur ja nicht den Kampf gegen den deutschen Kapitalismus vergessen" sollten. Wenn sie diesem Rate folgen, wird sie sehr bald der französische Kapitalismus am Kragen packen, - genau so wie ihre Zertrümmerung des deutschen Militarismus uns den französischen gebracht hat. Aber die Novemberleute, bis weit in demokratische Kreise hinein, sind ja unbelehrbar. Es gibt immer noch Pazifisten-Versammlungen in Berlin, die nicht unter zornigem Gelächter des Volkes erstickt werden. Es gibt auch noch immer Republikaner unter uns, für die der Feind ausschließlich "rechts" steht, nicht an der Ruhr und an der Weichsel. Im Vorstand der Ortsgruppe Berlin-Zehlendorf der Demokratischen Partei sitzt der Professor Westphal, im preußischen Unterrichtsministerium Leiter der Abteilung "Institute", der aus der Art geschlagene Sohn eines Hamburger Senators von altem Schrot und Korn. Westphal war im Kriege als Offizier des Beurlaubtenstandes dem Stabe des Professors Haber zugeteilt, des bekannten wissenschaftlichen Organisators unserer Gasangriffe, und im ganzen Abschnitt Ypern gab es keinen Deutschen, der siegessicherer und nationalistischer und annexionistischer gewesen wäre als dieser Professor Wilhelm Westphal. Offenbar ist nun auch für ihn der 9. November zum Tag von Damaskus geworden. Er ist Pazifist und übereifriger Republikaner geworden und, umgekehrt wie der Apostel Paulus, erst jetzt ein rastloser Saulus mit aktivem Verfolgungswahn gegen alles, was rechts von ihm steht. Die Berliner gute Gesellschaft ist in heller Empörung über seine außerordentliche Betätigung. Ein ehemaliger Hauptmann, im Kriege tapferer Führer eines Kampfgeschwaders, hatte mit Not und Mühe sich eine bescheidene Existenz im kaufmännischen Beruf errungen, hatte geheiratet und, als Freund des Hauses der Hamburger Senatorenfamilie, auch dem Professor Westphal die gedruckte Anzeige von der Geburt seines ersten Kindes übersandt. Das war Anfang August im vorigen Sommer. Vier Tage später läuft bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige auf einem amtlichen Bogen des preußischen Unterrichtsministeriums, unterschrieben Professor Westphal, ein, in der erzählt wird, dieser Hauptmann a.D. sei der Beihilfe an der Ermordung Rathenaus, der Mitgliedschaft an der Organisation C und anderer mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen dringend verdächtig. Er, der Professor, fühle sich durch sein republikanisches Gewissen zu dieser Anzeige gedrängt; aber seinen Namen wolle man, bitte, nicht nennen. Nun erweist sich das alles als aus den Fingern gesogen. Der alte Kampfflieger, der tausendmal dem Tode ins Gesicht geschaut, ist kein Meuchelmörder. Er hat die Jahre seither auch nur um den Wiederaufbau seiner durch den Schmachfrieden zerstörten Existenz gerungen und sich in keiner Weise politisch betätigt. Was geschieht nun mit dem leichtfertigen Denunzianten? Der Rechtsanwalt erklärt dem in seiner Ehre verletzten und geschäftlich geschädigten Hauptmann, gegen diesen "Freund des Hauses", den Professor Westphal, sei nichts zu machen, denn als Demokrat und Pazifist gehöre er zur regierenden Sippe und als Ministerialreferent habe er in der Ära des Gesetzes zum Schutze der Republik "natürlich" im besten Glauben gehandelt. Man ist also schutzlos jedem - Denunzianten ausgeliefert; es fehlt nur noch, daß Professor Westphal aus dem 500-Millionen-Fonds, aus dem Denunzianten bezahlt werden, eine Prämie erhält. Wir sind ja in den Zeiten des jetzigen Kulturministers Dr. Boelitz, seit er die Lichterfelder Kadetten dutzendweise relegierte, an allerhand gewöhnt worden. Vielleicht überlegt er es sich aber in diesem Fall, ob man nicht auch einmal nach links hin mit Disziplinierungen vorgehen sollte. Sonst hat er binnen kurzem die übelste Gesellschaft von November-Strebern bei einander. Es ist so schon nicht mehr schön unter unseren Ministerialen, weil die Zahl der Futterkrippen-Politiker nicht abnimmt. Wer die Krippe hinstellt, ist ihnen vielleicht ganz gleichgültig; ob es der eigene Staat ist oder einer unserer großen Schieber oder gar ein Vertreter "ehedem feindlicher" Nationen. Wer hat, der hat. Man muß das Leben nehmen, wie das Leben eben ist.

