"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 10 - 12
3. bis 17. Dezember 1920


10

Die Höflichkeitswoche - Bürgersteig-Disziplin - Vom schönen Geschlecht - Die Zulassung der Frauen zur Börse - Kathinka v. Oheimbs Salons - Der Wandersumpf unter Berlin

Alles fließt, sagt der griechische Philosoph; gebt mir einen Standpunkt, sagt der moderne Relativist. Auch die moralischen, gesellschaftlichen, ästhetischen Begriffe sind nach Land und Zeit und Volksschicht verschieden. "Mein Mann liebt mich nicht mehr," heult die russische Bäuerin, "er hat mich schon lange nicht mehr gehauen!" In einem Knigge des 17. Jahrhunderts - damals kannte man in der besten Gesellschaft noch keine Taschentücher - finde ich die Bemerkung, daß es geckenhaft sei, sich zu schnäuzen, indem man nur einen Finger seitlich an die Nase lege; der solide, anständige Mensch umfasse mit zwei Fingern die Nase und schlenkere dann ab. Wenn ein Münchner mir sagt, ich sein ein "Urviech", so habe ich alle Veranlassung, das als Schmeichelei aufzufassen; sagt ein Berliner mir etwas Ähnliches, so ist es eine gewollte Grobheit. Auch an ein und demselben Ort sind die Anschauungen über gesellschaftliche Formen je nach dem Stande verschieden. Trotzdem hat ein Berliner Zeitungsverlag es unternommen, uns alle nach dem gleichen Maß auf unser Benehmen zu prüfen. Die Berliner Höflichkeitswoche ist da. Wer unter den vier Millionen Berlinern einem der Prüfer gerade in die Arme läuft und sich von seiner liebenswürdigen Seite zeigt, kann prämiiert werden, - und siehe da, ganz Berlin lächelt süß, die Trambahnschaffner umfassen beim Hinaufhelfen mit noch kräftigerem Griff die rückwärtigen Rundungen der Damen, die Schutzleute lassen dauernd ganze Wagenzüge halten, um persönlich irgendeinen alten Herrn über den Fahrdamm zu führen, und aller Augenblicke rempelt einen jemand an, um nur schmetternd "Pardong!" sagen und den Hut vom Kopfe reißen zu können. Über die Preisträger ist schon etliches verraten worden. Die erste Gekrönte war ein Schalterfräulein bei der Post, das, während eine Menge Menschen noch Kette stand, dem Abgesandten der Zeitung, der "nur etwas Geld wechseln" wollte, mit großer Freundlichkeit und unter herzigen Begleitworten für seinen Fünfmarkschein lauter Groschen hinzählte. Leider verschweigt der Bericht, was das wartende Publikum dazu gesagt hat. Unter dieses Publikum werden wohl nicht viele Höflichkeitspreise gefallen sein. Und vor allem hätte der Abgesandte selbst für seine grobe Belästigung versohlt werden müssen; bei der Zeitungsfrau an der nächsten Straßenecke hätte er sich seine Groschen holen sollen, da brauchten dann keine Leute zu warten. Ganz fürchterlich kann es aber werden, wenn die Höflichkeitswoche erst vorüber ist, es sich also "nicht mehr lohnt", den Menschen ein Wohlgefallen zu sein. Dann kommt der richtige Berliner ohne Prämientünche wieder zum Vorschein, jener Berliner, der einem seelenruhig sagt: "Wenn ick eenen aus Vasehen uff de Hiehneroogen trete, vastehste, denn hau ick ihm jleich hinterher eens in die Fresse, ehe er mir dumm kommt!"

Das klingt doch wenigsten herzhaft. Oft ist unsere Höflichkeit zu leerer Form erstarrt, wenn wir den Älteren, den Höherstehenden, die Dame stets rechts gehen lassen, auch wenn das auf dem Bürgersteig die Straßenseite ist, wo die meisten Schmutzspritzer von den vorüberrollenden Wagen kommen. Sinnvoller handelt da der Engländer; er nimmt, wenn er Ehre erweisen will, für sich immer die schlechtere oder gefährdetere Seite, ganz gleich, ob das rechts oder links ist. Die innerlich unritterlichste, unhöflichste Nation ist nach meinen Erfahrungen die französische. Der Franzose hat zwar stets einen Schwall höflicher Worte bereit, aber kaltblütig stößt er die ihm entgegenkommende Dame, wenn sie nicht jung und pikant ist, vom Bürgersteig; und beim großen Basarbrande trat er die Frauen und Mädchen nieder, um nur das eigene Leben zu retten. Unseren Schieberjünglingen traue ich das auch zu; sie lümmeln sich in den Cafés und sind auf den Straßen rücksichtslos.

