"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 46 - 48
3. bis 17. August 1922


46

Der Herr Konsul - Wappengeschmückte Autofähnchen - Oberzeichenlehrer und Obergesanglehrer - Republikanisierung des Männergesangs - Schlagerseuche in Kurorten - Berliner Ehrendoktoren - Ein Graf als Antiquitätenschlepper - Brillantenverdauung

Eine auffallend große Anzeige ist dieser Tage wiederholt in verschiedenen Blättern erschienen: eine wohlhabende repräsentative Persönlichkeit möchte das Konsulat irgendeines europäischen Staates übernehmen. Der Mann hat vielleicht Schokolade, Seife, Schraubstollen, Wagenschmiere, Kognak, Hosenträger geschoben, hat nun einen großen Teil seines Vermögens in amerikanischen Stahlbonds oder englischen Randshares in Bern oder Amsterdam liegen und möchte seinen ältesten Studiosus juris in ein feudales Korps eintreten lassen. Seine eigene Gesellschaftsfähigkeit will er dazu erhöhen, will "Herr Konsul" werden, aber beileibe nicht von der Republik Ecuador oder gar Panama, denn das ist "nicht seriös genug", ist schon fast Operette, also muß es schon ein europäischer Staat sein. Es gibt ja Vermittler, die gegen große Summen solche Titel schieben; es könnte doch sein, daß die Republik Eesti oder Georgien ein Wahlkonsulat zu vergeben hat und alsbald auch einen großen Ordensstern. Vor allem kann man dann vorn an seinem Auto, neben dem Chauffeursitz oder an Stelle der Kühlerpuppe, ein Wappenfähnchen anbringen, das so lustig vornehm flattert und jeden Schutzmann vor Hochachtung erstarren läßt, selbst wenn das Auto in ganz polizeiwidrig mörderischer Pace daherrast. Mit solchen Fähnchen fahren ja jetzt alle irgendwie mit dem Auslande dienstlich Versippten, um als Menschen höherer Ordnung - nicht etwa als armselige Deutsche - eingeschätzt zu werden. Früher kannte man dergleichen hochmütige Betonung der Exterritorialität nur in der Türkei oder in China, heute aber ist sie auch in Berlin allgemein. Die Sitte greift schon auf die mehr oder weniger roten, also programmatisch jeder Exklusivität feindlichen Vertreter der deutschen Einzelstaaten über, auch auf ihre Kanzlisten und Sekretärinnen. Man sieht also nicht nur die schwedische und spanische, die lettische und tschechoslowakische, sondern auch die hamburgische und sächsische, die thüringische und württembergische Flagge. In einem Hui schnurren die Wagen vorüber; über die Berechtigung zum Führen der Flagge läßt sich kaum etwas feststellen, es mag sogar sein, daß manch ein Schuster von Köpenick sie führt, und es dauert wohl nicht mehr lange, bis auch die Schlaraffia oder die Pankgrafschaft ihre Hausflagge als Autofähnchen aufpflanzt. die Eitelkeit ist unausrottbar.

Mittelalterliche Magistrate haben sich vergeblich gegen den "Hosenteufel" gewehrt und Kleiderverordnungen erlassen. Auch die Weimarer Verfassung hat vergeblich dem weiteren Anwachsen des Titelwesens Halt geboten, um zu republikanischer Einfachheit und Würde die Menschen zu erziehen. Jetzt haben wir sogar den Oberzeichenlehrer und den Obergesanglehrer bekommen, was den sicherlich berechtigten Ansprüchen der akademisch ausgebildeten unter den Zeichen- und Gesanglehrern entspricht, aber sprachlich entsetzlich ist. Bisher hat mir jedenfalls noch niemand sagen können, was Obergesang ist. Ich kann mir auch nur einen Gesang-Oberlehrer, keinen Obergesang-Lehrer vorstellen.

Aber der heutige Staat hat, was in der Öffentlichkeit noch gar nicht bekannt ist, mit den Meistern des Taktstockes überhaupt Großes vor: sie sollen ihm zu "moralischen Eroberungen" verhelfen, sollen an die Stelle des nationalen und monarchischen Jungborns unserer Volkslieder allmählich die internationalistischen Hymnen setzen. Wird da neulich in einer von Berlin nicht allzu weit entfernten Stadt der Dirigent des Männergesangvereins zum Regierungspräsidenten gebeten und gefragt, ob er nicht 150 000 Mark Beihilfe für seinen Verein haben wolle. Der Mann weiß natürlich nicht, wie ihm geschieht. Er fängt an zu stottern. Er weiß doch, wie rar das Geld in der Staatskasse ist, er weiß auch, wie sehr das fremde Garantiekomitee nach "unnützen" Kulturausgaben spürt. Der Regierungspräsident klopft ihm aber wohlwollend auf die Schultern und sagt: "Genieren Sie sich nur nicht, der Staat hat viele Millionen für diesen Zweck angewiesen!" Endlich faßt sich unser Gesangvereinsdirigent - ich brauche wohl nicht zu versichern, daß es nicht Herr Fehrenbach aus Flensburg war - so weit, daß er nach der Gegenleistung fragen kann. Oh, das sei nur eine Kleinigkeit, heißt es. Gelegentlich ein Gratis-Volkskonzert auf dem Marktplatz, selbstverständlich mit behördlich genehmigtem Programm. Und dann: es wäre doch schön, wenn die Musik zur Volkssache, zur Gemeindesache gemacht würde; es sei also sehr erwünscht, wenn der Männergesangverein "Alte Treue" und der Arbeitergesangverein "Rote Fahne" fortan unter gemeinsamer Leitung stünden. Das werde jetzt überall angeregt. Fabelhaft, einfach fabelhaft. Ich möchte gar zu gern an dem nächsten Stiftungsfest eines so vereinigten Chores teilnehmen. Der Vorsitzende hebt den Humpen und bringt ein Hoch auf unser armes liebes Vaterland aus, mit der Selbstverständlichkeit einer Reflexwirkung wird nun "Deutschland, Deutschland über alles" gesungen, um alsbald von der Arbeitermarseillaise mit "Blut muß fließen knüppel-knüppeldick" überschrien zu werden - und der Rest sind zersplitterte Stuhlbeine und angeschlagene Schienbeine. Alles zum Schutze der Republik. So gewinnt man ihr die Herzen, so rottet man die gefährlichen Vaterlandslieder des alten Systems an der Wurzel aus.

Freilich wird man mit den Liedern der Internationalisten auch nicht überall durchdringen, schon deshalb nicht, weil die Dirigenten als musikalisch gebildete Leute doch den Kunstgesang zu pflegen da sind und keine Lust verspüren dürften, das Unisonogebrüll zu taktieren. Aber vielleicht einigt man sich auf mittlerer Linie. Man kann ja das unerschöpfliche Repertoire der Berliner oder auch Wiener "Schlager" ausnutzen, die sich allgemeiner Beliebtheit und meist auch gemeinsamer Herkunft aus irgendeiner galizischen Poeten- oder Tonsetzerstube erfreuen. Da man in Berlin zurzeit mit der deutschen Sprache nur mangelhaft durchkommt, mache ich jetzt, um gleichzeitig für den kommenden Urlaub zu trainieren, Wochenendpartien, um meine lieben Berliner in ihren Sommerfrischen aufzusuchen, und da kriege ich natürlich alle Schlager vorgesetzt, die im Winter hier herausgekommen sind. Sitze ich da an diesem Montag kurz vor der Heimfahrt in Bad Schandau beim Essen. Wie schön könnten einem die Forellen aus der Biela munden! Aber dazu kräht der von dem Hotel für die künstlerische Erhebung der Gäste eigens gecharterte Sänger sein:

Weine nicht,
Mein Liebling, weine nicht,
Alles kannst du von mir haben,
Nur das eine nicht -

und nicht nur die anwesenden Berliner und Chemnitzer, sondern auch die nicht ganz unzweifelhaft verheiratete junge Dänin mit ihrem Gent, die Valutaferien genießende Rotundenfrau aus Prag, das Mädchenpensionat aus Karlsbad und der kommunistische Wanderredner aus Falkenstein mit seiner kleinen dicken Bolschewikin klatschen begeistert Beifall. Also das wäre doch so was für unseren behördlich neu organisierten Männergesang; da gerät niemand dem anderen in die Haare. Das Entzücken kennt gar keine Grenzen mehr, als der Sänger uns dann noch - mit Rücksicht auf die Gäste von drüben - gut alt-österreichisch kommt und schlagernd-schnadahüpfelnd duliöht:

Mei Bruder is a Kupferschmid,
Und was er sieht, dös nimmt er mit;
Mei Schwester is e feini Dam',
Hat sechzehn Kinder und noch kein Mann -

kurz, man kann seine Herzensfreude daran haben, wie "entgiftet" hier die Atmosphäre ist, wo nur die Parole gilt: Verdaue mit Musik! Da macht sich keiner irgendwelche Gedanken über vaterländische Not, über altes System, über glorreiche neue Außenpolitik. Ein gewichtiger Berliner wartet freilich trotzdem etwas aufgeregt auf sein dringendes Ferngespräch, um zu erfahren, wie der Dollar auf der Nachbörse gehandelt wurde, und sagt nachher etwas echauffiert seiner Gattin: "Der Peunkarree is warraftig noch döller als früher der Klemmenzau!", aber sonst kümmert sich doch niemand um Poincaré und Clemenceau, um Wirth und Radbruch, sondern alles schunkelt vergnügt zu den Schlagermelodien und ist so friedlich, als man sich einen guten Republikaner und Internationalisten nur wünschen kann. Außerhalb dieser Kurgenossenschaft sieht es freilich noch böse aus. Es ist ein Skandal: in einem anderen Ausflugsort höre ich Schulkinder "Des Vaterlands Hochgesang" anstimmen, und an der Giebelwand ihrer Volksschule steht gar mit fußhohen Buchstaben: "Fürchtet Gott, ehret den König, habt die Brüder lieb!" Daß so etwas in dem Reiche des unabhängig-sozialdemokratischen Ministers Lipinski noch nicht ausgemerzt ist, das ist unerhört. Man sollte die Bibel, die solche Sprüche enthält, einfach verbieten.

Mir wird ganz schwach, wenn ich daran denke, daß in der Bibel sogar steht: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist! Alles, was wir geben können, bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit, müssen wir doch der Entente geben. Wer klug ist, macht sich freilich schnell vorher noch anderswo Freunde mit dem ungerechten Mammon. Früher tat man so etwas in der Form eines Dankopfers, wenn man königlicher Kommerzienrat geworden war. Heute sind andere Ehren erwünschter. Um aus der Masse des Volkes, das ja heute ganz unvorgebildet in alle Ämter gelangen kann, sich herauszuheben, muß man am besten eine akademische Würde sich erwerben. Dazu bedarf es heute, wo die Hochschulen bitter arm geworden sind und vom Staate nicht mehr genügend Geld für ihre Büchereien und Laboratorien erhalten, nicht mehr einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern nur eines Wohltätigkeitsaktes. So ist der Berliner Verleger Mosse schon vor einiger Zeit Dr. phil. geworden. So ist jetzt der Berliner Konfektionär Adam zum Dr.-Ing. promoviert worden. In seinen Schaufenstern sieht man wundervolle Sportkostüme, entzückende Damen-Breeches, Bobsleigh-Mützen, Golf-Beinschienen und dergleichen mehr - und da sind dann seine "Verdienste um die körperliche Ertüchtigung der deutschen Jugend" entsprechend anerkannt worden, nachdem er für Sportzwecke ein anständiges Sümmchen geopfert hat. Kaum eine Fakultät ist heute ganz unzugänglich, sogar der Dr. med. ist ehrenhalber schon an Wohltäter verliehen worden. Nur, soviel ich weiß, der Dr. theol. noch nicht - denn nach ihm besteht in den Kreisen, die hier gemeint sind, vorläufig noch keine Nachfrage. Aber was nicht ist, kann noch werden. In Berlin lebt ein alter gescheiterter Paukarzt jetzt glänzend davon, daß er den "geehrten Reflektanten" künstliche Schmisse beibringt, die dann altes System vortäuschen. Er verdient fast so viel wie der Kollege, der Tätowierungen entfernt, wofür besonders diejenigen Leute sich interessieren, die nur ungern "besondere Merkmale" in ihrem Signalement stehen haben. Aus gewissen Gründen. Man kann nie wissen.

Die enttätowierten Ehrenmänner legen gern auch ihre früheren Rufnamen ab, Pallisaden-Karl oder Schlächter-Orje oder Maukbeen-Maxe, weil dies geschäftlich behindert. Mit guten alten Namen ist aber immer noch viel zu machen. In den Berliner Zeitungen findet man häufig jetzt die Anzeige:

Graf
sucht hundertjährige Möbel

usw., und man wundert sich nur über die Unersättlichkeit deises Grafen, der inzwischen doch schon sicher Dutzende von Schlössern möbliert und mit Altertümern ausgestattet haben kann. Ich bin der Sache nachgegangen. Also der arme Teufel ist wirklich ein Graf. Er ist für ein verhältnismäßig schmales Gehalt bei einem Berliner Antiquitätenhändler angestellt, dessen Frau mit 40 000 Mark Wirtschaftsgeld monatlich nicht mehr auskommen zu können erklärt. Daß sie überhaupt soviel ausgeben kann, verdankt sie diesem Juwel von einem Grafen. Er taucht in alten Familien, die jedem Händler die Tür weisen würden, dank seiner Visitenkarte unangefochten auf und kauft kostbare Sachen aus Biedermeier- und Directoirezeiten, die ihm natürlich zu einem Preise überlassen werden, wie er "unter Brüdern" üblich ist. Ebenso leicht findet er auch Einlaß in neureichen Familien, wo er umgekehrt als Verkäufer auftritt und wo die hochgeehrten Herrschaften sich gern über den Löffel barbieren lassen, obwohl es auch da sehr sachlich-geschäftstüchtige Ausnahmen gibt. Immer reist der Herr Graf in Begleitung. Entweder sein Chef selbst, der Antiquitätenhändler, oder dessen Frau sind dabei und begnügen sich äußerlich mit einer sehr bescheidenen Rolle, legen auch gar keinen Wert darauf, etwa als Händler vorgestellt zu werden. Sie sind es zufrieden, daß "ihr" Graf seine Sache vorzüglich macht und daß sie ihn dabei doch dauernd unter Aufsicht haben. Solch ein Dukatenmännchen ist wirklich Gold wert. Und dabei ist der Graf in seinen Gehaltsnachforderungen, wenn das Leben teurer wird, wirklich nicht so dreist, als er es sein könnte. Augenblicklich blüht natürlich besonders das Geschäft mit den Ausländern - und auch die haben einen Grafen an der Hand, einen französischen Comte, der in unseren teuersten Hotels gern gesehen wird und der die diplomatische Rangliste aller Länder gut im Kopfe hat. Er hat das meiste Interesse für uralten Familienschmuck und ähnliche Dinge von geringem Umfange. Goldene, brillantenbesetzte Tabatièren, die Friedrich der Große irgendeinem seiner Generale geschenkt hat, sind ebenso begehrt wie Diademe, die August der Starke sich als Morgengabe für Damen des sächsischen oder polnischen Adels zu leisten pflegte. Über historische Erinnerungen gehen die Käufer aber hinweg. Nur der materielle Wert gilt. Manches Schmuckstück wird zum bequemen Hinübertransportieren gleich angelegt. Das übrige zerschlägt man mit dem Hammer im Hotelzimmer, bringt das verbogene Gold in seine Bank und schluckt die Diamanten und Rubinen am Tage der Abreise mit etwas Milchkaffee hinunter.

Ein wahrer Hagel von Edelsteinen kullert so über die Grenze. Leider dürfen wir die geschätzten Ausländer nicht so behandeln wie die Engländer ihre Nigger in den Diamantengruben von Kimberley. Die kriegen, wenn sie aus den Compounds hinaus wollen, zunächst ein paar Eßlöffel voll Rhizinusöl und werden dann unter Bewachung eingesperrt, bis sie nichts mehr im Leibe haben.
3. August 1922 (Donnerstag).


47

Im Freibad mit Bettdecke - Jugend von heute - "Nie wieder Krieg!"-Deklamation - Papiermarkelend - Das Fest beim afghanischen Gesandten - Kolonie Deutschland - Käsefahrt durch Berlin - Am Sarkophag der Königin

Schlafe patent! Bade zu Hause! Natürlich, wissen wir: zwei Reklameimperative. Aber sie könnten auch als Unterschrift zu den Bildern dienen, die man jetzt in den Freibädern am Wannsee, Müggelsee, Tegeler See aufnehmen kann. Man sieht da Pärchen, die sicherlich zu Hause gebadet haben, wenigstens ist es ihnen hier draußen zum Baden zu kalt und naß, und nur zum patenten Schlafen herausgekommen sind, er und sie nebeneinander im Trikot, aber mit einer gemeinsamen dicken Wolldecke bedeckt.

Das ist die neueste Luft- und Liegekur "mit Packung". Nicht jedermann hat Freude an dem Anblick. Manch einer Mutter, die sich und den Kindern eine Sommerfrische in den Schulferien nicht mehr leisten kann, wird das Freibad verleidet; Man kann doch angesichts solcher Zweischläfrigkeit nicht mehr unbefangen mit seinen Zehn- und Zwölf- und Vierzehnjährigen dasitzen. Selbst die einfachsten Frauen aus dem Volke packt der Grimm, wenn sie ein halbflügges junges Ding mit einem Mann so in der Freiluftpenne sehen. "Hätten wa bloß noch unsere früheren Blauen, denn würde so'n Stick jleich vahaftet!" höre ich eine knirschen. Wer ist an diesen störenden Intimitäten an den Seegestaden schuld? Das naßkalte Wetter dieses Sommers? Das haben wir auch früher schon manchmal gehabt. Nein, die Hauptursache ist wohl die, daß unsere Jugendlichen heute ohne straffe Zucht heranwachsen, seit die neue Freiheit für alle gilt, und daß sie bei geringerer Arbeitszeit mehr Geld als früher für sich verbrauchen. Um vier Uhr nachmittags ist Büroschluß. Um vier Uhr zehn Minuten läßt das Mädel sich treffen. Vor zwölf Uhr bringt der Gent sie nicht nach Hause. Anderen Tages um acht Uhr sitzen beide müde an der Arbeit und warten darauf, daß es wieder vier Uhr wird. Der halbe Verdienst geht auf Schokolade, Zigaretten, Freibadfahrt und Kaffeehaus auf. Unsere alte Waschfrau hat eine achtzehnjährige Tochter, die 3000 Mark monatlich einnimmt und davon der Mutter 20 Mark für Wohnung, 180 Mark für Verpflegung abgibt - Heizung, Beleuchtung, Wäsche frei. Dieses Geld langt nicht einmal für die belegten Brote. Und seufzend verlangt die Alte "bei die teire Zeiten" allmonatlich von uns Lohnerhöhung. So ernähren wir ihre Tochter mit.

Das Unnatürliche unserer Zustände - und anderswo, außerhalb Berlins, mögen sie wohl ähnlich sein - wird von der Masse allmählich begriffen. Es geht ein kaum mehr unterdrücktes Seufzen durch das Kleinbürgertum und selbst die Arbeiterwelt, ein Seufzen nach der alten straffen Erziehung im Elternhause, an der Arbeitsstätte, beim Militär. Ganz besonders nach der Dienstzeit sehnt sich alles trotz der "Nie-wieder-Krieg"-Demonstrationen, die in Berlin bereits - trotz Engagements eines Dutzend stimmgewaltig deklamierender Schauspieler für den Lustgarten - ein jämmerlicher Hereinfall waren. Die Lüge an den Plakatsäulen, daß "alle" großen Nationen mitmachten, wurde nicht mehr geglaubt. In Frankreich und Belgien waren diese Demonstrationen verboten. In England haben die Arbeiter selbst sie abgelehnt, so daß ein Verbot überflüssig wurde. Das bewußt Internationalistische, nur noch in Deutschland vorhanden, zieht selbst in Berlin immer weniger. Um so fieberhafter versucht man, "von oben her" Sinkendes zu stützen. Wenn man Gesetze zum Schutze der Verfassung erlassen muß, dann ist sie nichts mehr wert, sagt Lassalle. Das begreift die Masse allmählich. Aber "von oben her" will man unsere unnatürlichen Zustände uns immer noch als Fortschritt beweisen und aufschwatzen: für die beste Weltgeschichte von 1789 bis 1918 im demokratisch-republikanisch-internationalistischen Sinn ist ein Preis von 150 000 Mark ausgesetzt worden. Ein anständiges Honorar. Das Honorar richtet sich heutzutage immer nach dem Zweck. Wenn ein schlichter Deutscher ermordet wird, so lobt die Behörde nur 10 000 Mark für die Ergreifung des Mörders aus. Aber die Körperverletzung Maximilian Hardens wiegt schwerer. Da wird das Zehnfache für die Auffindung des Täters geboten.

Schade, daß niemand einen Preis für die volkstümlichste Geschichte der Jahre - nach 1918 aussetzte. Man hätte da so etwas Bildkräftiges: der Abstieg der deutschen Papiermark. Nach dem jahrelangen furchtbaren Ringen gegen alle Erdteile, nach einer Zeit, in der wir vom Weltmarkte ausgeschlossen waren und vom Schuldenmachen lebten, wurde die Mark im Auslande immer noch mit 60 Pfennig bewertet. Nach Abschluß der Erzbergerschen Finanzreform galt sie 10 Pfennig. Im Laufe unserer jetzigen Erfüllungspolitik ist sie bis heute auf weniger als einen halben Pfennig gesunken. Und ob das Volk das merkt! Die fabelhaften Valuten aus Ländern, die für die Durchschnittsberliner früher im Monde lagen, stehen heute besser als die deutsche, das ägyptische Pfund auf mehr als 4000 Mark, der siamesische Tikal auf mehr als 200, und ehedem in Berlin oder überhaupt nicht vorhandene Gesandtschaften wie die lettische, die irische, die afghanische, geben rauschende Feste. Daß in der russischen Sowjetbotschaft, Unter den Linden, alles von Silber und Gold und Kristall nur so funkelt und darin auserlesene Getränke perlen, sogar schäumender Cognac von 1846, während im Sowjetkonsulat gleichzeitig eine "russische Hungerausstellung" uns die entsetzlichen Bilder vorführt, darunter im Original ein Brot aus Torf und Rinde, das verwundert den nichtkommunistischen Berliner nicht allzusehr, denn er weiß: das ist alles geraubt und gestohlen. Aber auch in der ganz reputierlichen Diplomatenwelt geht es hoch her, soweit sie nicht - so die litauische - noch mit deutschem Papiergeld verheiratet ist.

Eines der merkwürdigsten Feste, das ich je erlebt habe, haben jetzt die Afghanen gegeben, in einem großen Saal in der Kurfürstenstraße, in dem etwa 800 vergnügte und begeisterte Menschen sich drängten. Außer einigen Deutschen, die im Kriege in Asien gekämpft hatten oder vorher in Afghanistan gewesen waren, außer ferner einigen Herren des unvermeidlichen Auswärtigen Amtes hatte man den ganzen in Berlin vertretenen Orient von China bis Albanien dazu geladen, weiße, gelbe, braune, schwarze Gesichter glitten durcheinander, Trachten aller Nationen von der Straße von Otranto bis zum Beringsmeer tauchten auf - in meinem ganzen Leben habe ich einen so "echten" Kostümball nicht gesehen. Ich habe mich nicht versprochen: Ball; wirklich: Ball. Es wurde Shimmy, Onestep, Jazz getanzt, und zwar selbstverständlich mit Damen, unverschleierten Damen, nicht etwa mit Batschus, wie der Afghane daheim die Knaben nennt, deren Tanz allein die Männer anzieht, denn "drüben" gehören die Frauen, wenigstens die der anständigen Familien, nur in den abgeschlossenen Harem. Meine Dame war ein bißchen zitronenfarbig, stammte aus Kambodscha in Hinterindien, sprach blendend französisch und tanzte wie eine Libelle. Ihr mehr schlitz- als mandeläugiger Gemahl schiebt natürlich Teppiche und behängt dafür seine Frau mit Brillanten. Irgend etwas schieben ja die meisten unter den echten Berliner Orientalen - und der Rest besteht aus Studenten oder Verschwörern. Eine wahrhaft königliche Inderin aus Benares tanzte nicht, sondern hielt nur Cercle ab. Um so ausgelassener waren die deutschen Damen, die von "befreundeten" coloured men hierhergelotst waren, bestenfalls - sagen wir einmal - die Töchter einer Geheimratswitwe, die ein Pensionat für In- und Ausländer unterhält. Man grüßt sie jedenfalls nachher nicht Unter den Linden. Um den deutschen Gästen auch etwas ihnen Gefälliges zu bieten, hatte der afghanische Gesandte außer seinen Landsleuten, die uns asiatisch kamen, unter anderem eine Vortragskünstlerin vom Nollendorf-Theater engagiert. Ich saß gerade in einer Ecke in angeregtem Gespräch mit einem ägyptischen Rechtsanwalt und einem persischen Major, als mir - aber nicht von Tee und Kuchen - übel wurde, denn die Dame krähte gerade ihren lockenden Refrain:

"Ich liebe ja doch nur Eunuchen,
Ich bin ja so schrecklich pervers!"

und ich wurde knallrot, als der Perser dies dem Ägypter ins Französische übersetzte und ein ganz starres Gesicht der mühsam verborgenen Verachtung bekam. Dagegen war der ganze Orient eitel Begeisterung, als die heimischen Schwerttänzer, Tataren in Tscherkessentracht, auftraten. Etwa acht bis zehn engere Landsleute der beiden, im Halbkreis um sie aufgestellt, klatschten zum Schwerterklirren taktmäßig in die Hände. Bald klatschte der ganze Saal mit. Sogar die stark gepinselte Dame aus Wutschang mit den "Lilienstengeln", Stiefelchengröße 22. Aber natürlich war es nur ein Schaukampf. Ich habe den echten einst in Baku am Jussuf-Tage gesehen, wo die Männer mit entblößtem Oberkörper in der Prozession einhergingen und sich in religiöser Ekstase mit den Schwertern bis zum Niederbrechen blutig hieben; diese Wildheit ist freilich in Berlin stark temperiert. Im übrigen hat das Fest, das unsereins bloß als Genießer mitmachte, natürlich seinen politischen Zweck gehabt. Man ist "sich nähergekommen", von dem Beringsmeer bis zur Straße von Otranto, und ein einziges Thema ist aktuell: das Erwachen des Orients! Auch der Gesandte sprach in seiner Begrüßungsrede davon und erzählte, welch unauslöschlichen Eindruck es in seiner Welt überall gemacht habe, daß Deutschland imstande gewesen sei, viereinhalb Jahre lang England und seinen Satrapen standzuhalten.

Der Kampf ist aus. Für ein Menschenalter oder viele liegen wir am Boden. Über uns fahren die Autos der Fremden. Wir sind nur "Eingeborene" in den Augen der Angelsachsen. Ein kluger Amerikaner, der uns wohl will, weil wir das Seelenvolk der Erde seien, sagte mir dieser Tage, gegenwärtig werde Deutschland von den Amerikanern entdeckt. Alles wiederhole sich im Leben, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Vor 70, 80 Jahren sei der Deutsche nach Amerika gegangen, habe unglaublich billig Land gekauft oder eine Werkstatt oder eine Brauerei errichtet und sei schließlich reich geworden. Die später Gekommenen hätten schon ärger schuften müssen und hätten weniger erreicht. Jetzt komme umgekehrt der Amerikaner zu uns und kaufte spottbillig Häuser, Güter, Aktien, und wir würden zu seinen Niggern.

Ich habe mit dem Mann, weil er just so - Berliner Volksleben sehen wollte, eine Käsefahrt durch Berlin gemacht. Käse heißt der bekannte Unternehmer, der zuerst Viere lang, dann im Auto die Besucher Hamburgs durch die Stadt kutschieren ließ. Das gibt's seit einem Jahre nun auch in Berlin. Und neben "Käse" noch "Berolina" und "Elite" und andere solche Fremdenfuhrgeschäfte, auf deren Vehikeln 12 bis 48 Personen und dazu noch ein Erklärer Platz haben. Kostenpunkt für die zweistündige Fahrt 300 Mark. Diese Woche noch. In Hamburg war das schönste für uns Binnenländer, eine Hafenfahrt auf einem Dampferchen, eingelegt. Auch Berlin hat seine Einlage. Nämlich den viertelstündigen Halt vor der Atlanticdiele am Kurfürstendamm - behufs Kaffeetrinkens zu Preisen, bei dem nur den Hochvalutarischen nicht die Augen übergehen. Man darf aber von Nepp nicht sprechen. Nächste Woche kostet das Pfund Kaffee vielleicht 400 Mark, und der Cafetier eskomptiert die Sache eben im voraus. Also die Käsefahrt, meine Herrschaften, ist zum Piepen. Erstens wegen der Völkerschaften. Peng, wie der deutsche Musketier, sagt der Südfranzose, wenn er Brot meint. Und "good" wird zu "gitt" im Munde des Schotten. Und die Russen sprechen wie Juden. Und der Londoner Slang ist da und aus Kopenhagen etwa das, was man in Berlin in der Ackerstraße spricht. Mit einem Wort, es sammeln sich auf dieser Völkerfuhre lauter solche Leute, denen es an der Wiege nicht gesungen ward, daß sie sich einst eine Auslandsreise leisten könnten. Mit souveräner Verachtung, abgesehen von der Trinkgeldszene am Schloß, behandelt sie darum auch der Erklärer. Ist ja so Wurscht, was er sagt. Er hat sich nie die Mühe gegeben, einen Berliner Bädeker durchzulesen. Ein Bankhaus zeigt er uns als Palais der Kaiserin Friedrich, Das Oberverwaltungsgericht nennt er ein Nebengebäude der Technischen Hochschule. Das Hotel Adlon, das wir wenige Jahre vor dem Kriege doch noch als Palais des Grafen Reden kannten, nennt er "den ältesten Gasthof Berlins, aus ganz kleinen Anfängen entstanden, jetzt ein Milliardenunternehmen". Das 1870 von uns eroberte große Festungsgeschütz vom Fort Mont Valérien, das bisher neben der Hauptwache stand und jetzt den Franzosen wieder ausgeliefert werden muß, ist nach ihm "die bekannte Faule Grete aus dem Dreißigjährigen Kriege". Aoh yes, verry interesting. Si si, Signore.

Gott sei Dank hält der Mann einmal seinen Mund. In Charlottenburg im Mausoleum. Drei Jahre lang hatten nur Einbrecher dort Zutritt, weil die Grabstätte der Königin Luise für sonstiges Publikum geschlossen war. Man muß die Monarchisten von so etwas doch fernhalten. Schließlich aber haben die Fremden immer dringender nach dieser Sehenswürdigkeit verlangt, und so ist sie seit einigen Monaten denn wieder für den Besuch freigegeben. Es gibt nichts Weihevolleres in Berlin als dieses Mausoleum mit den schweigenden, ruhenden Marmorfiguren Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise, Wilhelms I. und der Kaiserin Augusta, mit dem machtvollen Engel in magischem blauen Lichte davor undder erschüttenden weltgeschichtlichen Predigt des ganzen Raumes. Irgend jemand hat der Königin ein frisches Veilchensträußchen in die Hände gelegt, so wie man es früher bei uns für zehn Pfennig bekam; das ist mehr als große Orchideenkränze.

Hier kniete vor der toten Mutter König Wilhelm, bevor er 1870 ins Feld zog. Jetzt liegt eine andere Königin mit Luisenschicksal drüben im Antikentempel in Potsdam. Vielleicht holt sich auch dort einer einmal die Kraft zur Vergeltung.
10. August 1922 (Donnerstag).


48

Im Vorort Heringsdorf - Man kratzt sich - Tauentziener Deutsch - Walterchen der Seelentröster mit dem goldenen Herzen - Unsere armen Museen - Behördliche Flaggengala am Verfassungstag - Deutschland über alles!

"Das Leben ist ja sehr angenehm. Aber auch sehr teuer. Man kann es auch billiger haben. Aber dann ist es nicht so angenehm."

Nach dieser sanften Philosophie, die beileibe nicht elegisch ist, fällt der Entschluß, teuer zu leben, unseren Tauentzienern und Kurfürstendammern nicht schwer. Sie haben es ja dazu, ganz gleich, ob wir gewonnene oder verlorene Kriege hinter uns haben, Staatsstreich oder Umsturz, Hausse oder Baisse, denn der Familienvater "liegt per saldo immer richtig". Wer wagt zu behaupten, daß diese Leute dem Mammon dienen? Im Gegenteil, sie verachten ihn grenzenlos, und sie sagen: Geld ist Dreck; man muß es bloß haben. Sie sind ja so bescheiden. Eine "Reise" haben sie sich in diesem Jahre nicht einmal gegönnt. Sie wohnen den Sommer über nur im Vorort. Der Vorort von Tauentzienstraße und Kurfürstendamm heißt Heringsdorf und liegt an der Ostsee. Lieferanten uns sonstiger Pöbel fahren dorthin mit der Eisenbahn, deutsche Dichter und sonstige Idealisten von Stettin ab mit dem Dampfer, aber das Stammpublikum selbstverständlich mit dem Auto. Die Fahrt kostet ja für die Person nur 3500 Mark. Dafür flitzt der Familienvater Sonnabends von Berlin hinüber und kehrt Montags wieder zurück, und in der Woche machen wohl auch mal umgekehrt die Mutter und die Töchter diese Tour. Also was soll ich sagen, Spaß, sage ich, in diesem Vorort bin ich schon lange nicht gewesen, also, sage ich, warum soll ich nicht mal hinfahren? Ich muß doch auch da meine Berliner kontrollieren.

Und, was soll ich sagen, also wahrhaftig, das ganze "tout Berläng" war da. Ein bißchen losgelassener als in Berlin selbst. Man fällt in Urvätergewohnheiten zurück. Man kratzt sich. Man kratzt sich überall. Ich glaube, Heringsdorf ist nur deshalb als Vorort von den Tauentzienern und Kurfürstendammern auserwählt, weil es so furchtbar viele Mücken hat, und die Mücken sind dann der Entschuldigungsgrund für das Kratzen. Um es dabei bequem zu haben, trägt man nicht die neumodisch langen, sondern die vorjährig kurzen Röcke, sogar noch kürzere, nämlich kniefrei, und zwar schon am Vormittag meist aus plissierter leichter Seide, und dann kratzt man sich: am Fußknöchel, an der Wade, am Schienbein, in der Kniekehle - und höher hinauf. Sparsame junge Damen tun es mit der Hand, wobei die hauchdünnen seidenen Strümpfe einigermaßen geschont werden. Verschwenderische junge Damen aber kratzen das linke Bein mit dem rechten Stiefelabsatz oder umgekehrt, und das kostet mitunter zwei Paar Strümpfe täglich. Am Nachmittag, um vier Uhr, saß ich im Hotel Atlantic beim Mokka zum Feifoklocktieh. Da wurde getanzt. Überall in Heringsdorf wird getanzt, morgens, mittags, abends; eine ganze Berliner Motzstraße voll Tanzgelegenheiten gibt es da, lauter Dielen, lauter Bars, auch die "Sommermeisterschaft von Deutschland" ist soeben ausgetanzt worden, wobei leider nur Herr Kuttner vom Hotel Atlantic, in dessen Prachtsälen die Preise geschoben und gewackelt wurden, mit den Unternehmern sich in die Haare geriet: in Flugblättern und Anschlagzetteln erzählen beide streitenden Parteien jetzt dem Publikum, was der eine oder der andere dabei zu viel verdient oder an Ehrenpreisen habe verschwinden lassen. Also es wird überall getanzt, denn dazu fährt man doch ins Bad, und nicht etwa zum Baden. Dieses vermeidet man wegen Überschwemmungsgefahr, denn wenn die reiferen Damen der Heringsdorfer Saison, die meist recht umfangreich sind, ins Wasser stiegen, so würde die gequetschte Ostsee über die Ufer treten. Also, was soll ich sagen, ich sitze im Atlantic und sehe dem Foxtrott zu, aber wahrhaftig, mitteninne läßt eine Dame ihren Tänzer stehen und kratzt sich. Eine andere bleibt nicht stehen, sondern tanzt weiter, aber kratzt sich trotzdem. Salmiak wird in Heringsdorf - neben anderen Goldwerten - weit über Pari gehandelt, aber man kratzt sich doch.

Also, was soll ich sagen, man muß immer hingucken. Auf die Beine nämlich. Die sind rot getupft. Die Scharlachflecken und die gekratzten Striemen gluten durch die Seidenstrümpfe durch. Auch die Herren tragen fast durchweg seidene Socken und Pumps und kratzen sich auch, nur nicht so hoch hinauf, meist nur bis zur halben Wade, besonders unter den Sockenträgern. Ein Herr, der hier zu den üblichen weißen Flanellhosen mit blauem Sakko erschiene, wäre des alten Systems dringend verdächtig. Der Heringsdorfer Gent trägt nur Sakkos aus hellgrauem Cheviot. Oder - immer zur weißen Flanellhose - eine bunte enganliegende Strickjacke mit gelbem Ledergürtel. Bei den Korpulenten macht sie sich besonders forsch. Natürlich sind sehr viele Ausländer da. Am meisten aus slawischen Ländern, aus der tschechoslowakischen Republikei oder aus der galizischen Polackei oder noch von weiter her. Die gewöhnliche deutsche Umgangssprache - Nebbich, Masel, Tinef, Ganef, Meschores, Pofel und so - beherrschen sie natürlich alle, aber bei schwierigen Worten, so bei "gennäddigge Frau", stoßen sie doch an. Die richtigen Tauentziener und Kurfürstendammer erkennt man ebenfalls an einer Spracheigentümlichkeit. Statt "ja" sagen sie immer "gemacht".

"Gehen wir nachher in die Meran-Diele?"

"Gemacht!"

"Könntest du nicht dem netten jungen Wertheimer eine Direktorstelle beim Eija-Film besorgen?"

"Gemacht!"

"Wollen wir Lissy altes Sèvres schenken?"

"Gemacht!"

Zwischen allen diesen gemachten Leuten kommt man sich, wenn man dritter Klasse hergerutscht ist und schon durch Kaffee und Kuchen seinen Tagesetat erschüttert hat, unsäglich klein und verächtlich vor. Aber eine Menschenklasse gibt es in Heringsdorf, noch dazu aus der Pariakaste der Angestellten, die gar keine Ehrfurcht vor den Leuten kennt, die hier täglich die vielen Tausendmarkscheine flattern lassen. Diese Ungebeugten, das sind die Croupiers. In der Strandhalle steht ein Roulette von der Neppsorte. Aus dem Seesteg schwirren, gleich in zwei Pavillons links und rechts, die "kleinen Pferdchen". Allein bei diesen ist der Umsatz so groß, daß die beiden Bankhalter schätzungsweise im Durchschnitt täglich - jawohl, täglich - während der Hochsaison 90 000 Mark verdienen. Ein Spieler, dessen Pferd weder Sieg noch Platz macht, sondern immer in der Rubrik "Ferner liefen" stehenbleibt, fängt an zu murren. Ein vernichtender Blick des Croupiers. Und was sagt der Kerl zu dem Spieler? "Sie können mich noch lange nicht anflapsen, verstehen Sie! Bei mir gibt's gleich Kinnhaken, verstehen Sie!"

Es gibt also noch Erfrischenderes in Heringsdorf außer der so wenig benutzten See. Das hat meinen Mut und mein Selbstbewußtsein wieder gehoben. Trotzdem bin ich programmgemäß nach dem kurzen Kontrollbesuch wieder abgefahren, denn es handelt sich ja nur um eine Abschiedsvisite in der Welt meiner letzten elf Monate. Den einen, der nun kommt, bin ich nicht mehr Berliner; diesen brauche ich, um mich von den Berlinern zu erholen - und wer sie kennt, der wird es mir nachfühlen können. Ich muß hinauf in die ewige Bläue, denn von 2500 Metern an, da weiß ich aus Erfahrung, gibt es keine Mücken mehr, und Tauentziener und Kurfürstendammer nur dort, wo eine Drahtseilbahn hinauffährt. Um diese Bahnen gehe ich meilenweit herum. So kann ich, wenn meine neue Berliner Saison beginnt, neugekräftigt in dieses Narrental zwischen Kreuzberg und Spree wieder hinabsteigen.

Selbstverständlich bleibt vor dem Ferienmonat alljährlich immer noch Unerledigtes liegen. Ich wollte noch so gern zu "Walterchen, dem Seelentröster mit dem goldenen Herzen", der seine Tanzsäle "für die ältere Jugend" in der Holzmarktstraße an der Jannowitzbrücke täglich in Berliner Spätabendblättern anzeigt. Das ist nämlich der Hort der Reaktion. Ich meine: der Reaktion in der Tanzkultur. Dort kennt man keinen Fuchs- und Bärentrott, keinen Tango und keinen Jazz, auch nicht den feierlichen Zeremonialschritt des sogenannten Fedorawalzers, wenigstens seiner ersten Hälfte, sondern nur Tänze, die um 1890 Mode waren, Rund- und Rasetänze, bei denen man in wenigen Touren den ganzen Alkohol buchstäblich ausgeschwitzt hat und mit hämmernden Pulsen, hochrot, taumelnd seiner Dulcinea auf dem Sofa an den Busen sinkt. Das ist etwas für die ältere Jugend der Strohwitwer, der nach Berlin hereingeschneiten Herren "Ökonomen" vom Lande, der noch abenteuerlustigen Geheimen Rechnungsräte und ähnlicher Leute, die "was fürs Herz" brauchen, denen aber die Anknüpfung über Onestep oder gar Shimmy nicht möglich ist: sie haben so etwas nicht gelernt und können den Wunsch danach daheim bei Muttern nicht vortragen, ohne ein wahrhaft tropisches Wortgewitter über alte Esel auf dem Eise zu riskieren. Für sie und ihresgleichen hat "Walterchen, der Seelentröster mit dem goldenen Herzen" - und er hat schon Nachmacher gefunden - einen Tanzbetrieb aufgetan, in dem noch der Rheinländer gedreht und noch im Schlußgalopp durch den Saal chassiert wird. Das sind also sozusagen Tanzmuseen, die aus dem vorigen Jahrhundert das aufbewahren, was damals die Herzen höher schlagen, die Röcke höher fliegen ließ - und diese Museen sind, es ist wirklich unerhört, weit besser besucht als etwa das für Naturkunde oder das für Kunstgewerbe.

In die der Kunst und der Wissenschaft geweihten Museen kommt ja neuerdings, seit wir als Nation bettelarm geworden sind, auch kaum mehr etwas hinein, was nicht schon unter dem alten Regime da war. Eher verschwindet das eine oder das andere. Aus dem Kaiser-Friedrich-Museum haben wir wundervolle alte Altargemälde, einst um hohen Preis von uns gekauft, den Belgiern ohne Entschädigung abliefern müssen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, und der Staat verkauft das eine oder andere Wertstück von dem, was in Jahrhunderten unsere Monarchen ür die Allgemeinheit hierhergestellt haben. Not kennt kein Gebot, sagt man ja wohl. Aber wenn auch in die Museen nichts Neues kommt, so doch auf sie: soviel Geld mußten die Verwaltunegn haben, um sich diesmal zum 11. August eine schwarzrotgelbe Flagge anzuschaffen und hoch über dem Bau zu hissen. Was nur irgendwie staatlich ist, das hat flaggen müssen, um den Verfassungstag zu feiern. Aber das blieb auf diese Welt der Staatlichkeit beschränkt, auf die Bahnhöfe, die Museen, die Postämter, die Schulen, die Ministerien - wir sind eben, wie niedergedrückt ein demokratisches Blatt Berlins schon in er Überschrift eines Leitartikels bekennt, "Das Volk ohne Fahnen". Nicht ein einziges Privathaus war zu entdecken, das geflaggt hätte. Man kann in Breslau zu Ehren Gerhart Hauptmanns in allen Straßen das bunte Tuch flattern lassen, das ist verständlich; man kann irgendwo in Deutschland anläßlich eines Ebert-Besuches das gleiche tun und dazu die Schulkinder Spalier bilden und jubeln lassen - die heute bei solchen Gelegenheiten, wie es einst die verruchte Sitte der Byzantiner bei monarchischen Paraden war, wieder einen schulfreien Tag bekommen. Aber man kann die ganze Nation nicht dazu bringen, eine abänderungsfähige Paragraphensammlung zu feiern. Das Gefühl bleibt leer. Die Franzosen feiern den Bastillesturm, die Engländer den Guy-Fawkes-Day und die Trafalgarschlacht, die Amerikaner den Unabhängigkeitstag. Wir könnten den 18. Januar begehen, an dem nach langer Zerrissenheit die deutschen Stämme in Versailles sich wieder ein gemeinsames Oberhaupt gaben, ein einiges Reich sich schufen, aber unsere ganze Geschichte vor dem Revolutionsnovember soll ja in der Rumpelkammer verschwinden. Seither haben wir nichts Erhebendes erlebt. Das fühlen doch selbst die Berliner. Und so bleibt denn der neue Nationalfesttag in Berlin ein Behördenfeiertag.

Eine große reine Freude hatten wir freilich an diesem Tage, nämlich das offizielle Bekenntnis des Regierenden zu unserem "Deutschland, Deutschland über alles". Auch das gehört zu den Mitteln, die dem alten System entlehnt sind, nachdem man sie zuerst verketzert hat. Ein Volk ohne gemeinsame Hymne kann sich nicht festlich einen. Aber schon am Festabend selbst wurde sie von der Marseillaise überbrüllt. Man will hier nicht "zu Schutz und Trutze" - zu Trutze nun schon gar nicht - zusammenhalten, und auf keinen Fall "brüderlich", denn der Feind steht ja rechts. Man will es nicht. Aber man wird es lernen müssen. Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt - kommandieren unsere wahren Feinde. Das war schon häufig so. Und immer kam dann ein Tag, wo draußen das Volk erwachte und aufstand, wo der Sturm losbrach und auch Berlin mitriß.
17. August 1922 (Donnerstag).



Glossen 43 - 45

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© Karlheinz Everts