Als bei der Festvorstellung im Theater einer mitteldeutschen Stadt, die ihr Jubiläum feierte, ein roter preußischer Minister sich als so - blau erwies, daß er von etlichen starken Männern abtransportiert werden mußte, war man über dieses Farbenspiel baß erstaunt. In Berlin kommt ähnliches alle Tage vor, nur wird es von der Großstadt lächelnd verschluckt. An der Untergrundbahnstation Knie in Charlottenburg stehen einige in die Regierung verschlagene Novemberleute untergefaßt und gröhlen zur Erheiterung des weiblichen Nachtgelichters: "An dem Knie sah ich sie, die Marie, und seit ich sie am Knie geseh'n, da war's um mich gescheh'n!" In diesem Babel ist nichts davon zu spüren, daß es im Westen und im Osten des Reiches brennt, hier spielt man in den Theatern noch unentwegt jeden französischen Schmarren, und bei nächtlichen Orgien schmunzeln Novemberleute und Schieber und fremde "Überwacher" einander einmütig zu. Nach uns die Sintflut! In den nächsten Tagen soll ein riesenhaftes Fest stattfinden, dessen Einzelheiten von dem Vorstand des veranstaltenden Vereins gerade durchgesprochen werden. Vor allem, so wird beschlossen, müsse die Musik dahin instruiert werden, daß sie ja kein "nationalistisches" Lied spiele. Im vorigen Jahr sei ein Tusch geblasen worden und im Anschluß daran sei "Deutschland, Deutschland über alles" ertönt. Darauf habe die Galerie gepfiffen. Das müsse man unter allen Umständen vermeiden, man habe doch ein internationales Publikum....

Solange noch solche Äußerungen möglich sind und solange der Leichtsinn in ganz Berlin triumphiert, sind wir zur Freiheit noch nicht reif. Unser Herz hängt ja noch zu sehr an allerlei Tand, wir sind in der Mehrheit auf die vaterländische Not noch garnicht eingestellt. Eine blöde Mode jagt die andere. Die Damen unserer östlichen Einquartierung, die ehemaligen Petersburgerinnen und Moskowiterinnen, fielen vor wenigen Wochen auf, wenn sie bei Schmutzwetter ihre heimatlichen Schneegaloschen anzogen, die oft mit Pelz besetzt sind und hoch über den Knöchel hinauf bis an den Wadenansatz reichen. Das ist für die russischen Hauptstädte bisweilen, für die russischen Provinzstädte fast immer sehr praktisch, für Berlin natürlich ein Unsinn. Aber er ist ansteckend. Auf einmal ist der Pelzstiefel große Mode geworden. Wie die Nilpferde stampfen unsere jungen Mädchen daher. Oder, bestenfalls, wie Störche, denen man Filzpantoffeln angezogen hat; denn aus so manchem Pelzstiefel ragt storchendürr ein florbestrumpftes mageres Bein. Man begegnet solchen Zerrbildern von Tag zu Tag häufiger.

Als einzige Entschuldigung für die geschmacklose Chaussure könnte nur der Umstand gelten, daß Berlin schon lange nicht mehr "die sauberste Stadt der Welt" sich nennen darf. Sie war es eigentlich nie. Manches holländische Städtchen, etwa Dordrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, war, mit Berlin verglichen, wie aus dem Ei gepellt. Aber unter den europäischen Großstädten hatte Berlin seinen Ruf früher wohl verdient. Paris konnte man demgegenüber ein Drecknest nennen; schon auf jedem französischen Bahnhof konnte einem übel werden. Aber jetzt ist Berlin leider der Ort, wo man, wenn abends die Beleuchtung mangelhaft wird, eigentlich eines Vorriechers bedürfte, um sauber die Bürgersteige passieren zu können. Man tritt eilig von der Straße in ein Haus ein. Man wird mit Naserümpfen empfangen. Ein Glück, wenn einem schon vorher der Portier auf die Schulter klopft und gesagt hat:

"Se sind woll in'n Stand der heiligen Ehe rinjetreten?"