Oft hört man gerade in Berlin, wo die Massenhaftigkeit der Frau im Erwerbsleben besonders auffält, die Ansicht äußern, jegliche Ritterlichkeit habe in dem Augenblick ihren Sinn verloren, in dem die Frau als Konkurrentin des Mannes auftrete. Das ist in gewissem Sinne richtig. Im Berufsleben müssen wir geschlechtslos sein. Es ist sogar widerwärtig, wenn die schlicht gekleidete Stenotypistin, die in der Arbeit tüchtig ist, kurz angebunden behandelt wird, vor dem seidenbestrumpft daherschwänzelnden kleinen Paradiesvogel aber, der keine Zeile ohne Tippfehler fertigbringt, die ältesten Bureaubeamten die Tür aufreißen. Die Reichshauptstadt mit ihren zahllosen Ämtern und Kriegsgesellschaften birgt ja ganze Armeekorps weiblicher Angestellten. Zum mindesten außerhalb des Berufes, besonders im öffentlichen Verkehr, kann man sich da ruhig seiner Ritterpflicht erinnern. Gegenüber dem schwachen Geschlecht; gegenüber dem schönen Geschlecht. Schopenhauer, der alte griesgrämige Ehekrüppel, fragt zwar höhnisch, warum eigentlich das "schmalschulterige, breithüftige, kurzbeinige Geschlecht" das schöne heiße, und manch einer spricht es ihm noch heute nach. Etwas absolut Schönes gibt es natürlich nicht, und in Geschmacksdingen soll man nicht streiten. Der Zulukaffer hat da ganz andere Ideale als wir. Der chinesische General Yin-Tschang, einst Gesandter in Berlin, der so geläufig berlinerte wie ein Berliner Droschkenkutscher und auch ganz unchinesisch offenherzig war, erzählte mir einmal, der Chinese möge im allgemeinen weiße Mädchen nicht, denn sie hätten einen so unsympathischen Wildgeruch. Und einem Kameraden in der ostafrikanischen Schutztruppe erzählte ein Askari, der in seiner früheren Heimat Menschenfresser gewesen war, man esse lieber Schwarze als Weiße, den diese schmeckten so nach altem Hammel. Also eine Einigung über diese Dinge wird schwer zu erzielen sein. Aber warum wir Europäer das weibliche Geschlecht das schöne nennen, das begreife ich doch: je unähnlicher ein menschliches Wesen dem Tiere ist, desto schöner finden wir es, stellen daher den Nigger mit seinem vorgebauten Gebiß an das Ende der Reihe und an den Anfang die weiße Frau mit ihrem im Gegensatz zum Manne und Tiere ganz haarfreien Gesicht und ihren ganz untierisch zarten und runden Formen. Natürlich gibt es auch da sehnige Exemplare, denen man nicht gern begegnet, Frauen mit Haaren auf der Oberlippe und - Haaren auf den Zähnen, und das sind oft diejenigen, die auch im Berufsleben keine Männerkonkurrenz scheuen. Im Reichstag tobt jetzt schon manche weibliche Ministerialrätin mit gewaltiger Aktenmappe einher und schleudert Blitze aus ehedem so hübschen braunen Augen. Sogar zur Börse, die sich bis zuletzt gegen die Frauenemanzipation gesperrt hat, will ein Gesetzantrag die Frauen jetzt zugelassen sehen, obwohl man dort mehr Nerven braucht, als das "schwache" Geschlecht sie im allgemeinen aufbringt. In Berlin hat es kurz vor dem Kriege eine Frauenbank - von und für - Frauen gegeben, in der von der ersten Prokuristin bis zum letzten Laufmädel alles weiblich war; aber die Bank ist elend in die Binsen gegangen. Die Natur - das sehen wir an tausend Beispielen aus ihrem Reiche - will keine solche Isolierung der Geschlechter. Und im Berufsleben ordnet die Frau nur höchst ungern der Frau sich unter.

Selbst den männlichsten Frauen liegt am meisten die ausgleichende, die Vermittlertätigkeit, die Gelegenheitsmacherei. Es waren immer Frauen, die einen "Salon" hatten, wo Poesie und Politik aufeinandertrafen; so war es in Berlin schon in den Zeiten der Rahel, und so ist es noch heute. Der letzte Salon dieser Art, so sagt man, sei der der Frau v. Hohenhausen gewesen, der literarischen Freundin des Prinzen Georg von Preußen. der als Dramatiker unter fremden Namen ein Mann von Ruf war. Ich habe als junger Mensch in den neunziger Jahren manche Stunde in der geistvollen Gesellschaft dort verbracht. Heute sind es die Salons der resoluten und weniger literarischen als politischen Frau Kathinka v. Oheimb, in denen man sich trifft. Als selbständige Industrielle und als Abgeordnete der Deutschen Volkspartei hat sie Netze mit großer Reichweite. Besonders Demokraten haben neuerdings hier ihr Stelldichein, und mit ihnen werden Pläne über die kommende "große" Mittelpartei besprochen. Knappe Zeiten waren der Entwicklung solcher Salons immer günstig, - und heute, wo man wieder für ein Stündchen "nach" dem Abendbrot eingeladen wird und nicht mehr "zu einem Teller Suppe", der sich dann zu sechs Gängen auswuchs, und wo die Gastereien überhaupt nachlassen, hat man ja immer mehr Zeit.

