"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 10 - 12
23. November bis 7. Dezember 1922


10

Großer Auszug aus den Berliner Ämtern - Oskar Müller - Kindtaufe bei Cunos - Die tschechoslowakische Gesandtin - Käte Schirmachers "Geknechtete" - Phraseologie der Großstadtmädchen - Die allerneueste Kunst - Kaufen, verkaufen! - Frau Reichspräsident

Sie purzeln. Sie purzeln die Stiege hinunter wie die Heinzelmännchen beim Erbsenschreck. Es kollert überall. Nicht nur Minister sind ausgerutscht, sondern auch verschiedene der Leute, die in Hilfsstellung standen. Ganz Berlin schmunzelt. Es steht uns freilich kein völliger Systemwechsel bevor, sondern wir sehen nur einen Personalwechsel, aber man freut sich doch, der Ereignis gewordenen Unzulänglichen ledig zu werden. Unter den Heinzelmännchen, ohne die unsere republikanischen Exzellenzen der jüngst verflossenen Ära nichts hätten schaffen können, standen die der öffentlichen Meinung obenan. Die öffentlichen Meinung, von der alles abhängt, bildet sich nicht und wächst nicht, sondern wird "gemacht" wie nur irgendein Götze der Südsee. Ungezählte, im Etat unauffindbare Millionen sind dafür ausgegeben worden, seitdem Ulrich Rauscher als Pressechef der Reichsregierung die Reklame für die republikanischen Gesinnnungstüchtigen übernahm. Genosse Rauscher war aber doch noch ein Mann von literarischen Graden. Herr Oskar Müller, der jetzt als Pressechef des Kabinetts Wirth unter Cuno ausgespielt und demissioniert hat, ist es weniger. Als er noch als Berichterstatter der Frankfurter Zeitung in Straßburg lebte, fiel es schon auf, daß er nicht imstande war, aus Eigenem auch nur eine Sitzung des Landesausschusses korrekt wiederzugeben. "Der ist ja so dumm, daß er vor Dummheit nicht kann stehen!" sagte der alte Zorn v. Bulach von ihm. Das ist wohhl ein zu hartes Urteil. Dieser Müller war klug genug, einem armen Teufel von kleinem Bankbeamten in Straßburg die junge Frau abzujagen und nach der Scheidung zu heiraten; er war klug genug, sich stets in die Überzeugung seiner demokratischen Auftraggeber ganz wundervoll hineinzufühlen, sodaß beispielsweise seine Broschüre: "Warum mußten wir nach Versailles gehen?", die auf Kosten aller deutschen Steuerzahler verbreitet wurde, so klingt, als sei sie Satz für Satz von Erzberger geschrieben. Nun purzelt auch er. Aber es gibt eine Wiederkehr aller Dinge, verkünden gläubig die Gestürzten. Nichts ist in einer Republik so beständig als der Wechsel. Auch Cuno werde nur kurze Zeit Platzhalter sein. Der "starke Mann" sei er jedenfalls noch nicht, nach dem das Volk angeblich verlange. Kann sein. Kann nicht sein. Ich bin kein Prophet. Ich freue mich des Augenblicks, und der ist schön; ein kenntnisreicher, in der Regierung großgewordener und später im Wirtschaftsleben bewährter Mann, der die Kunst der Menschenbehandlung versteht und vor allem weiß, daß der Feind im besetzten Gebiete steht und nicht etwa "rechts" oder "links", taucht vor uns auf, und - husch, husch - verschwinden die Nur-Demagogen.

Als Cuno noch Oberregierungsrat unter Helfferich im Reichsschatzamt war, bat ihn eines Tages Ballin um seinen Besuch und eröffnete ihm, er, Cuno, werde - sein Nachfolger werden. Bald darauf, nachdem der designierte Nachfolger sich gerade eingearbeitet hatte, stand die Hamburg-Amerika-Linie an der Bahre ihres Generaldirektors. "Es war die schwerste Nacht meines Lebens!", hörte ich Cuno einmal erzählen. Nicht nur wegen der Begleitumstände. In den Jahren seither hat dieser Mann, wo er auch hinkam, gewinnend gewirkt. Der große Harriman ist Pate des jüngsten Kindes Cunos geworden und zur Taufe nach Hamburg gekommen. Auf dem amerikanischen Schiff, das ihn brachte, ist eine Plakette angebracht worden, eine Ehrentafel für Cuno. In Amerika gäbe man unbesehen auf ihn eine Hypothek. In Paris und in London sieht man unsicher drein. In Berlin aber rüstet sich das Parlament, die dümmste Einrichtung Europas, ihm sehr bald das Leben so sauer als möglich zu machen.

Aber immer weniger ist das Parlament das Volk. Der "Erfüllungswille" im Volk ist nicht mehr so brünstig, wie in den ersten Umsturztagen 1918, wo - ganz freiwillig - die neuen Lenker unserer Geschicke, gezeichnet Molkenbuhr und Müller, in einem Funkspruch an die Entente die Alleinschuld Deutschlands am Kriege und an der Kriegsverlängerung bekannten. Man ist doch schon ein bißchen aufgeklärter. Und sogar in Berlin fängt man schon an, fast - fremdenfeindlich zu werden. "Die verdammten Kapitalisten!", hieß es früher, wenn ein vornehmes Auto vorüberrollte. "Die verdammten Ausländer!", hört man es heute schon hie und da erschallen. Michel begreift immer sehr langsam. Aber es wird doch hell in ihm; allmählich, sehr allmählich. Man hat da so seine kleinen Erlebnisse. Am vorigen Freitag an der Kasse des Residenztheaters in Berlin, wo der alte Richard Alexander in dem seligen "Schlafwagenkontrolleur" wieder auftritt. Eine heftig gestikulierende Dame, das rosige Gesicht in einem dicken Biberpelz vergraben. Sie hat fremdländischen Akzent. Sie wünscht Billets zu halben Preisen. Der Kassierer bittet um einen Ausweis. Da schreit sie erbost:

"Das habe ich nicht nötig. Ich bin die tschecho-slowakische Gesandtin! Ich bekomme überall halbe Preise!"