Wahrhaftig, es ist scheußlich; man tritt immer irgendwo "rin". Ein Holländer sagte mir neulich, eigentlich könne es uns doch noch nicht so schlecht gehen, der Luxus selbst einfacher Leute nehme zu, fast jede Dame leiste sich heute beispielsweise einen Hund, und die Steuern seien doch hoch und die Knochen teuer. Das ist es eben. Unsere lieben Damen. Sie leiden am meisten unter dem Aufschwung der guten Sitten seit der Revolution. Die Einbrüche haben sich verachtzehnfacht. Für allein wohnende ältere Damen, auch Damen mit Mietern, aber ohne männlichen Schutz, ist der Hund heute unentbehrlich, weil er wenigstens Lärm schlägt. Wenn nun die Dämmerung kommt, geht Frauchen mit Hundchen aus. Nur auf dem Bürgersteig natürlich. Vor dem nachbarhause auf und ab. Und wenn Hundchen nach diesem kleinen Verdauungsspaziergang leise an der Leine zerrt, bleibt Frauchen gedankenvoll - auf dem Bürgersteig natürlich - stehen und sieht interessiert abseits in die Ferne. Die Novemberleute sagen immer, nicht die Revolution, sondern der Krieg sei an allem schuld. Den Berliner Hundedreck aber hat unzweifelhaft die Revolution in unserer Kriminalistik auf ihrem Schuldkonto.

Schlechter erzogen sind seither die Hunde nicht. Nur die Menschen. Kinderstube war einmal. Die gute Lebensart von früher ist noch nicht wieder da. Es liegt nicht am Dollar und am Baumwoll- oder Leinenpreise, daß wir im Gebrauche des Taschentuches lässiger werden. Gewiß, ich weiß: vor den Zeiten der Königin Elisabeth kannte man das Taschentuch überhaupt noch nicht. Selbst Kaiser und König schneuzten sich nach Weidmannsart. Auf dem Reichstag zu Worms, wo der Schnupfen grassierte, schlenkerten Kurfürsten und Erzbischöfe mit Daumen und Zeigefingern. So tat es noch der chinesische Kanzler Li hung tschang wenige Jahre vor dem Kriege auf seiner Rheinreise, bei dem Festbankett, das ihm die Stadt Königswinter gab. Das stört mich weiter nicht. Nur schnorcheln sollten die Leute nicht, sollten nicht - hmf, hmf - immer wieder in die Nase einziehen, was hinauswill; das macht mich nervös. Da sitzt mir ein Jüngling - Stehumlegkragen, Seidenschlips - im Wannseezuge gegenüber und schnorchelt fortgesetzt. Endlich halte ich es nicht mehr aus und frage:

"Haben Sie nicht ein Taschentuch?"

Er sieht mich aus verquollenen Augen einen Moment an und erwidert:

"Natürlich - hmf - habe ich ein Taschentuch; aber - hmf - ich verpump's nich!"
11. Januar 1923 (Donnerstag).


18

Trauertag - Gegen Tanzen und Schlemmen - Kaviar bei Herzfelds - Nationale Demonstration - Maman und la Tante Amélie in der Destille - Vom "Familienleben" unserer Fronvögte - Straus' "Törichte Jungfrau" - Was du hast, das haste!

"Morgen ist Trauertag! Die ganze Penne jauchzt!"

Mit diesem Jubelruf kollern, wie eine Koppel junger Hunde, unsere beiden Tertianer am vorigen Freitag mitten in die Stube. Sie wissen nur das eine: drei Schulstunden fallen aus. Daß man das - Trauertag nennt, ist komisch, aber die Großen sind ja manchmal so. Überhaupt, na!