Gesumpft wird trotzdem in Berlin genug. Wie sollte es auch anders sein? Wir leben sogar auf einem Sumpf. Der lange vor dem Krieg begonnene und nun ganz schläfrig weiter betriebene Bau der neuen Untergrundbahn Nord-Süd verschandelt die ganze Friedrichstraße wohl noch auf Jahre hinaus. Die Verzögerung erklärt sich nicht nur durch den Geldmangel bei den ungeheuerlich gestiegenen Kosten, sondern auch durch die Geländeschwierigkeiten. Man muß mit den wasserdichten Tuben, den Tunnels für die Bahn, nicht nur verkapselte unterirdische Flüßchen, die von Stein und Asphalt bedeckt sind, kreuzen, nicht nur losen Schwemmsand, sondern auch den Ursumpf des alten wendischen Fischerdorfes Berlin, das wandernde Moor, dessen furchtbarem Druck keine Betonwände Widerstand zu leisten vermöchten. Man hat nun die Tube so gelegt, daß das Moor unten und oben freie Passage hat, um seine Wanderung von Ewigkeit her in Ewigkeit fortzusetzen. Man spricht in der internationalen Welt so viel von der Kühnheit der Newyorker Schnellbahnen. Aber die Herren drüben haben es leichter, denn dort ist alles harter Fels. Auf dem Berliner Sumpfboden gibt es größere und in der Erfüllung auch dankbarere Aufgaben.
3. Dezember 1920 (Freitag)


11

Kinder in Not - Zehn Millionen Flaschen Schampus - Minnas Steuerabzug vom Seidenkleid - Spekulierende Jungens - Briefmarkenauktion - Die Kommerzienrätin am Spieltisch - Mama Goldhahn - Rosenkavalier und Wurschtmaxe

"Kinder in Not!" schreit es uns von allen Mauern entgegen; Käte Kollwitz, der aus den oberen Ständen aus innerem Herzensdrange niedergestiegene Kunstheiland des Proletariats, hat das Plakat gezeichnet, auf dem eine verzweifelte Mutter uns ihr rhachitisches abgemagertes, den Kartoffelbauch vorstreckendes Kind entgegenhält. Das Bild erinnert etwas an die grelle Art des Bettelns, wie man sie bei unkultivierten südländischen Völkern gewohnt ist, wo Aussätzige vor allem Volk ihre Fingerstummel weisen. Sie wird nun auch bei uns allgemein. Der Bettler in Feldgrau an der Straßenecke im Zentrum zeigt auch bei etlichen Grad Frost sein offenes Bein mit Lupus-Verheerungen. Wir sind abgestumpft, und so muß man denn auf uns mit stärksten Nervenreizen wirken. Das Bild "Kinder in Not!" soll die Nerven erschüttern, nicht das Gemüt rühren. Man rechnet auf den reichen Schieber, man muß auf ihn rechnen, der sich durch eine große Gabe dann innerlich von dem Grauen loskauft. In Berlin hat außerdem ein ganzes Heer von Schulbuben an den drei Kinderhilfstagen mit Sammelbüchsen jeden Vorübergehenden umstellt, alle Kaffeehäuser und Weinstuben abgeklappert, sich in die Wagen der Untergrundbahn gedrängt. Es war eine freiwillige Massenorganisation mit recht gutem Geldergebnis. Aber sie beschränkte sich im wesentlichen auf die Innenstadt und auf die vornehmeren Wohnviertel. Im äußersten Norden und Osten tauchte nur hin und wieder ein verängsteter Schulbube auf, denn er bekam - wir haben wirklich sonderbare Zeitgenossen - viel böse Worte zu hören, wurde verjagt und gelegentlich mit Wegnahme der Sammelbüchse bedroht. Der Haß ist größer als die Not. Man will keine Wohltätigkeitsopfer der Bourgeoisie. Die roten Tageblätter warnen vor der Kinderhilfe, als sei sie ein Attentat auf das Volk.

Das macht die Idealisten, die immer wieder in Liebe sich neigen möchten, schließlich mutlos. Wenn irgendwelche Fremdlinge etwas für uns tun, so ist das Benehmen der Beschenkten ganz anders. Die Amerikaner haben durch ihre Munitionslieferungen in der Zeit ihrer Neutralität und durch ihre Unterstützung der englischen Blockade das ganze Elend über uns gebracht, aber für ihre gelegentlichen Spenden küßt man ihnen fast die Hände. Die Engländer sehen zu solchem Liebeswerk an unseren Ärmsten scheel und schreiben in Londoner Blättern, die Verschwendung in Deutschland sei derart maßlos, daß wir wirklich keine Hilfe brauchten; vor dem Kriege seien 6 Millionen Flaschen Schaumwein jährlich bei uns konsumiert worden, und jetzt seien es 10 Millionen. Erstens wäre darauf zu erwidern, daß der meiste Schaumwein nicht in Berlin und anderen Großstädten des inneren Deutschlands getrunken wird, sondern - auf unsere Kosten - im besetzten Westen von den Engländern, Belgiern und Franzosen, und zweitens sind die in London veröffentlichten Zahlen falsch; in Wirklichkeit hat Deutschland früher 12 bis 13 Millionen Flaschen Schaumwein jährlich verbraucht, und heute sind es nur 7 Millionen Flaschen. Das Schlemmen mancher Schichten unseres Volkes, die früher sparsam lebten, das Schlemmen selbst bis in die Arbeiterkreise hinein hat aber noch einen besonderen Grund. Die Steuerschraube, zu stark angetrieben, ist überdreht; jedermann wirft sein Geld hinaus, weil Sparen ja doch keinen Zweck mehr habe. "Wenn ich gut lebe", sagt mir ein Autokutscher aus unserer Straße, "so bekomme ich keine Tuberkeln; alles andere ist Quatsch." Unser Dienstmädchen hat 1914 in ihrer ersten Stellung auf dem Lande überhaupt noch keinen Hut gekannt, sondern Sonntags ein Kopftuch getragen. Als wir ihr aber im Juli dieses Jahres die Geschichte mit den 10 Prozent Steuerabzug erklärten, da ging sie hin, kaufte sich ein seidenes Kleid und sagte: "Nun kann der Staat mir davon 10 Prozent abziehen; wenn er will, bis zur halben Wade!" In einem aufstrebenden Gemeinwesen mit gesunden und geordneten Verhältnissen legt man für seien alten Tage oder für die Kinder zurück. So war es früher bei uns. Heute fühlen sich die Sparer, da die Mark nur noch 5 ½ Pfennig wert ist, betrogen, und niemand übernimmt eine Gewähr dagegen, daß die Mark vielleicht einmal auf ½ Pfennig oder noch tiefer sinkt. Überdies wird der Sparer geschröpft und als Kapitalist verketzert; unser Volk hat vergessen, daß Kapital selten etwas anderes ist als nur - aufgespeicherte Arbeit. Manchmal ist es freilich Schiebergewinn, aber gerade solche Gewinne werden zumeist weniger erfaßt als das ehrlich erarbeitete und daher leichter nachweisbare Geld.

Das Spekulations- und Schieberfieber greift immer noch weiter um sich und verheert sogar unsere Jugend. Der Unterprimaner, der Arbeitsbursche, der "einen Waggon Seife an der Hand" hat, ist in Berlin häufiger vertreten als die Öffentlichkeit ahnt. Da alle Welt vom Gelde spricht, denkt schon der Hosenmatz in Mark und Pfennig. Vor den Schaufenstern hört man da die erbaulichsten Gespräche, ganz in dem Rotwelsch der Großen. "Haste Meinung für Jupiterhölzchen? Da is noch was bei zu machen!", piepst solch ein Knirps. Neulich fiel mir bei unserem Quartaner die dickgefüllte Hosentasche auf. Ich habe eine Schwäche für Quartaner-Hosentaschen und frage also, was darin sei. "Och, nichts!" Ich drehe also um und dabei kommt ein Schnupftuch zum Vorschein, ein Taschenmesser, ein Kompaß, zwei krumme Nägel, ein Ende Bindfaden, ein halber Apfel, eine tote Maus und eine verknüllte Briefmarke. Der Junge greift zuerst nach der Marke, einer einfachen blauen Zwanzigpfennigmarke. "Die wird mal sehr wertvoll," sagt er, "heute gibt es nämlich nur noch grüne!"

Die Briefmarkensammler - die "Philatelisten" - haben eine große Woche hinter sich. Im Künstlerhaus in der Bellevuestraße hat der größte Berliner Händler in dieser Branche eine Auktion veranstaltet, die rund 4 Millionen Mark ergab. Die Preise für Briefmarken sind - anscheinend in allen Ländern - noch rapider gestiegen, als die amerikanische Valuta, und werden zu einem Spekulationspapier wie Pomona oder sonstwelche Diamanten-Aktien, da die Hausse ständig ist. Für eine deutsche Kolonialmarke mit Schiffchen, großes Format, 1-Mark-Wert, die es doch zu vielen Tausenden gibt, zahlt man heute, ob sie "nur" aus Deutschsüdwestafrika oder "gar" von den Karolinen stammt, 380, 450, 600, 920, 1100 Mark. Ungeheuer stark ist die Nachfrage aus dem Ausland. Auf der Briefmarkenauktion im Künstlerhause wurde zwar, merkwürdigerweise, noch deutsch ausgerufen, aber im Hintergrunde unter dem Publikum hörte man zumeist französisch oder englisch sprechen. Man führt uns alles aus, was wir überhaupt noch an "Werten" besitzen, und wenn es gestempelte Markenwerte sind. Solche Sensationen, wie sie es noch in unserer Jugend gab, daß etwa eine alte Sachsen, 3 Pfennig rot, auftaucht oder die erste Mauritius, sind heute freilich kaum noch zu erwarten, aber es gibt noch viele ungehobene Schätze, namentlich von Briefmarken deutscher Einzelstaaten aus der Zeit vor 1866. Alte Familientruhen werden um und um gekehrt. Nicht einmal Großvaters Liebesbriefe sind mehr heilig, sondern müssen ihre Umschläge hergeben. Manche Familie hält sich ja heute nur noch dadurch über Wasser, daß sie der Urväter Hausrat durchstöbert und verklopft. Der Markenhandel für die großen Häuser war nie so bequem wie jetzt, da nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot groß ist. Da kommen Generalstöchter und Grafensöhne und fragen stockend, ob man Briefmarken auch kaufe, werden dann ins Privatkontor gebeten und kramen ihre Sächelchen aus, sind dann aber sehr erstaunt, daß sie zunächst "für Abschätzung" 1 bis 5 Prozent des geschätzten Wertes bezahlen sollen, der ihnen nur bei Verkauf wieder erstattet wird, und daß schließlich der Wert nur als ein geringer Bruchteil dessen sich erweist, was sie nach den Preisen in der Schaufensterauslage angenommen haben. Da geht ihnen dann die tiefe Manchesterweisheit auf: der Mensch ist ein zweibeiniges Wesen, dazu bestimmt, billig einzukaufen und teuer zu verkaufen. Sie selber aber werden diese Höhe der Menschwürde nie erklimmen.

Aus den Händen der Verdiener flattert das Geld freilich auch schnell wieder davon. Der Umlauf ist rasend, der Sturmlauf korybantisch. Am wildesten erst in den Spielklubs. Gespielt wurde ja zu allen Zeiten; laut Tacitus haben schon die alten Deutschen tüchtig geknobelt, aber den richtigen Hochbetrieb gab es früher doch nur außerhalb, in Monte oder Ostende. Eine der eifrigsten auswärtigen Spielerinnen war die dieser Tage verstorbene Kommerzienrätin Jandorf, die am grünen Tisch mit Chips und mit ihren eigenen (freilich brillantenbehängten) Knochen klapperte, während der Herr Gemahl stundenlang hinter ihr stehen und dauernd "blaue Lappen" oder "Bräunlinge" aus der Brusttasche seines Frackes ziehen mußte. Ich habe mir das einmal, fern von Deutschland, beim Baccarat angesehen, bis mir schwindlig wurde. Der Mann selbst spielte nicht. Er war durchaus die "einnehmende" Persönlichkeit in dem Kaufhaus, das unter dem Namen Jandorf in ärmeren Stadtvierteln den sogenannten Pofel an das Publikum vertreibt, wobei wohl der Hauptverdienst herausschaut, und unter dem Namen Kaufhaus des Westens in der Tauentzienstraße die Ansprüche der Verwöhnten befriedigt - bis zur Luxus-Manicure herab. Ganz toll ist das Spielen in Berlin seit der Revolution geworden. Früher beschränkte es sich hier auf die paar alten Klubs, in denen vornehmlich die Großkonfektionäre vom Hausvogteiplatz ihr Geld rollen ließen und wo vielfach das Deutsche noch mit sehr östlichem Akzent gesprochen wurde. Heute sind alle Stände von der Spielwut ergriffen, und die Zahl der Spielnester ist Legion. Das Geschäft ist sehr lukrativ. Die Polizei hebt fast täglich das eine oder andere Nest aus, aber sie sind nicht tot zu kriegen. In ihrer Villa in der Burggrafenstraße ist dieser Tage wieder Mama Goldhahn von den Grünen gefaßt worden; sie feiert demnächst ungebrochen das Jubiläum ihrer fünfundzwanzigsten Aushebung. In der Bamberger Straße, in der Knesebeckstraße, in der Taubenstraße, in der Prager Straße sind andere Klubs jüngst aufgeflogen, aber nur, um sich anderswo wieder niederzulassen. Und genau das gleiche, nur etwas weniger pompös, finden wir in Berlin N. und in Berlin O. und in Berlin j.d. - in "Berlin janz draußen" -, denn spielen tun eben alle.

Und wenn die Gerupften dann herauskommen, so werfen sie auch die letzten Zwanzigmarkscheine weg. In der Gegend der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche steht die ganze Nacht hindurch bis an den Morgen "der Rosenkavalier", wie man ihn getauft hat, und macht mit seinem ambulanten Blumenladen das beste Geschäft. In der guten alten Zeit kannten wir nur einen solchen nächtlichen Geschäftsmann, der im sogenannten "lateinischen Viertel" stets an Ort und Stelle war, wenn Bruder Studios aus der Kneipe trat: der Wurschtmaxe. Eines der letzten Originale Berlins, der Wurzelsepp der Reichshauptstadt. Er hatte seine richtige Fleischerschürze um und den Messingbottich mit heißen Wienern vor dem Bauch, aber den Zylinder auf dem Kopf, das Monokel im Auge, den Schnurrbart ungarisch gezwirnt und stets ein Witzwort oder ein von den Kunden aufgeschnapptes lateinisches Zitat auf den Lippen. Wer nach Jahren als alter Herr wieder mit dem Studentenvolk kneipte und den Wurschtmaxe sah, dem ging das Herz vor Erinnerungswonne über. Er schenkte Maxe wohl auch einen Taler. Aus diesen Talern hat der Wurschtmaxe sich eine Villa im Vorort gekauft und ist dort Gemeinderat geworden; sein Geschäft mit heißen Wienern aber hat er kurz vor dem Kriege aufgegeben, als sein ältester Junge das Assessorexamen bestanden hatte.
10. Dezember 1920 (Freitag)


12

Im Palais Ebert - Ein menschenscheuer Präsident - Die regierende Landesmutter - Feste der Hochfinanz - Der Erbprinz zu Fürstenberg verlobt sich - Abbruchsverkauf beim Fürstenkonzern - Der Fall Friedmann - Quäkerschokolade mit Schweineschmalz - Quartaner ohne Leibwäsche

Der Palazzo Wilhelmstraße 72/73 mit seinem großen Ehrenhof, der von zwei Löwen aus Sandstein und von zwei Sicherheitswehrleuten im Schafspelz bewacht wird, sieht barock und verschneit und friedlich aus; man könnte meinen, hier hause der Bruder Friedrichs des Großen. In Wirklichkeit residiert in diesem Schlosse Friedrich Ebert, der für die Zeit der Nationalversammlung gewählte vorläufige Landesvater, dessen Seßhaftigkeit für solide Grundsätze zeugt. Nicht immer machte das Palais Ebert einen so friedlichen Eindruck wie heute; häufig genug war es von Stacheldrahtgewirr und "spanischen Reitern" gesperrt, hinter denen im Ehrenhof ein Geschütz aufgefahren war, denn der Teufel traue den lieben Landeskindern. Besonders denen aus der Kaste des Reichspräsidenten selbst, aus dem sogenannten Proletariat, das jede Obrigkeit hängen möchte, selbst wenn es eine unzweifelhaft rote und republikanische ist. Dem braven, von seiner Partei auf das Abstellgeleise Wilhelmstraße 72/73 verschobenen Friedrich Ebert, der nur gerne und reichlich einen guten Happen ißt, bleibt leider das Schicksal der Könige, ein Klatschobjekt zu sein und heimlicher Orgien bezichtigt zu werden, nicht erspart. Dabei besucht er nicht nur nicht die zitierten Bars, sondern ist eigentlich überhaupt nie aus seinen vier Wänden herauszukriegen. Den losen Mäulern muß also das Handwerk gelegt werden, und in den letzten Wochen hat es mehr Reichspräsidentenbeleidigungsprozesse gegeben, als früher Majestätsbeleidigungsprozesse, gegen die die demokratische öffentliche Meinung sich so gern empörte. Übrigens hatte man früher "oben" doch noch mehr Humor. Als der alte Matthias v. Köller noch Minister war, hatte ein Versammlungsredner ihn ein Rindvieh genannt. Der rote Agitator bekam einige Tage später eine Vorladung zur Polizei und ging mit dem Gefühl hin, jetzt werde es wegen Beleidigung des Ministers des Innern sicher Gefängnis geben. Auf dem Amt aber wurde dem aus allen Wolken fallenden Manne lediglich folgendes eröffnet: "Der Herr Minister läßt Ihnen sagen, daß er nicht Ihrer Ansicht ist, daß er ein Rindvieh sei; Sie können gehen."

Heute macht man es sich leichter; auch das Regieren mit Hilfe der Staatsanwaltschaft lernt sich. Nur müßte es besser bezahlt sein. Außer seinem an sich ja ganz anständigen Gehalt, von dem er dienstlich nichts auszugeben braucht, bezieht Ebert eine Zulage von nur 100 000 Mark jährlich für Repräsentationszwecke, und da hat ein bürgerlicher Abgeordneter, der Zentrumsindustrielle Klöckner, Erhöhung auf 200 000 Mark beantragt und dafür Zustimmung bis zu der äußersten Rechten gefunden. Man muß dem Reichspräsidenten doch die Möglichkeit geben, ein bißchen was herzumachen. Weniger verständlich aber ist es mir, daß man ihm neben seinem freien Auto, für das er allein schon rund 100 000 Mark Benzin- und sonstige Betriebskosten etatmäßig verbuchen darf (das alles, wie auch Wohnung, Möbel, Bedienung, frei neben seinen Barbezügen), nun auch noch freie Eisenbahnfahrt gewähren will, während der Kaiser jeden durchfahrenen Kilometer selber bezahlen mußte. Aber Friedrich Ebert wird davon freilich kaum ausschweifenden Gebrauch machen. Er ist kein ruheloser Geist. Er hat auch nicht das Bedürfnis nach steter Anregung im Verkehr mit allen Ständen, nach dem Hinauskommen aus der Wolke seiner ständigen Umgebung. Er bleibt zu Hause und nährt sich redlich und erhält sich seinem Volke gesund und spaziert allenfalls, von seiner Dogge und seinem Fox begleitet, zur Verdauung gelegentlich ein wenig in dem Park hinter seinem Palais. Er ist fast menschenscheu, weil er nicht wünscht, daß man ihm wieder nachsagt, er habe den richtigen "Benimm" einer Majestät noch nicht, seitdem er sich in Badehosen so hat photographieren lassen, daß jedermann sein Lebendgewicht taxieren kann. So ist er denn heilfroh, daß seine kluge und taktvolle Frau ihm einen Teil der unumgänglichen öffentlichen Pflichten abnimmt. Die kann's. Auch in der bürgerlichen Welt herrscht nur eine Stimme darüber. Wie sie neulich die Komiteedamen der Kinderhilfe empfing, für jede einzelne von ihnen ein huldvolles und immer wieder anderes Wort hatte, das hatte Schick. Und nichts Parvenümäßiges. Frauen sind in solchen Dingen unglaublich gelehrig; bei Frau Ebert ist das Sichbewegenkönnen aber nicht angelernt, sondern kommt von innen heraus, und sie fällt in dieser Beziehung gegenüber mancher ihrer Exzellenzen-Genossinnen aus dem roten Lager, die die "Knotilde" nicht abstreifen können, sehr angenehm auf. In dem ganzen Hause herrscht eine sympathische Stille dank der ruhigen Sicherheit dieser Frau, wenn man natürlich auch bei einigem bösen Willen etliches Komische registrieren könnte. Von den Kindern macht der älteste Sohn, der aber auch noch ein Jüngling ist, die in diesen Kreisen übliche politische Karriere; er ist trotz mangelhafter Bildung Schriftleiter an einem roten Käseblatt in der Provinz. Der zweite ist noch zu Hause. Die Tochter, die früher in einem kaufmännischen Geschäft getippt hat, hatte eine Zeitlang den "sozialen Fimmel", schwärmte für Frau Zietz und wollte sich dem Volksdienst als Schulpflegeschwester widmen, läßt sich jetzt aber in Vaters badischer Heimat als Bibliothekarin ausbilden. Natürlich versuchen gewisse Kreise Berlins, sich an die Wilhelmstraße 72/73 heranzukristallisieren, und die Hofbeamten Friedrich Eberts können sich vor Einladungen zu rauschenden Festen bei Bankier Sobernheim und ähnlichen Leuten kaum retten; aber Ebert selbst drückt sich, wo er kann.

In der Welt der Berliner Bankiers von altem Reichtum und der Revolutionsgewinnler von neuen Millionen geht es überhaupt hoch her. Von einer republikanischen Schlichtheit in römischem Sinne ist da nichts zu merken. Die Frau des Kommunisten Herzog filmt sich Hunderttausende zusammen. Der Spartakist Cassirer macht vom Klubsessel aus in Weltumsturz bei französischem Champagner. Der Bolschewist Kopp bewohnt eine Riesenflucht prächtiger Säle. Was aber früher "Gesellschaft" war, das ist aus der Öffentlichkeit verschwunden. Da hat sich dieser Tage der älteste Sohn des Fürsten zu Fürstenberg, der 29jährige Erbprinz Karl Egon verlobt. Das wäre früher für Berlin ein Ereignis gewesen; heute aber erfahren es nur die Allernächsten. Die Fürstenbergische Familie bot früher - aber gänzlich ohne eigenes Zutun - den Geschichtenträgern allerlei Stoff. Der Mann, den man auf hundert Photographien in der Uniform der Marineinfanterie im Gefolge des Kaisers sah, gelegentlich auch im Adlerhelm der Gardes du Corps, sei der eigentliche Berater Wilhelms II., und noch mehr Einfluß habe auf den Kaiser die Fürstin selbst. Bei einer Schüssel knuspriger Whitebaits zwischen zwei Tröpfchen Zitrone habe ich mir einmal von einem Generaladjutanten des Kaisers, der ihn aus jahrzehntelangem täglichen Verkehr kennt, erzählen lassen, daß das Gegenteil die Wahrheit sei: das freundschaftliche Verhältnis zu den Herrschaften in Donaueschingen erkläre sich gerade daraus, daß sie den Kaiser nie mit Politik behelligten. Besonders die resolute, frische Fürstin, eine Österreicherin, der immer nachgesagt wurde, sie wirke hochmütig-reaktionär, ist ein gänzlich unpolitisches Naturkind gewesen. Als sie 1906 in Donaueschingen einzog, strich sie mit der Hand über die Möbel und sagte angesichts aller fürstlichen Beamten: "Nun hob'n mir die große Erbschaft g'macht, und i trau mi net amal auf die Stühl' z' sitzen!" Die große Erbschaft ist derweil arg zusammengeschmolzen. Der sogenannte Fürstenkonzern, zu dem auch die Hohenlohes gehörten, hatte mit seinem auch industriellen, auch mobilen Millionenvermögen Großes vor, wollte eine Art Fugger des 20. Jahrhunderts werden, kaufte Eisenwerke, Schiffe, Banken, Warenhäuser, Hotels. Aber das Geldverdienen liegt diesen Leuten nicht im Blute. Ihre Unternehmungen wurden schließlich so "saniert", daß ihnen der Atem ausging. Der von ihnen vorgeschobene Wolf Wertheim machte Pleite. Ihr großzügigster Plan, aus Emden ein zweites Hamburg zu machen, scheiterte an Ballins Einflüssen und an der Interesselosigkeit des preußischen Staates. Die letzten Anteile des Eisenwerkes Kraft hat jetzt die Firma Müller & Co. in Rotterdam-Antwerpen aufgekauft.

Man wird mutlos und man zieht sich zurück. Gegen den Ring, der von Trotzki in Petersburg bis zu Schwab in Newyork reicht, kommt man doch nicht auf; da fehlt unsereins die Erfahrung und Vererbung von Jahrtausenden. Nur in den reinen Höhen deutscher Wissenschaft macht der Geschäftsgeist noch zuweilen Fiasko. Das ganze medizinische Berlin spricht augenblicklich mit Genugtuung davon, daß der Tuberkulose-Friedmann endgültig abgetan sei. Er fand einst in Schildkröten säurefeste Stäbchen, die er für echte Bazillen hielt, obwohl es, wie jetzt Professor Möller in der Medizinischen Gesellschaft nachgewiesen hat, nur sogenannte Grasbazillen waren, harmlose Dinger, ohne jede Heilwirkung als Gegengift. Es mag etwa 1909 oder 1910 gewesen sein, als Professor Friedmann als "Wohltäter der Menschheit" nach Amerika fuhr, von voraneilender gutgemachter Reklame eingeführt. Schon an der Freiheitsstatue vor dem Newyorker Hafen umschwärmten ihn die kleinen Blitzdampfer der Reporter. Im Triumph zog er ein, verdiente Unsummen, verschwand dann aber ebenso schnell, als ein Milliardärssohn ihm unter den Händen starb, während in den vorhergehenden Fällen - suggestive Selbsttäuschung der Patienten - von Besserung und Heilung gesprochen worden war. Für Amerika war Friedmann seither erledigt. In Deutschland fristete er, zuletzt dank Sklarz und Hänisch, seinen Ruhm weiter, bis er nun zusammengebrochen ist. Der einzige, der durch das Friedmann-Mittel "gesundgemacht" wurde, ist Friedmann selber. Im übrigen wütet die Tuberkulose in Deutschland schlimmer denn vor zwanzig Jahren; und alles, was in der Zwischenzeit vernünftige Hygiene erreicht hat, ist durch die harte Not der Gegenwart, durch Unterernährung und mangelhafte Bekleidung im bösen Winter wieder zunichte gemacht worden.

Die Sammlungen für die Kinderhilfe allein in Berlin werden trotz allen Widerbellens der radikalen Roten wohl an die 10 Millionen Mark ergeben, wenn nicht mehr. Auch die Quäker verdoppeln ihre Anstrengungen. Leider gehen sie dabei so pedantisch vor, daß man glauben könnte, sie seien nicht praktische Amerikaner, sondern Deutsche. Jeder Teller Suppe "muß" die vorgeschriebenen Prozente an Fett, Kohlehydraten, Eiweiß usw. enthalten; so kommt es, daß den Kindern auch in die süße Schokoladensuppe, die sie einmal wöchentlich bekommen, ein großer Klecks Schmalz getan wird, und das widersteht allmählich. Eine Portion Bratkartoffeln wäre ihnen lieber. Auch sonst läßt der Appetit bei der ewigen Wiederholung der dicken Suppen nach, und es bleiben halbvolle Kessel stehen; man sollte sich bei der Zusammenstellung weniger nach den Tabellen von Nahrungsmittelchemikern, als nach dem Rat erfahrener Hausfrauen richten. In ganz Deutschland werden die Kinder unter 14 Jahren jetzt nach der Rohrerschen Formel gemessen und gewogen, damit die Quäker die nötigen statistischen Unterlagen bekommen. In einer Schule - nicht etwa einer Volksschule im Norden, sondern einem Gymnasium im westlichen Vorort - geschah dies dieser Tage auch. Von 21 Quartanern (in anderen Klassen war es ähnlich), die sich bis auf Unterhose und Strümpfe zum Wiegen entkleiden sollten, weigerten sich vier standhaft und zuletzt unter Tränen. Sie - besaßen überhaupt kein Unterzeug, trugen Hose und Sweater auf bloßem Leibe! Und das sind Kinder aus sogenannten gebildeten Kreisen. Ich habe die 21 Quartaner zum Sonntag nach Weihnachten zu allerlei Kurzweil zu uns eingeladen. Da ostpreußische Verwandte vom Lande mir die nötige "Wagenladung Stullen" zu diesem Kinderfest zugesagt haben, konnte ich mir die Freude der Einladung leisten. Fassungsloses Staunen rundum. "Wir sind also eingeladen und brauchen unser Abendbrot wirklich nicht mitzubringen?" Solch eine Revolution in den Kindergemütern war schon lange nicht da; als Kommentar zu dem Diktat von Versailles verdient sie in die Kulturgeschichte zu kommen. Aber doch sehen alle diese Jungens hell und freudig in die Zukunft, keilen sich, wie die Väter und Großväter es getan, schwärmen für alle großen deutschen Helden und werden nie in ihrem Leben Pazifisten. Erst recht nicht. Die Winsler im Walde von Compiegne werden sie einst verachten und hassen.
17. Dezember 1920 (Freitag)



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© Karlheinz Everts