Träume.

Skizze von Paul Bliß
in: „Lodzer Rundschau”, Unterhaltungs-Beilage, vom 28.02.1912


Sie war das einzige Kind eines alten Landpfarrers, und da sie die Mutter früh verloren hatte, war sie von Jugend an einsam gewesen und fast nur auf den Umgang mit ihrem alten Vater angewiesen. Zwar hätte sie im Dorfe und auch auf dem Gutshofe Gespielinnen und Freundinnen genug finden können, aber sie hatte sich niemals anzuschließen vermocht, sie fühlte und empfand anders als die jungen Mädchen, die sie kennen lernte, und auch ihre Bildung, dank ihrem alten Vater, war tiefer und reicher als die der Gespielinnen. So blieb sie einsam und fast nur allein mit ihrem Vater.

Natürlich war man im Dorfe und auf dem Gutshofe nicht sonderlich erfreut darüber und schalt sie stolz und eingebildet, und da sie sich infolgedessen nur immer noch mehr von jeder Gesellschaft fern hielt, erfand man allerlei böse und oft recht häßliche Geschichten, um sie zu kränken.

Sie aber lächelte nur immer dazu, und wenn der alte Vater kam, ihr Trost zuzusprechen, daß sie sich nicht darüber ärgern sollte, dann antwortete sie auch ihm nur mit demselben würdevollen Lächeln, — nein, all das konnte sie nicht kränken, dazu stand sie zu hoch über all dem Gerede, aber bitter weh tat es ihr, daß ihre Menschenverachtung dadurch immer zunahm, und daß sie immer mehr fühlte, wie sie an diesem Platze vereinsamen werde.

Einen Trost gab es freilich für sie, der alte Vater. Für ihn allein lebte sie, um seinetwegen duldete sie alles, ihm wollte sie die letzten Jahre seines Lebens verschönen. Sie war nicht nur die Tochter, sie wurde ihm eine liebe, treue Freundin, die ihn hegte und pflegte, und mit der er über alles sprechen konnte.

Aber sie war 21 Jahre und hatte noch nie geliebt.

Ihr Wuchs war schlank, doch kraftvoll, ihr Gesicht war nicht hübsch, aber interessant, ihr kluges Auge konnte auch manchmal träumen, und dann leuchtete eine verzehrende, brennende Sehnsucht daraus hervor, ein Sehnen nach etwas, das sie ahnte, das in ihr lebte, nach etwas Wunderbarem, Schönem, für das sie keine Worte fand, auch keine finden wollte — — und dann konnte es kommen, daß sie die Hände in den Schoß legte und leise zu weinen begann, — süße, selige Empfindungen durchschauerten sie, die Sinne waren wie umnebelt, und die Phantasie führte sie fort in ein Traumland,, in nie gekannte Gefilde voll Seligkeit und prangender Schönheit.

So fand sie manchmal der alte Vater. Dann legte er ihr die welke Hand auf den Scheitel und küßte ihre Stirn und sagte mit milder Stimme: „Laß nur, mein Kind, auch du wirst das Glück noch einmal finden, erhalte dir nur dein reines Herz, das allein gibt die Seelenruhe.”

Und die Tochter sah ihn an mit großen fragenden Augen. Das Herz pochte ihr, und in den Schläfen hämmerte das Blut, und aus den Blicken brannte eine stumme Frage.

Aber es wurde nichts mehr gesprochen.

*           *           *

Der Frühling war da. Wie über Nacht hatte der warme Regen junge Triebe und grüne Halme in Unzahl hervorgezaubert. Ein lauer Wind wehte über die Heide und trug einen würzigen Duft heran von umgepflügten Äckern, von neuem Werden und Entstehen. Und die Sonne schien beinahe schon warm.

Langsam ging die Pfarrerstochter durch das Feld. Wohin sie sah, immer dasselbe keimen und Gedeihen, und blendender, goldiger Sonnenschein, — es war eine Freude zu leben!

Sie kam an eine Wiese; tausende von kleinen Primeln und Sternblumen blühten, und an den Grashalmen funkelten gltzernde Perlen.

Träumend stand sie still und sah auf all die Pracht, die so ein sonniger Lenzmorgen hervorzaubert, und ihre Blicke schweiften weit, weit in die Ferne.

Da hörte sie Schritte neben sich. Sie drehte sich um. Neben ihr stand ein junger Mann. Sie erschrak leicht und wollte weitergehen. Der Mann aber zog höflich den Hut, grüßte mit Anstand und sprach sie an.

„Ich habe wohl die Ehre, Fräulein Walter?”

Sie nickte und sah ihn fragend an.

„Mein Name ist Kersten,” stellte er sich nun vor, nahm eine militärisch stramme Haltung an und schlug die Hacken zusammen, „ich habe mir soeben die Ehre gegeben, dem Herrn Pfarrer, Ihrem Herrn Papa, meinen Besuch zu machen, — ich bin der neue Privatförster des Gutsherrn, — seit vier Tagen im Amt, — wenn Sie gestatten, gnädiges Fräulein, daß ich ein Stückchen mit Ihnen gehen darf.”

„Oh, ich bitte,” sie sagte nichts weiter, und sie sah ihn an. Ein schöner Mann, dachte sie unwillkürlich. Und sie fühlte, daß sie leicht errötete.

Sie gingen nebeneinander. Er sprach von dem prächtigen Wald und dem reichen Wildbestand, den er hier gefunden, so daß er hoffen dürfe, sich hier recht wohl zu fühlen.

Er sprach fast allein. Sie war einsilbig und merkte, daß sie unsicher war.

An der nächsten Wegkreuzung empfahl er sich.

Und sie ging allein weiter. Vor ihren Augen flirrte und flimmerte alles. Noch immer hörte sie seine Stimme, und es war ihr, als ginge er noch immer neben ihr hin. Und während sie so langsam weiter schritt, umgeben von der Flut goldigen Sonnenlichtes, umfächelt von dem linden Hauch, der den Lenz ins Land brachte, merkte sie, daß in ihr etwas Neues war, ein Freudegefühl und eine frohe Hoffnung auf viele Sonnentage. Und fröhlich ging sie weiter.

Als sie nach Hause kam, erzählte ihr der Vater von dem Besuch des neuen Försters: „Ein netter mensch, gefällt mir recht gut, nur ein wenig zu schneidig, soll übrigens ein Schwerenöter sein, hat mir der Inspektor eben erzählt, — der hat mit ihm zusammen gedient.&rdquuo;

Die Tochter sagte nichts zu alledem.

*           *           *

Seitdem war der Förster oft Gast im Pfarrhaus: Er spielte mit dem alten Herrn Schach und hatte für die Tochter jedesmal eine neue Aufmerksamkeit. Dem Pfarrer war er ein angenehmer Gesellschafter geworden, und Sophie sah ihn lieber kommen als gehen. Sie hatte ihn längst in ihr Herz geschlossen und fand nichts dabei, wenn er sich manchmal einen Scherz mit ihr erlaubte. Sein frisches, keckes Wesen hatte sie bald gefangen genommen, und der Ruf seiner vielen Abenteuer machte ihn bei ihr noch viel interessanter. Sie verhehlte sich keinen Augenblick, daß sie ihn gern hatte, und da seine Aufmerksamkeiten und seine Blicke jeden Tag deutlicher wurden, mußte sie glauben, daß auch er sie liebe. Der Gedanke daran machte sie leicht erschauern. Es war die Erfüllung ihrer heißen Sehnsucht, es war der glühende Wunsch, den sie heimlich mit sich herumtrug. Was sie in kühnen Träumen erhofft, sollte nun Wahrheit werden. Sie liebte und wurde wieder geliebt.

So kam der Sommer ins Land.

An einem Spätnachmittag machte Sophie einen Spaziergang. Sie hoffte, dort den Förster zu treffen. Es war nichts verabredet, aber sie fühlte, daß er kommen würde.

Und sie täuschte sich nicht. Nach einer Viertelstunde schon kamn er ihr entgegen.

Er reichte ihr die Hand, und als sie seinen Gruß erwiderte, nahm er ihre Hand und küßte sie.

Schweigend duldete sie es. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

Arm in Arm gingen sie durch den blühenden, singenden Wald. Und er sprach kosende Liebesworte zu ihr.

Sie ließ alles geschehen, sie ging wie in einem seligen Traum. Alles rings um sie herum sang und jubelte ihr zu. Sie war die Königin. Ihr gehörte das Glück der Welt.

Unter einem blühenden Baum war ein lauschig verstecktes Plätzchen. Dorthin führte er sie. Und willig folgte sie ihm. Sie wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt.

Als sie auf der Bank saßen, zog er ihren bebenden Körper an sich und küßte sie.

Wortlos, in stummer Seligkeit saß sie da. Verweht war Zeit und Raum, das Sonnenland ihrer Träume umfing sie.

Da plötzlich sah sie auf und gewahrte in seinen Zügen ein überlegenes, ja ein fast spöttelndes Lächeln.

Und da mit einem Schlage erwachte sie aus ihrem Traum. Blitzschnell stand die Gegenwart vor ihr. Das mahnende Wort des Vaters erklang in ihrer Seele.

Mit einem Ruck war sie frei und stand auf.

Erstaunt sah er sie an, aber als er ihr glühendes Gesicht sah, lächelte er wieder so spöttelnd überlegen und versuchte, sie von neuem an sich zu ziehen.

Sie aber stieß ihn zurück und entfloh mit schnellen Schritten.

Und hinter ihr her erklang ein kurzes, hartes, spöttisches Lachen.

Daheim angekommen warf sie sich aufs Bett und weinte bitterlich — — — ihr Taum war zu Ende.

*           *           *

Die Blätter fielen. Der Sommer ging zu Ende.

Der Förster kam nicht mehr ins Pfarrhaus. Er blieb von selbst weg, denn er ging jetzt auf Freiersfüßen. Eine reiche Bauerntochter war ihm verlobt.

Als der Pfarrer seiner Tochter die Verlobungskarte zeigte, lächelte sie nur und sagte: „Viel Glück!”

Sie konnte lächeln. Der Sturm in ihr war vorüber. Jetzt war sie frei und um eine große, wenn auch bittere Erfahrung reicher.

Ende September kam ein jüngerer Amtsbruder des alten Herrn, ein braver, sympathischer Mann. Sophie kannte ihn schon. Der Vater hatte ihr Andeutungen gemacht, weshalb er kam.

Er hielt um ihre Hand an.

„Ist es dein Wunsch, Vater?”

„Mein Kind, ich möchte dich versorgt sehen und in guten Händen wissen. Der Hellwig ist ein braver, guter Mensch. Du wirst glücklich mit ihm leben, — aber drängen will ich dich nicht.”

Sophie überlegte. Der Vater hat recht. Sie kannte den jungen Pfarrer, man durfte ihm vertrauen, er war ein einfacher, stiller Mann, herzensgut.

Sie wurde sein Weib.

Schon im November machten sie Hochzeit.

Es kam alles, wie sie es vorausgesehen hatte. Ein einfaches, stilles Heim, — ein Tag wie der andere, — ein guter, weichherziger Mann, der sich leiten ließ und mit allem einverstanden war, was sie tat und anordnete.

So lebten sie ruhig und zufrieden, und Sophie vergaß, was einst geschehen war.

Da kam die Frühlingszeit wieder, und alles grünte und duftete in prangender Schönheit.

Sophie saß allein im Garten und schaute träumenden Auges in all die blühende Herrlichkeit, und weit fort trugen sie ihre Träume, weit fort in ferne, ferne Tage — — und da, berauscht von all dem süßen Duft, halb betäubt fast, da erwachte mit einemmal wieder was so lange tot und vergessen war, — — — starr, mit träumenden großen Augen saß sie da, — alles, alles kam wieder, — all der heimliche Schmerz, all das stille, verhaltene Drängen, all die uneingestandene wilde Sehnsucht nach starker, stürmischer Liebe, — — — und vor ihres Geistes Auge stand er wieder, der starke, wilde Förster, der Mann, der Mann, den sie einst so heiß geliebt hatte in all seiner wilden Kraft und Schönheit — — —

Starr mit weit aufgerissenen Augen saß sie da und blickte ins Blaue, — ihre Lippen zusammengepreßt, ihre Hände in einandergekrallt, und auf der Stirn perlte der Angstschweiß.

Da plötzlich stand ihr Gatte vor ihr. Erstaunt blickte er sie an. Ganz ratlos war er. Endlich fragte er zart und weich: „Frauchen, was hast du denn nur?”

Da schrak sie jäh zusammen. Zu Ende war der Traum.

„Fehlt dir etwas, Frauchen?” fragte er noch einmal weich.

Im Nu war alles fort, fort, wie weggewischt, weit, weit fort.

Und sie stand auf, reichte ihm die Hand, und mit ganz leiser Wehmut antwortete sie: „Mir fehlt nichts.”

Dann ging sie stumm an ihm vorüber ins Haus.

Erstaunt sah er ihr nach. Er verstand sie nicht. Und leise, wie bittend rief er: „Sophie.”

Da wendete sie sich um, sah ihn lange an, und als er dann mit ausgebreiteten Armen zu ihr hintrat, umfing sie ihn mit einem heißen, langen Kuß . . . .

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