"Wenn mich einer in die Fresse haut, dann veranstalte ich doch keine Trauerkundgebung!" sagen die Buben sehr richtig.

Wenn sie erst groß sind, wird man in der Tat vielleicht etwas anderes veranstalten. Aber heute müssen wir doch noch als Pazifisten, als Demokraten, als Weltrepublikaner unserem sittlichen Schmerz darüber Ausdruck geben, daß die Idee der Gerechtigkeit und der Völkerversöhnung im Ruhrgebiet so sehr außer Kurs gesetzt worden ist. Wir werden nicht zornig, bewahre. Wir trauern. Auf Befehl der sozialdemokratischen preußischen Regierung sollen wir alle die Flügel hängen lassen. Der Ausschank von Alkohol an Jugendliche wird (warum erst jetzt?) verboten. Öffentliche Bälle dürfen nicht mehr stattfinden. Und das Nacht- und Nackttanzen in Berlin beginnt fortan - schon um 11 Uhr abends statt um 1 Uhr, weil die Polizeistunde für anständige Lokale um zwei Stunden zurückverlegt ist. Die Behörden mit ihrem ganzen Trauersalat haben anscheinend wirklich keine Ahnung. Die Republik könnte vom Kaiserreich doch das wenigstens gelernt haben, daß es sogar gut ist, die ganze Nacht hindurch ein paar Gaststätten wie Café Bauer, Café Viktoria, Café des Westens usw. aufzuhalten, sozusagen als Filter für die Bummler, die dann von hier aus heimpilgern, während sie heute überall vor verschlossenen Türen stehen und sich daher von Schleppern in geheime Nepplokale bringen lassen.

Überhaupt: befohlene Trauer ist keine Trauer. Hie und da heult freilich ein junges Mädchen. Aber nicht wegen der in Bochum und Essen mißhandelten Völkerversöhnung, sondern weil das neue Kleid nun nicht auf den Ball darf. Man schafft keine Trauernden, sondern Mißvergnügte. Wer weiß, ob es in Bayern überhaupt zu einer Rätediktatur gekommen wäre, wenn es in München immer Vollbier gegeben hätte!

Am dümmsten hat sich, wie immer, der Reichstag angestellt. In einem Augenblick, in dem wir der ganzen Welt erklären, wir hätten nichts und zahlten nichts, verlangt er mit Emphase ein Gesetz, ein ganz drakonisches, gegen die Schlemmerei. Das ist verlogene Sentimentalität, Augenverblendung, Popularitätshascherei. Es ist noch garnicht so lange her, da gab Frau Herzfeld, unterstützt von ihrer Tochter Frau Guttmann, ein Diner, an dem auch unsere Exminister Wirth und Schiffer teilnahmen. Da konnte man Beluga-Kaviar mit Löffeln essen. Die Gäste erhoben aber keinen Protest gegen Schlemmerei.

Echten Volkszorn hat man an dem befohlenen Trauertag freilich trotz alledem im ganzen Reiche verspürt. In Berlin machte er sich auf dem riesigen Königsplatze Luft und brandete nachher noch stundenlang gegen Polizeiwälle. "Es ist aber gut gegangen, es ist nichts geschehen," konnte zuletzt der Obrigkeit gemeldet werden. Unter besonders scharfer Absperrung standen die Palais des französischen Botschafters und unseres Landesvaters Ebert, aber man hat wohl unnütz Befürchtungen gehegt: kein "Rechtsradikaler" hat sie etwa stürmen wollen. Wir alle sind ja überhaupt so friedliche Leute, wie man sie anderswo nicht einmal erfinden könnte. In Berlin steht man auf jeder Straßenbahn mit Franzosen zusammen, die sich laut in ihrer Muttersprache unterhalten, ohne von irgend jemand behelligt zu werden. Langsam, sehr langsam, allmählich, nur ganz allmählich erst, macht sich im Kleinbürgertum gelegentlich leichtes Knurren bemerkbar.

Vor wenigen Stunden hat mir ein älterer Herr ein derartige Erlebnis erzählt. Ich - ein geistiger Arbeiter - esse in einer Stehbierhalle, einer Destille, sagt er. Der Wirt, ein schwerer, grobknochiger Gesell, seine Frau, eine prachtvolle massige Person mit vom Herdfeuer roten Gesicht, die Tochter, derb und zupackend, sind das Personal. Das Essen ist volkstümlich. Es gibt da so auserlesene Sachen für arme Junggesellen: Kohlrüben zum Beispiel oder Backobst mit Klößen. Die Gäste? In dem "besseren" Hinterzimmer lauter "bessere" Herren. Alle verhungert - wie ich. Alle eilig - wie ich. Alle schäbig - wie ich. Grauköpfig natürlich auch. Da trippeln nun heute überraschend zwei kleine Mädchen herein, gut und neu gekleidet, in viel zu kurzen bauschigen Röckchen, dann schon vom halben Oberschenkel herab seidene Strümpfe, kecke kleine Persönchen von vielleicht 5 und 7 Jahren, sehen mit ihren lächerlich dünnen Beinen eigentlich wie Franzosenkinder aus. Wahrhaftig - sie plaudern laut französisch. Und dahinter erscheint Maman und la tante Amélie, die eine in Samt, die andere in Homespun. Es sind die neuesten Revolutionsgewinnler, die allerneuesten Nutznießer unserer Kapitulation vom November 1918, es sind die Angehörigen irgend eines französischen Unteroffiziers, der zu einer Überwachungskommission gehört. Alle vier flöten auf den Wirt los. "Nä," sagt der, "dat is nich; Braten kennse haam, aber falscher Hase is nich!" Sie flöten weiter, er knurrt. "Nä, nä!" Natürlich hat er noch falschen Hasen, die sogenannte gedrängte Wochenübersicht, das billigste Fleischgericht, das er - seinen Stammgästen vorbehalten will. Und da entfernt sich denn die kleine Prozession. "Nu jehn se drieben rin," sagt der Wirt, "da jibt et nur Wurscht, die mehr Knobloch als Roß is. Nä, nä. Wat solln wa mit det Jesindel? So seht Ihr aus, bei mir kriecht Ihr lange nischt!" Und knurrt und knurrt.

Das sind Anfänge, erst Anfänge, gewiß. Aber die Wut kommt, die Wut wächst, besonders, wenn die Tartarins immer mehr von der lieben Familie herholen und selbst entfernte Kusinen auf unsere Kosten hier fein ausstatten, aber sonst knickern und nur das allerbilligste Essen immer noch billiger haben möchten. Es gibt nichts Geizigeres als französische Spießer. Das wissen und erfahren nachgerade auch unsere Berliner Pflanzen, die sich den "schicken" Poilus an den Hals werfen, manchmal sogar unter Zustimmung der schlampigen, gedunsenen, kostbar behängten Frau des französischen Unteroffiziers oder Bureaudieners. Mag sich der Mann doch mit den Boches amüsieren. Wenn er nur kein Geld dafür ausgibt! Sobald das der Fall ist, werden die Weiber zu Hyänen. Mitten auf dem Potsdamer Platz, vor Josty, spielte sich vor einigen Tagen solch eine Szene ab, wo Monsieur und Madame sich vor allem Volk buchstäblich in die Haare gerieten, Monsieur natürlich Sieger blieb und Madame französisch anschrie:

"Wenn ich mir nicht mal eine Geliebte halten darf,dann pfeife ich auf das ganze Familienleben!"

Diese ganze Bande, die sich von unserer Not mästet, ist nach dem neuerlichen furchtbaren Marksturz frecher als je, protzt in allen Vergnügungsstätten und unterhält sich immer lauter und ungenierter auf heimische Art. In den Kaufhäusern brauchen sie nicht deutsch zu können; da gibt es angestellte Dolmetscher genug, die sie umschwänzeln müssen, darunter ehemalige Philologen und ehemalige Offiziere. Von den Theatern besucht diese Bande mit Vorliebe solche, in denen es - etwa bei "Lissi, der Kokotte" - so eindeutig zugeht, daß man das gesprochene Wort entbehren kann, oder wo die Musik zur internationalen Verständigung dient. Das also ist die große Konjunktur: Musik. Das Riesentheater Reinhardt-Holländers, das schon mit einer Offenbachiade gute Geschäfte gemacht hat, ist jetzt mit der Uraufführung der "Törichten Jungfrau" herausgekommen, die von Oskar Straus vertont ist. Er hat mit den Wiener Walzerkönigen Strauß oder gar mit Richard Strauß nichts zu schaffen, ist aber ein gefälliger Erfinder für fröhliche Leute, zuerst vor langen Jahren populär geworden durch die Liedchen für Wolzogens beidermeierisches Überbrettl, damals, als alle Welt beglückt trällerte:

"Kling, klang, gloribusch,
Ich tanz' mit meiner Frau!"

So ehrpusselig sind wir heute natürlich nicht mehr; in der "Törichten Jungfrau" tanzen ganze Scharen von lauter Dirnen aus den öffentlichen Häusern am Stadttor von Gaëta, einer Stadt "aus der Zeit der Renaissance", und als der feindliche Feldherr, der die Stadt belagert, als Preis seines Abzuges eine Jungfrau verlangt, ist man in großer Not, denn - es gibt nur noch eine einzige in ganz Gaëta, die so töricht ist, es zu sein. Um als solche nicht erkannt und an den Feind ausgeliefert zu werden, flüchtet sie in das Dirnenviertel am Stadttor, stößt hier - auf den feindlichen Feldherrn, der sich maskiert in die Stadt eingeschlichen hat, und verliebt sich in ihn. In dem Lager seines Heeres vor der Stadt, das wir im 2. Akt sehen, geht es auch hoch her; auch da lugt aus jedem Zelt ein Dirnchen, Kußgezwitscher ertönt überall, und die Gaëtaner können so das girrende feindliche Heer eines Nachts überwältigen. Der Feldherr wird gefangen, singt die schönsten Arien und rettet schließlich im 3. Akt sein dem Henker verfallenes Leben durch Heirat mit der Törichten, die ihm zuliebe schon Tänzerin geworden ist. Na also. Alles da. Nich? Wenn Clewing - o, diese Waden, diese Taille, dieser Busen, dieser zuckersüße Mund - singt, die Emmy Sturm singt und tanzt - sie übrigens ganz große Oper - , die Thellmann, das entzückende freche Ding, tanzt und mimt und tollt, der alte Komiker Waßmann albert und rund herum viel "Volk" sich unter Gesängen rhythmisch bewegt und viele Dirnen ihre schleierumhüllten Oberschenkel zeigen (o Music-Hall, o Olympia-Theater, o Matrosengeschmack), dann ist das Theater der Fünftausend enthusiasmiert, und durch seine Einnahmen sind auf eine Weile die ernsteren Unternehmungen Reinhardt-Holländers - Deutsches Theater und Kammerspiele - wieder gesichert. Das große Schauspielhaus ist nur noch Geldzubringer; es muß also Konjunkturen nützen und auch Maman und la tante Amélie erfreuen. Man sieht sich satt an dem bunten Kaleidoskop, man hat nahezu richtige Oper und - man lauert auf den "Schlager". Einen einzigen hat man sofort ertastet, so viel auch andere sich um das Entdecktwerden bemühen:

"Muß es denn, muß es denn
Gleich die große Liebe sein?
Kann man denn, kann man denn
Eine Nacht nicht selig sein?
Schad' um jeden süßen Blick,
Den ein Mann verpaßte,
Nimm Dir frech Dein bißchen Glück, -
Was Du hast, das haste!"

Zuerst summt das Publikum leise mit, aber noch hat es nicht, was es hat, also wird durch wütenden Beifall Wiederholung erzwungen. Atemlos und glücklich singt Erica Thellmann mit ihrem Partner. Das Publikum summt lauter. Noch einmal dieselbe Sache. Noch einmal. Nun sitzt es. Jetzt schunkeln und singen einmütig Parkett und Logen und (die am meisten) erster und zweiter Rang, nun kann man damit hinaus, und in den sich stauenden Menschenmassen am Ausgang und bald darauf im ganzen Millionen-Berlin erschallt es: Was Du hast, das haste!

Ich dachte, wir haben den Trauertag.
18. Januar 1923 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts