Untergegangen.

Ein Lebensbild aus der Weltstadt. Von Paul Bliß.
in: „Illustrirtes Sonntagsblatt,”, Beilage zum Wochenblatt für Zschopau, vom 29.03.1896, Nr. 13, S.102


Ungefähr sieben Jahre ist es her, da traf ich ihn zum erstenmal; in meinem Stamm-Caféhaus war's. — An allen Abenden, die ich dort zubrachte, sah ich ihn dann wieder, — manchmal kam er erst so gegen Mitternacht.

Es war ein schöner Knabe, elf Jahre mochte er damals sein, aber für sein Alter sehr groß und stark, — und wenn er durch das dichtbesetzte Café ging, immer von einem Tisch zum andern, allerorten seine Blumen feilbietend, mit bittendem Blick und unschuldigem Lächeln, dann wurden alle Gäste aufmerksam, und jeder scherzte mit ihm, und lachte und schenkte ihm etwas, und im Umsehen waren oft seine Blumen verkauft.

Der Knabe interessierte mich gleich damals, als ich ihn zum erstenmal sah; — so jung noch und zart, und mußte schon allein in die Nacht hinaus, schutzlos und wehrlos — und darum folgte ich ihm einmal, als er eben wieder seinen Vorrat verkauft hatte und nach Hause gehen wollte.

Draußen in der ersten Querstraße holte ich ihn ein; ich rief ihn zu mir, liebevoll und milde, und nahm ihn bei der Hand.

Er ließ alles das geschehen, hatte nicht die geringste Furcht, ja, er war sogar freundlich, scherzte und lachte in einem fort und erzählte mir mit sorglos heiterer Miene, daß sein Vater früher eine große Kneipe gehabt hätte, o, sehr groß, und viele Kellner, und jeden Tag immer voller Gäste. Aber dann hätte der Vater angefangen zu trinken, erst merkte mans zwar noch nicht sehr, aber so nach und nach wurde es immer toller, bis es dann mit einmal zu Ende war. Ein Schlaganfall kam; aus wars. Dann wurde alles verkauft, heraus kam aber herzlich wenig, weil eine Unmenge Schulden da waren. Na, und nun gings bald mehr und mehr abwärts. Verwandte waren keine da, und die Bekannten zogen sich bald so nach und nach zurück, weil die Mutter mit niemand Frieden halten wollte. Und dann eines Tages kam die Not. Arbeiten konnte die Mutter nichts, mochte vielleicht auch nicht, war immer sehr bequem und that immer noch sehr nobel, trotzdem nichts zu essen da war. Aber singen konnte sie ganz famos, lauter lustige, tolle Lieder, — na, und das ernährte sie dann. Sie trat auf als Sängerin in Café chantants. —

Der Knabe lachte laut auf, und trällerte eine leichte Melodie, wie er sie von der Mutter gehört hatte.

So gingen wir eine Weile zusammen. Plötzlich stand er still, und deutete auf die Kirche, an der wir eben vorüberkamen.

„Ist das wahr, was mir früher mal meine alte Amme gesagt hat, daß die ungehorsamen Kinder nicht in den Himmel kommen?” begann er.

„Ganz gewiß ist das wahr.”

„Und was geschieht mit den artigen, braven Kindern?”

„Aus braven Kindern werden gute Menschen, und den guten Menschen hat man immer gern, denen gehört der Himmel.”

Da sah er mich mit seinen großen schwarzen Augen glückstrahlend an, ließ seinen kleinen Korb auf den Arm rutschen, und reichte mir seine Hände; „dann will ich auch immer brav sein.”

Und ich beugte mich nieder zu ihm und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn, und streichelte ihm Haar und Backen.

„Ach, das ist schön,” jubelte er glücklich, „zu Hause küßt mich niemand auf die Stirn.” — Dann schmiegte er sich eng an mich, faßte meine Hände, hielt sie krampfhaft fest, und begann leise zu weinen, und sprach dabei immer leise, wie zu sich selbst: „Ich möchte auch ein braver Mensch sein.”

So gingen wir weiter. Ich überlegte, ob ich den kleinen Kerl irgendwo in eine Pension geben sollte, für seine Erziehung und Ausbildung zu sorgen, damit er nicht unterginge in diesem entsetzlichen Dasein, das er bisher hatte fristen müssen. Ja, der kleine Kerl mußte gerettet werden, ich beschloß, für ihn zu sorgen.

Da auf einmal drang ein schriller Ton an mein Ohr, noch einer, und noch einer, und dann hörte ich den widerlichen Gesang von heiseren Frauenstimmen und dazwischen rohes Auflachen von betrunkenen Männern.

Auch dem Knaben war das nicht entgangen. Er horchte gespannt auf. Da plötzlich stand er still, und über seine Züge, die eben noch milde und gütig waren, huschte nun ein aufflammendes Verstehen; unheimlich, fast dämonisch wild zuckte es aus den schwarzen Augen; starr sah er mich an, zerrte dann und zog an meiner Hand so lange, bis er frei war. Und nun rannte er nach dem Lokal, aus dessen geöffneten Fenstern der Gesang ertönte.

Ich wollte ihn halten, — vergebens.

Er stand schon vor dem Fenster und winkte mir zu.

Ich kam heran und sah durch die Fensterspalten in das Lokal, und ich saj unter all den Leute da drinnen auch eine hagere Person im tief ausgeschnittenen roten Sammetkleid, mit übermäßig stark gepudertem Gesicht. — Ein ekelhaftes Bild.

„Das ist meine Mutter, — so, und nun adieu.”

Er reichte mir die Hand und wendete sich dem Eingang des Lokals zu. Vergebens versuchte ich ihn zurückzuhalten; ich erinnerte ihn an sein Versprechen von vorhin, alles umsonst — er war wie umgewandelt, war wie mit unsichtbaren Mächten hingezogen nach jener Stelle, woher der Lärm kam.

„Dort ist meine Mutter, dorthin gehöre auch ich.”

Damit riß er sich los und verschwand in dem Lokal.

*           *           *

Seitdem sind sieben Jahre verflossen. Tag für Tag bin ich in das Café gegangen, habe oft die Nacht hindurch bis zum dämmernden Morgen dort gesessen, den Knaben aber habe ich seit jenem Abend nicht wiedergesehen. —

Da, eines Abends, ich sitze auf meinem gewöhnlichen Platz, lese mein Journal und kümmere mich um keinen Menschen, da höre ich mit einmal neben mir eine Stimme, die ich kenne. Ich schaue mich um. Er ist es, der schöne Knabe von jenem Abend. Aber aus dem Knaben ist ein schmucker, strammer Bursche geworden, hochgewachsen und schlank, kräftig und gesund. Er ist nach der neuesten Mode gekleidet und hat ein patentes, fesches Mädchen am Arm.

O, er ist ein ganz reizender Bursche geworden; man kann es dem Mädchen nicht verdenken, wenn sie sich in ihn vergafft hat.

Er kennt mich nicht wieder, er ist an mir vorbeigegangen und sitzt mir nun gegenüber — so kann ich ihn jetzt mustern.

Er ist nun ungefähr achtzehn Jahre. In der That, seine Figur und sein Aussehen ist schmuck für einen Jünglimng seines Alters. Aber da, an der Hand, was ist das? Da blitzen ja Steine, echte Steine. — Himmel, da zuckt mir ein Gedanke durchs Hirn — er wird doch nicht — aber nein, warum auch gleich das Schlechteste immer vom Menschen denken — nein, nein — er hat vielleicht gewonnen in der Lotterie, oder sonst irgend was anderes, nur das eine, das Schreckliche, nur das nicht denken. Aber soviel ich mich wehre und sträube gegen diesen Gedanken, es ist umsonst, ich komme nicht mehr los davon. Denn je mehr ich den jungen Mann da vor mir anblicke, desto klarer wird es mir, daß seine Naivetät, seine Unschuld von damals fort ist und statt dessen liegt nun ein Zug von Frechheit und Cynismus, von roher Sinneslust und wilder Leidenschaft auf dem Gesicht — ja, ja, ich täusche mich nicht, es ist Wahrheit, fürchterlich ernste Wahrheit: er war verdorben. — —

Da wird die Thür geöffnet und ein großer, starker Mann tritt ein, und kommt langsam näher, und späht sich um, mit ernstem Gesicht. Und plötzlich bleibt sein Blick haften auf meinem Gegenüber.

Dann tritt der Wirt des Lokals an den Mann heran, dieser flüstert ihm ein paar Worte ins Ohr, der Wirt schreckt zusammen und sieht sich um nach dem eleganten, jungen Herrn. Und der große, starke Mann beruhigt den erschreckten Wirt mit einem Blick und einer Handbewegung, dann geht er auf mein Gegenüber zu, spricht ihn an, leise, ohne Aufsehen zu erregen, holt dann eine gelbe Marke heraus, zeigt sie dem jungen Mann und fordert ihn auf, mitzukommen.

Auch dieser schreckt zusammen, wird todblaß und zittert am ganzen Körper, und aus den Augen zuckt es auf, als suchten sie noch eine letzte verzweifelte Rettung.

Aber der Große hat diesen Blick verstanden, schnell nimmt er den Arm des jungen Elegants in den seinen und nun verläßt er mit ihm, ohne Aufsehen zu erregen, das Lokal. — — —

Am nächsten Tage bringen die Zeitungen die Nachricht, daß man einen noch sehr jungen, aber sehr gefährlichen Hochstapler festgenommen hat, ebenso auch seine Mutter, die ihm Hehlerdienste geleistet.

So ist er denn also untergegangen im Strudel der Weltstadt.

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