Da erhebt sich - für das bisherige Berlin ein Wunder - Murren im Publikum. Ein Herr bemerkt laut und energisch unter allgemeiner Zustimmung selbst derer, die nur um einen Galerieplatz anstehen, es sei ein Skandal, wie sich diese Ausländer benehmen. In diesem Augenblick treten die beiden Begleiter der Gesandtin, Elegants von Balkansorte, an den deutschen Herrn heran und ersuchen um sofortige Zurücknahme der Äußerung und um Abbitte. Der sieht sie von oben bis unten an und sagt nur: "Wenn Sie nicht sofort stille sind, nehme ich Sie beim Kragen und werfe Sie hinaus!" Beifälliges Gemurmel ringsum. Die dreiköpfige Tschechoslowakei verschwindet. Das Volk ahnt aber doch nur dumpf, daß den Leuten Recht geschehen ist. Wer bei uns weiß denn, daß 3,7 Millionen Deutsche im Tschechenstaat unter schwerster Bedrückung und Verfolgung leben? Wir haben eine "terra irredenta" ringsum, unerlöstes deutsches Land, und im Deutschen Reiche selber in geraubten oder besetzten Gebieten die schmählichste Knechtung. Eine Frau, die frühere Abgeordnete Dr. Käte Schirmacher, die einzige mir bekannte Frau, die es versteht, mit jäh flammender nationaler Leidenschaft kühle wissenschaftliche Sachlichkeit zu vereinen, hat jetzt im Brunnenverlag in Berlin ein neues Buch, "Die Geknechteten", erscheinen lassen, das diese Dinge behandelt. Solch ein Handbuch tat Not. Wer es hat, der wird nicht mehr an jemand nach "Marienwerder in Polen" schreiben, weil er alles geographische und geschichtliche bei der Schirmacher zum Nachschlagen geordnet vorfindet; und er wird, wenn er etwa das erschütternde Kapitel "Rheinland" hinter sich hat, sich den Kragen aufreißen müssen, um nicht an der Lava des glühenden eigenen Hasses wider die fremde Brut zu ersticken.

Wenn es noch verhältnißmäßig wenig solche Frauen, wenigstens in den Großstädten, bei uns gibt, so ist zumeist die Erziehung in der Familie daran schuld. Oder vielmehr die Nichterziehung. So um 1807 herum stand es damit besser. Heute läuft das junge Volk, das großenteils schon um 4 Uhr nachmittags mit seiner Arbeit fertig ist, ja auch immer sofort auseinander, dem Vergnügen nach. Haustöchter, die auf Vaters und Mutters Welterfahrung lauschen, gibt es in diesen Notzeiten doch kaum mehr. Das Haus ist seines Amtes entsetzt; Beruf und Amüsement teilen sich in die Zeit. Und da fliegen einem nur Redensarten an. In dem früheren Berliner Mädchen aus dem Volke, das noch Dialekt sprach mit "ick" und "det", steckte mehr Erziehung, als in manchen heutigen Bureaudämchen, deren "Zivilisation" in Seidenstrümpfen und deren "Kultur" in stereotypen Phrasen besteht. Es ist eine erschütternde Geistlosigkeit. Ganze Unterhaltungen werden damit bestritten. Wie das junge Berliner Mädchen das macht? Etwa so:

Er: "Also doch noch getroffen! Ich bin außer Atem, war schon ganz unglücklich. Die erste Straßenbahn besetzt, fährt vorbei. Die zweite, in die ich einstieg, falsch. Ich fürchtete, wenn ich nicht auf die Minute käme, seien Sie weg -"

Sie: "Brechen Sie sich bloß keine Verzierungen ab."

Er: "Das Schlimmste war, sich vorzustellen, was Sie wohl von mir denken. Sie haben doch nicht am Ende geglaubt, ich wäre fähig, Sie, gnädiges Fräulein, zu versetzen?"

Sie: "Gott sei Dank."

Er: "Aber nun ist ja alles gut, und der Tag ist schön und herrlich. Wir haben ja noch so viel Zeit, bis wir in die Weinstube zum Mittagessen gehen können. Interessieren Sie sich für Kunst? Wollen wir mal in die Nationalgalerie und -"

Sie: "Ich kann mich maßlos bremsen."

Das kann so - um wieder eine neuberliner Redensart zu gebrauchen - "stundenlang" weiter gehen, "stundenlang, seitenlang mit Begeisterung". Man muß nur immer recht "keß" eine blöde Phrase vorbringen. Alles dient dazu, den völligen Mangel an Wissen, Urteil, Gefühl zu verdecken. Nie wird solch ein Mädel einfach sagen, es verstehe nichts von Kunst oder es nehme einem das Zuspätkommen nicht übel. Es kommt auch nicht mehr darauf an, daß man etwas weiß, sondern, daß man eine Redensart zu etwas weiß.

Unsereins ist da manchmal wie zerschlagen, wenn man selbst in scheinbar gebildeten und sicher besitzenden Schichten in der Frauenwelt auf vollendete Seelenlosigkeit stößt. So spricht jedermann über neue Kunst. Aber - er sieht sie sich nicht einmal an. Eine der am häufigsten jetzt gehörten Meinungsäußerungen, gedankenlos nachgeplappert, lautet, daß der große Russeneinbruch in Berlin von derselben Bedeutung sei, wie einst die Einwanderung der Hugenotten. Mit Verlaub: ganz so ist es doch nicht. Die Refugiés und nachher die Emigranten - zu Zeiten ein ganzes Drittel der Berliner Bevölkerung - haben sich mit dieser vermischt und sind in sie aufgegangen. Von ihnen stammt der kaustische, garnicht märkisch-behagliche Berliner Mutterwitz und der Berliner Gewerbefleiß. Aber eine Vermischung mit den jetzt Eingewanderten, den bolschewistischen Ostjuden und den zarischen Nationalrussen, gibt es kaum; die bleiben eine Insel in unserem Völkermeer. Gewiß, die darstellende russische Kunst kann uns, wie hier oft genug zugestanden worden ist, noch viel sagen. Aber in der Malerei und Bildnerei stoßen wir doch nur auf denselben Nihilismus, der auch den Westen schon längst gepackt hat. Unter den Linden hat die Sowjetrepublik jetzt eine große Ausstellung veranstaltet. Hie und da etwas sehr farbiges aus dem russischen Bauernleben, rotes, sonnendurchglühtes, das von weitem an den Norweger Hans Dahl erinnert; aber das meiste ist doch wieder Formzertrümmerung, Suprematismus in irren Kreisen, Kurven, Klecksen, oder gar - "gegenstandslose" Kunst. Das ist nämlich heute das Höchste. Man hält diejenigen, die noch etwas porträtähnliches schaffen, für gänzlich vertrottelt; diejenigen, die etwas malen, "wie sie es sehen", notabene, reichlich verrückt sehen, für mindestens ganz altmodisch; diejenigen, die in einem Bilde bloß veranschaulichen wollen, welche Bahnen ihr Denkvorgang beim Malen zieht, auch schon für reichlich antiquiert; nur wer ganz "gegenstandslos" malt, ist völlig modern. Das höchste ist also die glatt weiß oder rot oder sonstwie überpinselte Leinewand. Allenfalls - aber auch das ist schon eine Ketzerei - darf sich ein verlorenes andersfarbiges Viereck darin finden. So mußte es kommen. Nach der Revolution der Bankerott.

Wer das Zeug kauft, fragen Sie? Je nun, Leinewand und Ölfarbe sind doch immerhin Sachwerte. Oder die Andeutung, das Symbol von solchen. Wie die Kaurimuscheln beim Neger oder die Chips beim Hasardeur Geld bedeuten. Mit Bildern spekuliert man. Auf den "inneren Wert" kommt es schließlich garnicht an. Man muß kaufen und verkaufen, um Zwischengewinne einzustecken. Ganz Berlin kauft und verkauft, und es ist gleichgültig, ob das Aktien sind oder Streichholzbüchschen, Biedermeiermöbel oder Kaffee. Da ist ein Kollege in Apoll, der im "Klausner" sitzt und über seinen Dalles klagt. Da gibt ihm sein Konkneipant für 100 000 Mark Hosenträger, wie man zu sagen pflegt, fest an die Hand. Am nächsten Tage gehen sie für 120 000 Mark weg. Bilder haben Sie, sagen Sie? Her damit! Es kann garnicht genug Ware umlaufen. Alles lebt vom Kettenhandel der beliebigsten Dinge. Wert ist Wurscht. Hauptsache das Teurerwerden. Unsere Antiquitätenläden hängen voll von zum Teil erbärmlichem Kram. Es werden aber tolle Preise buchstäblich "erzielt". Bei Deiner verstorbenen Urgroßtante Frau Registrator Knietschke in Landsberg an der Warthe wohnte ein Sekundaner in Pension, ein Lausbub, der sie mal zum Zeitvertreib übertrieben scheußlich - er war ja nicht Kunstmaler von Beruf - in Öl abkonterfeite. Mensch, sei froh! Geh schnell in die Bodenkammer und hole das "Bild" mit den Korkenzieherlocken herunter! Das kann man doch verkaufen. Das ist die letzte Herzogin von Kurland oder so. Nur umlaufen, umlaufen muß die Ware! Wer dabei hereinfällt, das sind meist die Besitzer von wirklichen Köstlichkeiten. Viele von ihnen leben ja schon längst "von der Wand in den Mund". Eine Woche nach der andern schluckt ein Bild, einen Schattenriß, eine Urkunde, eine Perlenstickerei; um von silbernen Eislöffeln oder Hummergabeln nicht erst zu reden. Der erste Käufer und der letzte Verkäufer macht dabei gewöhnlich das beste Geschäft. Die Wanderung dazwischen aber ist weit und hat viele Stationen. Wohl dem, der sich von Urväterhausrat noch nicht zu trennen braucht, der noch inmitten aller Erinnerungen wandeln darf. Fast schämt sich unsereins. Da steht mein großer Truhenschrank; an seine Türen geheftet die beiden in Kupfer getriebenen chinesischen Löwenköpfe aus der Zeit um 1680 herum, so richtig fratzenhafte grün patinierte Köpfe, die im Boxerjahr 1900 ein französischer Infanterieoffizier in den Kaisergräbern nordöstlich von Peking erbeutet und dann, da ihm die Dinger schließlich doch nicht gefielen, für ein Zwanzigmarkstück meinem Vetter im 2. Ostasiatischen Feldregiment verklopft hat. Den Vetter haben die Russen 1914 verschleppt, ins Gefängnis geworfen, gepeitscht, sodaß das Ehrgefühl des alten Soldaten ärgere Qualen als die körperlichen litt; er kam um seinen Verstand, hieß es, und sei nachher verschollen. Soll ich die Erinnerung an ihn und an alle damit verbundenen Geschichten verkaufen? Manch einer hat ideell noch viel wertvollere Stücke. Einen Säbel, den der alte Blücher einem Vorfahren des Besitzers, einem Fähnrich, selber gegeben hat. Ein Amulett, das die nubische kleine Tänzerin dem Großoheim, der nachher in Khartum am Fieber starb, geschenkt hat. Bald steckt auch das im Strudel und wird umhergeworfen. Kaufen, verkaufen! Kaufen, verkaufen!

In solchen Zeiten gilt es, seine Nerven zu behalten. Es gibt noch Menschen, die Glück und Unglück mit der gleichen Seelenruhe aufnehmen, die sich durch nichts erschüttern lassen, nichts vorspiegeln, immer bleiben, was sie sind. Alle Achtung vor solchen Menschen. Wer einmal in den Reichspräsidialgarten Wilhelmstraße 73 hineinsehen kann, der erblickt solch ein Idyll. Wenn da einmal großer offizieller Besuch gewesen ist, kommt nachher die Landesmutter, Frau Reichspräsident Ebert, und räumt gemeinsam mit der Dienerschaft die Tische ab. Sie "tut" sich nicht. Als sie neulich unter vier Augen mit einem Besucher ins Gespräch über Italien kam und davon zu schwärmen anfing, fragte er verdutzt, ob Exzellenz denn selber in Italien gewesen seien, und erhielt die freimütige Antwort:

"Aber ja doch; meine Herrschaft hatte mich mal mitgenommen."

Das ist sehr brav. Und doch - schauderös.
23. November 1922 (Donnerstag).


11

Die neue Fellmode - In der nächtlichen Streikversammlung der Schauspieler - "Gegen Jobber und Warenhaushäuptlinge" - Die Schlemmersteuer kommt - Frau v. Rochow über Doorn

Die Damen sehen auf einmal wie Bettvorleger aus.

Der eine oder andere unter uns entsinnt sich sicher noch aus seiner Kleinkinderzeit, wie herrlich es war, morgens nach dem Aufstehen mit den bloßen Füßchen auf das Leopardenfell zu treten. Jetzt laufen diese Leopardenfelle, zu Jacken verarbeitet, überall herum. Vom Kurfürstendamm bis zur Ackerstraße ist jeder vierte Dame in sie gehüllt. Im Jahre 1878 machte auf mich, als das erste Interesse für unzerreißbare Bilderbücher höheren Interessen zu weichen begann, eine Illustration im "Daheim" einen gewaltigen Eindruck. Da saß der Zuluhäuptling Ketschwayo in seiner quellenden, massigen Leibesfülle auf einem Stuhl und hatte einen Leopardenschurz als einziges Bekleidungsstück um. Später sah ich von Angesicht zu Angesicht ebenso massige, aber weißhäutige Leute mit demselben Fell. Es waren Schwerathleten und Preisringer in einem Wanderzelt. Das mag so um 1890 herum gewesen sein. Nach solchen Vorbildern könnte ich mir nun natürlich vorstellen, wie gut dieser Behang irgend einer imposanten und doch schlanken Frauengestalt stünde, einer schönen Amazone unseres Kolonialdeutschtums, sagen wir einmal beispielsweise: Frau Reinhard Mannesmann. Aber jeder kleine dicke Wonnepfropfen auf den Berliner Straßen kommt uns auch so entgegen, das Tippfräulein, die Buttermamsell, das Geheimratsgöhr. Und was einen vollends ernüchtert, das ist, daß es gar keine richtigen Leopardenfelle sind, sondern - bedruckte Hauskatze. Man las schon seit einiger Zeit in den Anzeigen unserer Warenhäuser, daß es da Katzenjacken gäbe. Das ist etwas gegen Rheumatismus, dachte ich; das zieht man irgendwo unter allen anderen Damenhäuten an: außen Kaschmirseide, in der Mitte Battist, noch mal Battist, innen Fell. Und an das Kribbeln bloßer Kinderfüßchen und ähnliche wohlige Dinge dachte ich. Aber auf einmal ist die bedruckte, gestreifte, gefleckte Hauskatze zur Außenfassade geworden und wird womöglich mit einer Stahlkette um den Leib (nicht etwa um die Taille) gegürtet, - und die Imitation ist es, die so wehtut. Bedruckte Hauskatze statt Leopardenfell ist so wie Gummiröllchen anstelle von Leinenmanschetten oder Gabel anstelle von Zahnstocher. Ich will niemand, der vielleicht stolz auf die neue Tracht ist, die Freude daran verderben, aber wie wär's, wenn man kurz entschlossen diese Jacken wieder zu Bettvorlegern umarbeitete?

Nur selten - obwohl es auch vorkommt - sieht man eine wirklich elegante Dame in Berlin so als Tiger konfektioniert. Man trägt sich da viel schlichter. Am letzten Dienstag, in der Nacht zum Mittwoch, sah ich zu Hauf die berufsmäßig elegantesten Damen Berlins, die Schauspielerinnen, in einer - Volksversammlung. Dazu die männliche Eleganz aus demselben Berufe. Es war in dem großen Kellersaal des Zoo. An die tausend Mimen waren da zusammengeströmt, um über ihren Streik zu sprechen und sich anzufeuern. Ich schüttele Agnes Straub schnell die feine Hand. Einen Tisch weiter sitzt Fritzi Massary. Aus dem Hintergrunde leuchtet Erika Gläßners Haupt, strahlend jung und zornumwittert: denn sie ist garnicht mit dem Herzen dabei, sie sagt, von Streik und Aktionsausschuß und Flugblatt und Tariflohn verstünde sie nichts, sie sei doch Künstlerin und nicht Müllkutscher. Käte Dorsch lacht sich neue Grübchen. Dahinter wippen die Hüte von Maria Fein und Gerda Müller. Ich kann sie garnicht alle nennen, sonst müßte ich alle Berühmtheiten herzählen. Weitaus in der Mehrzahl sind natürlich die Männer, aber alle ebenso lebhaft und quecksilbrig, ein Riesenkongreß der Glattrasierten. Nur Werner Kraus mit seinem guten und doch durchgeistigten Bauerngesicht, ein richtiger Martin-Luther-Kopf auch in Zivil, sitzt still versonnen hinter seiner Säule. Pallenberg ist da. Papa Thielscher schmunzelt. Hans Marr reckt sich. Unter all den Tausend sehe ich aber keine einzige Künstlermähne, keinen einzigen Flatterschlips, überhaupt nichts betont Zigeunerhaftes. Es ist eine Versammlung von gut und korrekt angezogenen Leuten aus der besten Gesellschaft. Es fehlt auch alles übertrieben Kokette aus dem Film. Und die Damen kommen weder als imitierte Leoparden noch als echte Paradiesvögel. Es ist doch eine herzliche Freude, so inmitten eines ehrenfesten Standes zu sitzen, der sich in wenigen Menschenaltern so entwickelt hat, wie der moderne Italiener aus dem früheren Lazzarone. "Hängt die Wäsche weg! Die Schauspieler kommen!", hieß es noch vor hundert Jahren, wenn eine Schmiere mit ihrem Thespiskarren ins Dorf rumpelte. Noch bis in die letzten Jahre vor dem Kriege hinein war, wenn man von den wenigen Ensembles an guten Stadttheatern und fürstlichen Bühnen absah, das durchschnittliche Schauspielerelend groß: mehr als die Hälfte der deutschen Schauspieler und Schauspielerinnen bezog damals ein Gehalt von weniger als 1000 Mark - im Jahre! Rickelt, der jetzige Präside ihrer Genossenschaft, die gewerkschaftlich organisiert ist, hat schon als junger Mensch den Kampf um die soziale Besserstellung seiner Kollegenschaft aufgenommen. Jetzt rückt sie, wenn sie eine auskömmliche Mindestgage, ich denke, 55 000 Mark monatlich, erficht, vollends in die Reihen des soliden Bürgertums ein. Daß die "Prominenten", wie Bassermann beispielsweise einer ist, dazu scheel sehen, ist nicht unbegreiflich. Ihn und die anderen Stars erreicht die Not nicht. Größe wird immer gut bezahlt. Und einer der größten Menschendarsteller Berlins gesteht mir gedrückt:

"Die Kunst stand sich ohne Tariflohn besser. Wir mußten streben und dem Höchsten nachjagen. Jetzt kriegt jeder völlig untalentierte Kaffer, dem man bei der kleinsten Episodenrolle jedes Wort mühsam vorkauen und jede Hand- und Fußstellung einüben muß, ein Gehalt wie ein Regierungsrat. Die Masse der Untüchtigen hat freie Bahn. Die Bühne wird Versorgungsanstalt."

Aber auch diese Abseitsstehenden machen wohl oder übel mit. Sie müssen. Sonst werden sie boykottiert und können schließlich weder in Deutschland, noch in Österreich oder Böhmen oder der Schweiz irgendwo auftreten, weil kein "klassenbewußter" Schauspieler mit ihnen zusammen auf die Szene geht. Der ganze Stand ist - zum erstenmal - einig und geschlossen, und die Freude darüber kommt in der Streikversammlung in einem Beifall zum Ausdruck, wie ihn derart trommelfeuerartig selbst die höchstbezahlte Claque nicht fertig brächte. Das Händeklatschen wird zum Orkan. Das Bravo heult. Vorn am Tisch des Streikausschusses werden Ziffern von eingegangenen Unterstützungsgeldern verlesen. Spenden von 10 000, 25 000, 100 000 Mark. Amerikanische Dollars, dänische Kronen darunter von ausländischen Kollegen. Auch kleine bescheidene Sümmchen. 100 Mark "von einem ehemaligen Offizier". (Kolossaler Beifall.) 200 Mark "von einem armen Studenten". (Noch kolossalerer Beifall.) 40 Mark "von einem Arbeiter". (Ganz kolossaler Beifall.) Diese Namenlosen mögen vielleicht gut erfunden sein. Alles ist eine liebenswürdig-bewußte Vermischung von Idealismus und Gewerkschaft; schon taucht ein Nichtschauspieler, Genosse Flatau vom roten Afa-Bund, auf der Estrade empor und hält eine geschickte Werberede. Also es ist allerlei Bedenkliches dabei. Aber großartig das lohende Feuer Rickelts. Er ist nicht nur Gewerkschaftsführer, er ist und bleibt doch Künstler, ist mit der Seele beim deutschen Theater, und das reißt mit fort. Er hängt der Katze die Schelle an, wenn er vom Verfall der Bühne spricht und rücksichtslos schmettert:

"Es geht uns nicht nur um die 55 000 oder 60 000 Mark, sondern um die Rettung des Theaters, um seine Befreiunmg von den fressenden Schädlingen in der Direktorenschaft, diesen Jobbern, diesen Warenhaushäuptlingen, diesen Jünglingen vom Kurfürstendamm, so diesen Gebrüdern Rotter, die ein Verhängnis für das deutsche Theater geworden sind, die schon drei Berliner Bühnen vertrustet haben und nun aus der vierten, dem Theater des Westens, die Volksoper hinauswerfen, um an deren Stelle ihren Fleischbeschau- und Luxuspalast zu errichten!"

Gut so. Auf edelgeschnittenen Stirnen der Männer erglühen die Adern. Aus märchengroßen Augen der Frauen lodert Feuer. O, wie das wohltut. Daß mir nur leider, in den heiligsten Momenten, immer just kleine Ketzereien einfallen! Mich irritiert ein marmorblasses Frauenprofil mit bebenden Nüstern an meinem Tisch. Und mir tickt das alte Verschen im Hirn:

"Ich liebe es, bei ihr den Tee zu nehmen.
Sie spricht die Sprache der modernen Bücher,
Sie ist so weiß wie ihre Chrysanthemen
Und - hat so fabelhafte Taschentücher."

Jedenfalls hat man das Gefühl, hier durchaus unter Leuten von Welt zu sitzen, ja noch mehr: unter ehrlich um das Höchste in ihrem Beruf Ringenden, die nur, selbstverständlich, dabei unter den Alltagssorgen um Nahrung und Kleidung nicht ersticken dürfen. Fast tut es einem in diesem Augenblick leid, daß die heutige Kritik vielfach - namentlich gegenüber den Damen des Theaters - es noch vergißt, daß man gesellschaftlich Gleichstehende vor sich hat und nicht etwa Taxware vom Sklavenmarkt. Ich kann mir selbst von Tilla Durieux, soviel ihr auch zugetraut wird, nicht recht vorstellen, daß sie erfreut oder gekitzelt gewesen sein mag, als neulich in einer großen illustrierten Zeitschrift in einem Artikel mit Bildern Orliks von ihrem "weichen, vor Küssen glühenden, nach Küssen gierenden" Hals die Rede war. Diese Frauen der heutigen Bühne sind keine Geishas, die Männer keine Bajazzi. Ein aufstrebender Stand steht vor seiner endgültigen Anerkennung und findet im Publikum, das ihm soviel Erhebung verdankt, wärmste Teilnahme im Kampf. Manches ist natürlich grotesk. Wenn ein baumlanger Schauspieler, tip-top, Abendmantel, Einglas im Auge, im Schneetreiben als "Streikposten" vor dem Theater steht und Flugblätter an die Vorübergehenden verteilt, so wird gelacht. Alles lacht. Auch die ganze Gesellschaft in der nächtlichen Streikversammlung. Man spielt eine neue und amüsante Rolle. Man erhofft Erfolg und Geld und Lorbeer. Und nebenbei will man wie immer die Menschheit emporführen. O holder Schein, o liebe Wahrheit . . .

Also ins Theater kann man in Berlin zur Zeit nicht gehen, da sie fast alle geschlossen sind. Außerdem streikte wieder einmal eine Zeit lang die Hoch- und Untergrundbahn. Außerdem machen sich in der Geldtasche der meisten Berliner die sogenannten Ultimo-Schwierigkeiten bemerkbar.Außerdem ist, sagen manche Banausen, ein Glas Pilsener viel nahrhafter als ein Drama oder eine Komödie. Aber wenn es nun drei oder vier Glas werden? Der Magistrat der Reichshauptstadt will für solche Leute nun doch die Schlemmersteuer einführen. Er will von Woche zu Woche veröffentlichen, wieviel Geld man "höchstens" für Essen und Trinken bei einer Mahlzeit im Gasthaus ausgeben dürfe; was darüber ist, davon werden 25 Prozent als Schlemmersteuer bezahlt. Bei hohen Strafen werden die Wirte verpflichtet, nicht etwa eine unterbrochene und wieder aufgenommene Mahlzeit als zwei zu rechnen, sodaß jede unter der Taxe bliebe. Aber das hat doch seine Schwierigkeiten. Die großen Weinhäuser haben mehrere Stockwerke und viele Säle. Man könnte also an einer Stelle die Suppe und den Fisch mit einem guten Mosel nehmen, dann sich anziehen, eine Treppe höher pilgern, und dort Braten und Käse mit einer Flasche Schaumwein bestellen, um nachher "ganz fremd" in einem dritten Saal Kaffe und Zigarre bei einem Likör zu genießen. Was tut man dagegen? Jedes dieser großen Restaurants schaffe sich also ein Drehkreuz und eine Hauspolizei und einen Blitzphotographen an. Jeder Ankömmling wird getypt, kriegt einen Paß und dahinein Stempel und Inschrift bei seiner ersten Niederlassung. Dann kann keine Schlemmersteuer hinterzogen werden. Die Kosten der Kontrolle werden mit 20 Prozent extra auf die Rechnung gesetzt. Das ist doch ganz einfach, nicht wahr? Außerdem kann die Stadt Berlin wieder eine Reihe beschäftigungsloser Genossen als Beamte einstellen, die dann in allen "besseren" Wirtshäusern Patrouille gehen. Das werden begehrte Posten werden. Sehr populär aber wird wieder der alte Chorus: "Und so zieh'n wir mit Gesang - In ein anderes Restaurant!" Ich sprach bei dem ersten Auftauchen des Projekts von den Aussichten eines neuen Sports, des Schlemmersteuermarkensammelns. Aber auch das Hinterziehen der Steuer bei gleichzeitiger Völlerei kann zum Sport werden. In allen Kreisen, in allen Schichten. "Jestan - jroßartig - dreimal Eisbein mit Sauakraut, zwee Schinkenstullen, sieben Bier, fimf Schnäpse - un keene Steua!" Ich schätze, die Zahl der Betrunkenen wird erheblich zunehmen.

Mit einem nassen, einem heiteren Auge schaut man sich diesen ganzen Unsinn an. Ein verdrehtes Deutschland, ein verrücktes Berlin! Aber, trotz allem, doch die Heimat. Wohl uns, die wir daheim sind. Selbst das Bezahlen oder Hinterziehen der Schlemmersteuer will, solange ich nur meine Freizügigkeit in Berlin und Umgegend habe, mir angenehmer erscheinen, als etwa das Leben des von der Heimat Verbannten in Doorn. Vor einigen Tagen hatte ich bei mir Gelegenheit, ein Stündchen mit Frau v.Rochow zu verplaudern, die zweimal Gast ("Bitte: nicht Wirtschaftsdame!") des Kaisers in Doorn gewesen ist, wobei sie nicht auf den Einfall einer morganatischen Heirat gehommen sei. Sie nicht; ich werde mich hüten, zu sagen: nicht sie. Also jedenfalls erzählt Frau v.Rochow, eine trotz ihrer Jahre frische, resolute und temperamentvolle Dame, daß der Aufenthalt in Doorn doch mehr eine Gefangenschaft sei. Der hohe Herr habe "zu seinem Schutze" immer zwei Polizisten hinter sich. Und wenn er vor's Haus gehe, tue er es nicht, ohne seinen schweren Hammerstock mitzunehmen. Eine grenzenlose Verlassenheit. Im fremden Lande, von der Familie getrennt, nur von Angestellten umgeben. Und die seien ja alle um das "Wohl" des Kaisers in so eigenartiger Weise besorgt. "Nur Ihm nichts sagen! Das könnte Ihn aufregen!" Wenn die verstorbene Kaiserin in ihrer Mütterlichkeit dem Kaiser alles Bittere vorenthalten wissen wollte, so war das zu verstehen. Aber "die Umgebung" brauchte doch nicht diese Scheu zu haben. Auf diese Umgebeung, den Rest vom "Hof", ist Frau v.Rochow nicht gut zu sprechen. Wenigstens nicht auf einige bestimmte Personen, von denen sie mit allen Waffen bekämpft zu sein glaubt. Sie selber hat dem Kaiser gegenüber nie ein Blatt vor den Mund genommen. Alte Mannentreue. Die Hohenzollern haben, als sie in die Mark kamen, den Rochows,die schon etliche Jahrhunderte vor ihnen da waren, die Stammburg mit der Faulen Grete zerschossen. Der letzte Rochow war Ulanenoberst in Potsdam, als Prinz Wilhelm dort Husarenoberst war. Oder so ähnlich, ich weiß nicht genau. Nachbarlicher Verkehr. Gleichgesinnte. Und die beiden Frauen: beides prachtvolle Frauen. Es gibt doch noch Dramen auch außerhalb des Theaters.
30. November 1922 (Donnerstag).


12

Der erste Ball der Saison - Immer noch Stirnband - Von der Topographie des Küssens - Noch kein Ende des Schauspielerstreiks - Im Trocadero am Rosenthaler Tor - Die Memoiren des toten Moltke - Prophet Steiner - Was man sich für Groschen kaufen kann

Die Ballsaison geht an. Die großen öffentlichen Feste haben ihre bestimmten Termine, die Damenwelt hält ihren Mobilmachungskalender in der Hand, der Aufmarschplan liegt in der Hauptsache fest. Nur noch um Ausrüstungsfragen geht es. Mit welchen Waffen schlägt man den Feind, nämlich die anderen Damen? Ein Königreich für einen neuen verblüffenden Gedanken! Im vorigen Jahre hatte eine Filmkünstlerin Furore gemacht, die sich den ganzen entblößten Rücken hatte bemalen lassen. Eine Erinnerung vielleicht an Paris, wo es eine Zeit lang einmal Mode war, auf Tanzgesellschaften ohne Strümpfe zu erscheinen, dafür aber mit gepinselten Blumenranken auf Schienbein und Wade. Es erhebt sich jetzt vor allem die Frage: welches ist der Hauptkriegsschauplatz? Lohnt es sich, schon auf dem Kolonialball das eleganteste neue Kleid zu zeigen, oder wartet man lieber bis zum Presseball? Und sind die Nebenkriegsschauplätze - Gesinde, Böse Buben, Ostmarken, Lustige Blätter - eines großen Aufwandes wert? Bisher war immer der Presseball der Gipfel, da das Dortgesehenwerden sozusagen als Ausweis für die Zugehörigkeit wenigstens zu "tout Berlin" gilt. In dieser Saison wird nun die Sache spekulativ. Heißt der Reichskanzler, der auf dem Presseball Cercle abhält, Cuno, so kommen mehr die Klitzing und Arnim, heißt er aber wieder Wirth, so kommen mehr die Gutmann und Herzfeld, und das macht schon einen Unterschied in der Pracht der Gewänder aus. Es ist in den letzten Monaten, wie man in großen Kaufhäusern übereinstimmend hört, viel Seide von unseren Damen "hingelegt" worden, weniger das fertige Modell bevorzugt. So kann man bis in die Tage unmittelbar vor der Schlacht die endgültige Armierung hinziehen. Auf dem Kolonialball, der jetzt als erste der großen Berliner Veranstaltungen gestiegen ist, ging es noch recht schlicht und vorjährig beim Toilettenbewerb zu, man sah also auch noch kurze Röcke und - Stirnbinden. Früher hieß es

"Unsere lieben süßen Dam'n
Zeigen alles, was sie ha'm",

aber seit etwa Jahresfrist fangen sie wieder an zu verstecken; nicht nur die Beine, nicht nur die Büste, sondern auch die Stirn, in deren klaren Marmor der Mann früher so gern alle ersehnte Reinheit und Hoheit hineinträumte. Das Ponygelock - als Buben sprachen wir despektierlich von der "Dummheitsgardine" - tut es nicht allein, es muß auch noch umwunden sein, priesterlich oder sklavisch, breit, breiter, ganz breit. Ein ganz dünner Reif könnte die Stirn noch heben. Also nimmt man womöglich handbreiten Brokat.

"Das schadet nichts; auf die Stirn wird doch nicht mehr geküßt!", sagt mir lächelnd eine Erfahrene von annähernd 17 Jahren.

Gewiß nicht. Aus der Biedermeierzeit sind wir längst heraus, und überhaupt hat jedes Zeitalter in dieser Beziehung seine eigene topographische Orientierung. In Goethes Gedichten steht seit Jahrzehnten, wo vom Kuß die Rede ist, stets "Mund" gedruckt, auch dort, wo in der Handschrift ursprünglich "Brust" zu lesen war, denn anno Goethe gab es eben gemeinhin lockerere Gesellen als nachher. Heute hat man dafür die Maus, die Armbeuge; wir sind also keine Biedermeier mehr, aber relativ doch noch sehr gesittete Leute. Selbst auf dem braven Kolonialball konnte man so seine Beobachtungen machen, - vorausgesetzt, daß man in der Masse nicht festgekeilt war. Soviele Besucher wie diesmal hat er noch nie gezählt, so einen großen Reinüberschuß noch nie erzielt, denn die Veranstalter waren klug und weise und hatten das Eintrittsgeld niedrig bemessen. Im Gegensatz dazu war gestern der künstlerische 5-Uhr-Tee im Kaisehof zu Gunsten der streikenden Schauspieler nur jämmerlich besucht, denn 5000 Mark für ein Tischplätzchen ist doch selbst heute noch recht happig.

Leider habe ich keine der Aufführungen besuchen können, die von den allerersten Kräften der Berliner Schauspielerschaft jetzt in der Bötzowbrauerei, im Schwechtensaal und anderswo, mit ganz primitiver Ausstattung natürlich, veranstaltet worden sind. Es soll hinreißend gewesen sein. Heute ist jede Bühne glücklich, wenn sie einen einzigen zugkräftigen Star besitzt; kommen diese nun zu Dutzenden zusammen, werden selbst die kleinsten Statistenrollen von königlichen Darstellern gegeben, so kann man sich den Adel und den Schwung einer solchen Aufführung schon vorstellen. Leider hat der Streik noch zu keiner Einigung geführt. Noch regnen die Unterstützungsgelder, noch ist der Enthusiasmus groß, aber ihre Entlassung haben die Mimen nun alle in der Tasche, und die letzten Wochen vor Weihnachten sind seit jeher die schlechteste Theaterzeit der ganzen Saison, sodaß die Direktoren erklären, da bedeute der Ausfall der Vorstellungen für sie nicht allzu viel. Also beide Parteien sitzen noch auf hohem Roß. Es wird nachgerade Zeit, daß ihnen von Unparteiischen heruntergeholfen wird, denn namentlich für die Fremden fängt Berlin an, langweilig zu werden; wer von ihnen es kann, der verkürzt daher seinen hiesigen Aufenthalt und vergnügt sich anderswo.

Überhaupt, sagen sie, so lustig-frech, wie in den ersten Jahren nach der Revolution, gehe es in Berlin lange nicht mehr zu. Was es sei, wisse man nicht, aber die Stimmung habe sich arg verändert. Stimmt schon. Die Herren sollten nicht vergessen, was es für ein Volk bedeutet, wenn sein Mittelstand nicht mehr das Geld hat, zerschlagenes Waschgeschirr zu ersetzen, während wir im letzten Jahr gezwungen waren, allein für den weiblichen Anhang unserer fremden Besatzung 200 Bidets aus Porzellan, 500 Frisiertoiletten, 800 Damenschreibtische, 16 000 Bügeleisen und 3 Millionen Meter Leinwand zu liefern. Allmählich merken das auch dumpfe Hirne. Gewiß: sehr allmählich. Aber es gibt schon "rote" Arbeiter, die sich wegwenden, wenn ein Ausländer sie gebrochen nach etwas fragt; es gibt schon - sogar in Berlin - bisher sozialdemokratische oder unabhängige Arbeiter, die schlankweg zu den Deutschnationalen hinüberwechseln, ihren Beitrag - über dessen Geringfügigkeit sind sie meist verblüfft - für ein ganzes Jahr im Voraus entrichten und nur bitten, man solle ihnen weder Mitgliedskarte noch sonst etwas zusenden: "Denn wenn es rauskommt, kriege ich mächtige Senge."

Gustav Freytag hat einmal gesagt, man solle das Volk, wenn man es kennen lernen wolle, bei seiner Arbeit aufsuchen. Das ist nicht mehr richtig. Bei der Arbeit beißt es, aus Furcht vor einer gewalttätigen Minderheit, die Zähne zusammen und geht nicht aus sich heraus. Nein, man muß das Volk heute bei seiner Erholung aufsuchen. Also da pilgere ich in den Berliner Nordosten, wo es nur Arbeiterbevölkerung und ganz kleinen Mittelstand gibt, und gehe Abends ins Trocadero, die Singspielhalle am Rosenthaler Tor. Man traut seinen Ohren kaum. Das ist ja reinster Nationalismus, was da vorgetragen wird! In unbeholfenen Versen. Unter rasendem Beifall. Ein Lied mit dem Kehrreim "Vergiß nicht, daß du ein Deutscher bist!" erinnert an alle großen Deutschen, in der Technik von Berthold Schwarz bis Zeppelin, in der Musik von Beethoven bis Richard Strauß, und so alle Gebiete der Kultur hindurch -

Wir haben noch einen Halt jederzeit,
Dieser Halt ist unsere Vergangenheit:
Ein Martin Luther, ein Nietzsche, ein Kant,
Ein Bismarck stammen aus unserem Land!"

und der Beifall wird zum Tosen, wenn es in dem Liede heißt, daß wir leider auch Schlangen an unserem Busen genährt hätten, "gewisse Ausländer", denen unser Ruin zu verdanken sei. Es ist merkwürdig, daß unsere Führenden - noch Führenden - in Berlin von diesem Umschwung in der Volksstimmung noch nichts zu ahnen scheinen. Sie haben noch immer alle Hände voll zu tun, um Sinnbilder der kaiserlichen Vergangenheit wegzumeißeln; sie haben eben die alte Hauptstraße Charlottenburgs, die Berliner Straße, in Erzbergerstraße umgetauft; sie finden sogar den Mut zu dem Beschluß, das Marmorstandbild Wilhelms I. aus der Wandelhalle des Reichstages zu entfernen. Das alles ist weiter nichts als böses Gewissen. Als in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Russifizierung der baltischen Provinzen begann, auch mit dem großen Umtaufen und Umpinseln, als die alte deutsche Universität Dorpat in Jurjew umbenannt wurde, fand den treffendsten Ausdruck dafür ein alter braver Handelsmann. "Nu, wie heißt," sagte er, "wenn man ein Taschentuch gestohlen hat, trennt man natürlich den Namen raus!"

Das hilft aber alles nichts. Die Aufklärung kommt. Die Wahrheit marschiert. Ob sie in Büchern steht oder nicht, das ist ganz gleichgiltig, auch wiederhergestellte Straßennamen und Kaiserdenkmäler sind nicht die Hauptsache, sondern daß in Herzen und Hirnen des Volkes der Umschwung erfolgt. In Büchern stehen heute, selbst wenn die unverfänglichsten Verfasser ihren Namen dafür hergeben müssen, ganz törichte Dinge. Zu den sehr vielen Memoiren über den Weltkrieg kommt jetzt noch ein neues Werk, für das der verstorbene Generaloberst v.Moltke verantwortlich zeichnet. Aber das ist eigentlich schon Leichenschändung. Die alte, gute Berliner Gesellschaft dankt es dem "Anthroposophen" Rudolf Steiner nicht, daß er sich, wie an so viele durch schweres Körperleiden Zerrüttete, auch an Moltke in dessen letzter Zeit herangemacht hat und nun - durch die Verlags-Aktiengesellschaft "Der kommende Tag" der Anthroposophen - seine Erinnerungen vertreibt, die die eines Mannes sind, der seiner Geisteskräfte nicht mehr Herr und nicht einmal mehr imstande war, den Tag anzugeben, an dem die Nachricht von der russischen Mobilmachung nach Berlin gelangte. Wahnvorstellungen quälen den Kranken. Er denkt, der Kaiser habe am 1. August den Westen völlig von Truppen entblößen und nur gegen Rußland aufmarschieren wollen; und er selber, der Chef des Großen Generalstabes, Moltke, habe "vor Verzweiflung geweint".

Dieses Probestückchen genügt wohl. Mitten zwischen guten und lesbaren Abschnitten stehen Phantastereien, wie man sie allenfalls einem Herrn Nowack aus Wien nachsehen kann, aber nicht einem Hellmuth v.Moltke. Es ist ein Jammer, daß die Hinterbliebenen Moltkes auf die Publikation durch Steiner verfallen sind. Ich kannte Moltke in seinen gesunden Tagen, wo er treu und geschickt, auch mit der nötigen Energie gegenüber den Friedensseligen im Auswärtigen Amte, das große Erbe Schlieffens verwaltete. Ich sah ihn dann auch wenige Monate nach Kriegsbeginn in seiner schweren Krankheit und ich weiß, wie die ganze Familie damals am Rande des religiösen Überschnappens stand; wobei sie leider diesem Steiner in die Hände fiel, den einer einmal als "Christus der Spießbürger" bezeichnet hat, der in Formeln und Zahlen und Kategorien, die ihm vielleicht klar seien, die er aber andern nicht klar zu machen wisse, kleine Leute verwirre. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß Steiner ursprünglich Sozialdemokrat war. Jedenfalls war er immer ein tüchtiger Agitator und ein tüchtiger Geschäftsmann mit einem Schuß berechnender Mystik. In Berlin hat dieser Prophet der "sozialen Dreigliederung" eine Menge Anhänger und Geldgeber gefunden, noch mehr in Süddeutschland. In der Nähe von Basel, unter der Ruine Dorneck, die steil auf einer Kalkklippe thront, hat die Steinergemeinde ihren Tempel. Eine große ungefüge Kuppel. Ein Klecks für die ganze Landschaft. Hinter der hohen Mauer um das Anwesen, so wurde einem früher in der Gegend erzählt, liefen die Bewohner nackt herum. Das ist sicher übertrieben. Nacktbeinige, nicht nackte Gestalten, hager und sonnverbrannt, machten für das Ding in dem ehrbaren Basel Reklame. Leute mit schwachen Hirnen und straffem Geldbeutel fanden sich auch ein. Gelegentlich hielt Steiner dort einen Vortrag, alles gestelztes, hochtrabendes Zeug und doch trivial, nach Reklame schmeckend: wie gesagt, ein Christus der Spießbürger, Christus für sich und Spießbürger in der Reklame, in der marktschreierischen Ankündigung. Christus, der sich als Doktor Eisenbart der kranken Welt plakatiert. Heute ist er - oft genug war es sehr knapp - ein gemachter Mann, ist Aktiengesellschaft und verlegt den toten Moltke.

Ein wenig scheint inzwischen in der Reichshauptstadt das Interesse aller Salons für ihn nachgelassen zu haben. Manche seiner Schriften sind schon auf Straßenkarren zu kaufen. Restauflage. Ramsch. Zieht nicht mehr. Aber auch da sind die Bücher immer noch viel zu teuer. Wir müssen uns überhaupt von dem Irrwahn befreien, als gäbe es bald unter hundert oder gar tausend Mark nichts mehr. Ich habe gewettet, man könne noch allerlei für weniger als 50 Pfennig haben. Unsere beiden Schulbuben - ich habe zu so etwas keine Zeit - wurden mit den Recherchen beauftragt. "Au, das ist dufte!" sagt der eine. "Au, das ist schnieke!" sagt der andere. Sie werden näher unterrichtet. Sie spitzen die Ohren und wackeln damit. "Wir werden das Kind schon schaukeln!" sagt der eine. "Wir werden den Zaun schon pinseln!" sagt der andere. Dann poltern sie die Treppe hinunter und gehen wie junge Jagdhunde mit hellem Geläut auf der Fährte ab, rennen in die Warenhäuser und schnuppern durch alle Stockwerke. Im Triumph bringen sie die Beute heim. Also für 45 Pfennig kann man einen Falzstift bekommen. Für 35 Pfennig ein Dutzend Heftklammern. Für 25 Pfennig ein amerikanisches gerade fingerlanges Fähnchen, gut auf dem Plumpudding aufzupflanzen. Für 25 Pfennig auch ein schwarzgelbes Ordensbändchen. Für 20 Pfennig kann man sich bei Wertheim wiegen lassen. Für 10 Pfennig hat der Jüngste, der Zwölfjährige, bei Jandorf in den Wahrsage-Automaten greifen dürfen, hat ein bedrucktes blaues Kärtchen bekommen und liest da kopfschüttelnd u.a. folgendes:

"Ihre Klagen über Langeweile sind vollständig unbegründet. Ihr Leben wird reich an Ereignissen sein, besonders in Liebesangelegenheiten haben Sie viel Glück. Sie sehnen sich nach einer gleichgesinnten Seele, ohne zu ahnen, daß sich dieselbe in Ihrer nächsten Umgebung befindet. Seien Sie weniger übertrieben in Ihren Launen."

7. Dezember 1922 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts