Ein Erinnerungsblatt von Paul Bliß.
in: „Riesaer Tageblatt und Anzeiger” vom 09.08.1924
Vor meinem Hause stehen fünf Lindenbäume, prächtige Stämme, hochgewachsen und weitverzweigt. Einer meiner Vorfahren, der Begründer unseres Besitztums, hat sie einst gepflanzt, und jeder Nachkomme hat die Verpflichtung gehabt, sie zu hüten und zu pflegen. So sind sie gediehen und gewachsen, immer sorglich gehegt und gewahrt, so haben sie viele Generationen unserer Familie überdauert, haben sehen müssen, wieviel himmelstürmende Freude schon durch diese Bäume geschallt ist, und wieviel getäuschte Hoffnungen man zu Grabe getragen hat. Ein ewiges Auf und Nieder, ein endloser Wechsel. Sie allein sind die alten geblieben, ein Wahrzeichen aus früheren Zeiten, hoch emporragend und gewaltig, Prachtwerke der Natur, die alles überdauern, alles, alles.
Auch meine frühesten, schönsten Jugenderinnerungen knüpfen sich an diese Linden. Hier habe ich als Knabe gespielt; hier saß mein Mütterchen, wenn sie mir Märchen erzählte; hier lauschte ich auf das Schöne, Neue, das meinen erstaunten Kinderaugen sich auftat; hier ließ ich mich einlullen durch das heimliche Raunen, das durch die grünen Laubkronen flüsterte; hier träumte ich von meinen kühnen Zukunftsplänen, sah mir die Welt und den Himmel offen daliegen. Damals — wie ein leiser verträumter Klang berührt es mich, von fern her, von den Gestaden der Vergessenheit, weit, weit hinter mir.
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Die Linden blühen . . .
Ich bin eben heimgekehrt von der Weltreise und staune nun alles Bekannte mit freudetrunkenen Augen an. Es scheint mir alles noch viel schöner, viel traulicher, als es ehedem war. Dies unsagbare süße Wohlempfinden, das der Heimatszauber ausübt, wenn man drei Jahre fort war! Das legt sich auf Sinne und Nerven, das umschmeichelt mit kosender Zärtlichkeit, nimmt so vollständig gefangen, daß ich für nichts mehr klare Gedanken habe, daß ich dasitze und mich von diesen traumhaften Empfindungen einlullen und mich zurückführen lasse in die Jahre der großen, sorglosen Glückseligkeit.
Wie im Traume zieht alles an mir vorüber, tausend kleine Einzelheiten und Erlebnisse aus der Kindheit; wie von linder Berührung wachgerufen, erstehen in mir wieder all die Torheiten, die ausgelassenen Streiche des wilden, ungestümen Knaben, und immer begleitet mich die große, stolze Gestalt der Mutter, die liebe, gute, die mit fürsorglicher Zärtlichkeit mich schützt, mich leitet, aber niemals meinem wilden Treiben Einhalt gebietet; ach, es ist doch eine Lust, solch eine Jugend verlebt zu haben! Man hat von frühester Jugend an schon das Kraftgefühl: du wirst ein Mann! Du fühlst die Kraft in dir, den Kampf mit der Welt aufzunehmen! Und dies Gefühl macht uns lebensfroh und mutig, so daß man gewappnet in die Welt hinaustritt, daß man keiner Gefahr achtet, nur immer tapfer weitergeht, froh und frei, mit starkem Herzen seinem Ziel entgegen.
Und nun wieder daheim, das Wandern hat ein Ende. Jetzt gilt es, zu zeigen, was ich kann. Bald übernehme ich die Wirtschaft. Der Vater ist tot, und die Mutter wird müde. Ich bin der einzige Erbe, auf den unser Besitz übergeht.
Wie ich mich darauf freue, nun endlich mein eigenes Haus zu haben, mein eigenes Feld zu bebauen!
Ich muß meine Kraft brauchen, es lebt in mir der Drang nach Arbeit, nach Schaffenslust, ich muß zeigen, daß ich ein würdiger Erbe meiner Vorfahren bin, muß nicht nur erhalten, was auf mich überkommen ist, ich muß es auch vermehren, verbessern — Arbeit! Arbeit! die brauche ich, denn lange genug haben meine Kräfte brachgelegen.
Und wie ich mir mein Haus gemütlich machen werde! Das soll eine Freude sein.
Eine schmucke Hausfrau werde ich mir suchen, ein liebes, kluges, tüchtiges und gesundes Weibchen, das mir die Sorgen von der Stirne küssen wird, das mir tatenlustig an die Hand geht, und während ich auf dem Felde nach dem Rechten sehe, wird sie im Hause walten mit liebvoller Fürsorge: die Frau am Herd, der Mann aufs Pferd.
Wie schön ist das Leben! Ihr lieben, alten Linden, die ihr eure duftigen Blüten mir in mein Zimmer hineinstreckt, ihr sollt Zeuge sein, wie ich verwirklichen werde, was mir vorschwebt, ihr, die ihr meinen Vorfahren so oft Schatten und Labsal gespendet, ich liebe euch, denn ihr gehört ja zu uns, ihr seid die Schutzgeister unseres Hauses.
Soweit ich schaue, alles mein Eigentum, meine Felder, meine Wiesen und Wälder! Ein frischer Erdgeruch dringt zu mir her, Geruch vom umgepflügten Acker, kräftig und anregend, und ein würziger Duft von dem reifenden Getreide, — mein, mein ist das alles! Ich bin der Herr auf diesem Grund und Boden! Ach, das ist ein herrliches Gefühl!
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Die Linden blühen . . .
Ein Jahr später. Ich bin nicht mehr allein; was ich gesucht mit sehnendem Verlangen, ich hatte es gefunden: ein Mädchen, das ich liebhabe, sehr, sehr lieb.
Eine Gespielin meiner Jugend, des Pastors einzige Tochter, achtzehn Jahre, schlank gewachsen, mit lieblichem Gesicht, mit blonden Zöpfen und blauen, treuen Augen, — einen wunderbaren Zauber strahlt ihre Gestalt aus, der alles Gute in uns aufrüttelt und allen hehren, edlen Gefühlen neue Nahrung gibt, — sie habe ich mir erkoren, und gestern abend, unter unseren Lindenbäumen, habe ich es ihr gesagt, daß sie mein Weib werden müsse, mein liebes, herziges Weib.
Ach, diese wunderbare Stille, die rings um uns herrschte! Kein Laut, kein Lüftchen regte sich; das Gesinde war zum Tanz gelaufen; ein alter, halbtauber Schäfer nur noch im Hof; und sie und ich allein, lustwandelnd unter den Lindenbäumen, allein in liebendem Gekose. Der Mond war aufgegangen, und meine lieben, alten Linden spendeten wunderbare Düfte.
Und als ich es ihr sagte, wie unendlich lieb ich sie habe, da ging ein Raunen durch die alten Bäume, ein heimliches Flüstern, das uns beide erzittern machte, wie wenn eine Stimme meiner Vorfahren von oben herab unseren Bund segnen wolle.
Wortlos lehnte sie sich an mich, und im überschäumenden Gefühl meiner Kraft, meines Glückes, schloß ich ihren zitternden Körper in meine Arme, und so in stummer, heißer Liebe fanden unser Lippen sich, so schwuren wir uns Treue, wortlos, aber Brust an Brust, treue Liebe bis zum Tode.
Das war gestern abend. Und heute nun, wie ich durch meine Felder gehe, komme ich mir vor wie ein König, der sein Land besieht, und alles in sonnigen Glanz getaucht; schöner, reiner kann kein Herrscher seine Macht empfinden, als ich es jetzt erlebe; — eine endlose Weite dehnt sich vor mir, ein Meer von leuchtender Zukunftsfreude, — mir ist das Herz so weit und die Brust so übervoll, daß ich etwas Großes, etwas Erhabenes tun möchte, das mich hinweghebt über mich selbst, in reine Gefilde mich führt, wo aller Hader und Kleinlichkeit aufgehört hat, wo eins nur lebt: die ewige, große Liebe.
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Die Linden blühen . . .
Wieder ein Jahr später. Sie ist mein liebes Weib geworden. Unsere Ehe ist ein endloses Glück. Jeder Tag bringt uns neue Freuden. Wenn ich vom Felde heimkomme, abgearbeitet und matt, dann empfängt sie mich mit einem lieblichen Lächeln, küßt mich mit heißer Liebe und lehnt sich an mich, daß ich sie umfasse und aufs neue ihr sage, wie lieb ich sie habe.
Und gestern abend hat sie mir das trauliche Geheimnis ins Ohr geraunt, das den Gipfel unseres Glückes krönt, — wir werden bald nicht mehr allein leben.
Ich weiß nicht das Gefühl zu schildern, das mich durchbebte, als ihre Worte mir verständlich wurden; eins weiß ich nur, daß ich ihren schlanken Körper fest in meine Arme schloß, daß ich zahllose Küsse auf ihre bebenden Lippen preßte, und daß wir so in stummer Glückseligkeit lange, lange verharrten.
Wir sahen nichts mehr und hörten nichts mehr. Zeit und Raum waren verwischt. Eine silberdurchflutete Helle umgab uns, und süße Wunderdüfte meiner lieben alten Linden berauschten uns die Sinne, — es war wie in einer Märchenwelt, alles schön, alles gut, und wir zwei so unaussprechlich glückselig, daß es jetzt kein größeres Glück für uns mehr geben konnte.
Die Nacht darauf habe ich nicht schlafen können. Tausend Gedanken beschäftigten mich und ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Leise schlich ich mich hinaus, um den süßen Schlummer meines geliebten Weibes nicht zu stören, schlich mich hinaus zu meinen alten Linden, und dort, in heiliger Nachtstille, begann ich Pläne zu machen, neue Zukunftspläne, wie ich meinem Erben das Leben angenehm gestalten könne, wie ich ihn sicherstellen, ihn schützen könne vor des Lebens Bitternis und Unbill, auf daß er einen bequemen Weg finde, ein Leben voll Heiterkeit und Sonnenschein; ach, es ist mir ein so wonnig neues Gefühl gewesen, daß ich nun weiß, für wen ich arbeiten kann, daß ich nun bald jemand haben werde, den ich in die Tradition unserer Familie einweihen, dem ich all die hehre Schönheit dieser Welt offenbaren kann!
Dann mußte ich lächeln über meine Fürsorge. Ich machte Pläne für die Zukunft wie ein träumender Knabe, rechnete mit Dingen, die noch weit, weit fort lagen, ein rechter Utopist.
Aber das Herz war mir ja so voll, und all mein Denken war doch nur auf diesen einen Gegenstand gerichtet! Das alles mußte sich doch erst ausleben, bis ich wieder meine Alltagsruhe finden konnte.
Als ich dann später zurückging in unser Zimmer, fand ich mein kleines Frauchen schlafend. Das Fenster stand halb offen, ein grüner Lindenzweig grüßte herein, und der Mond spendete sein mattes Licht. Ich trat an ihr Lager, hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn, und hatte nur den einen heimlichen Wunsch, daß alles so bleiben möge, wie es bisher gewesen war.
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Die Linden blühen . . .
Ein paar Jahre sind vergangen. Es ist Dämmerstunde. Ich sitze am Fenster, die beiden Hände in das Haar gewühlt. All meine Ruhe ist hin. Ich bin wie niedergeschmettert.
Eben ist der Arzt gegangen. „Keine Hoffnung mehr,” das waren seine letzten Worte.
Mein Weib liegt im Sterben.
Ich kann den Gedanken nicht fassen, daß ich sie verlieren soll. In wahnsinniger Angst und Erregung jagt mir das Blut durch die Adern. Der Schmerz hat mir alle Kraft geraubt.
Da liegt sie nun in ihrer bleichen Schönheit, halb schon gebrochen durch das wütende Fieber der letzten Tage. Kaum merklich hebt sich die Brust.
Und das hübsche Gesicht verklärt durch leise Wehmut, die Hände so blaß, daß man jede Ader durchschauen kann; — ach, ich könnte aufschreien vor wahnsinnigem Schmerz, daß ich ihr keine Hilfe bringen kann, daß ich dulden muß, wie sie so langsam dahinsiecht.
Alles ist Halbheit im Leben, armselige Kreaturen sind wir, die wir uns Ebenbilder Gottes nennen, — eins nur ist ewig, die Natur, die unerbittliche, sie schafft, um wieder zu vernichten, und was dahinter ist, das faßt unsere Schulweisheit nicht.
Es ist Nacht geworden. Ruhelos wandere ich umher, durch das ganze Haus, weiter und weiter; ich suche etwas und weiß doch nicht, was ich suche, durch alle Räume, vom Boden zum Keller, ich suche und suche und finde es nicht.
Totenstille. Das Gesinde schleicht auf den Zehen. Alles lautlos, heimlich. Meine Mutter sitzt und weint. Ich aber kann nicht weinen, in meiner Brust brennt eine rasende Angst, die mir den Atem benimmt.
Mitternacht. Ich sitze unter meinen alten Linden und denke, was nun werden soll, und ich finde keine Antwort, keinen Ausweg. Dumpf und schwül ist die Luft. Ein Gewitter zieht herauf. Schon zucken die ersten Blitze und grollt der Donner. Die Blätter erzittern im Wind, wie ein Schauer rieselt es durch das Laub. Und dieser Schauer durchrieselt auch mich. Zum ersten Male im Leben empfinde ich Furcht vor dem Gewitter. Eine grenzenlose Oede, eine namenlose Traurigkeit befällt mich, wenn ich an die Zukunft denke. Und ich umklammere den Stamm einer Linde, Hilfe heischend, daß das Unheil sich wenden möge.
Plötzlich zuckt ein Blitz auf, ein Donnerschlag hinterher, und prasselnd stürzt der Regen nieder.
Ich bin wie gelähmt vor Schreck, sitze wie gebannt auf meinem Platz und starre in fürchterlicher Ahnung nach dem Zimmer, in dem mein krankes Weib liegt.
Der Wind hat das angelehnte Fenster aufgestoßen und spielt nun mit der weißen Gardine, — gespensterhaft flattert sie hin und her . . . .
Da erfaßt mich ein Grausen. Ich fühle den kalten Hauch, der mich umweht, geisterhaft, — der Tod! der Tod!
Ich raffe mich auf, schleppe mich ins Haus, und nun stehe ich an ihrem Lager und streichle ihre kalten Wangen und küsse ihre gebrochenen Augen, zum letzten, letzten Male.
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Die Linden blühen . . .
Ihr süßer Duft berauscht mich noch immer, und alljährlich wenn ihr grünes Kleid mit dem duftigen Blütenzauber sich schmückt, kann ich sitzen und träumen, all das Glück, das so früh verlorene, mir wieder zurückträumen.
Mein Leben ist jetzt einsam. Ich bin früh alt geworden, und da ich die Menschen nicht brauche, vermisse ich sie auch nicht.
Mein ganzes Glück ist mein Knabe. Für ihn lebe ich noch, für ihn schaffe ich, — er ist mein Alles.
Wenn wir zwei des Abends unter den Lindenbäumen sitzen, muß ich ihm erzählen, wie seine Mutter war.Und ich tu's mit bebendem Herzen.
Anfangs, nachdem das Unglück mich getroffen, glaubte ich, daß es auch nun mit mir vorbei sein müsse, denn vor mir gähnte eine entsetzliche Leere, und in mir war diese öde Traurigkeit, die immer nur negiert, mir fehlte das Licht, die Farbe, ich sah alles grau und fahl, — mir fehlte die Freude.
Da aber kam das Leben. Ich mußte ja zurück! Die Pflicht! Mein Knabe lebte ja!
Und so habe ich mich denn wieder zurückgetastet in das Alltagsdasein, das mit seinen tausend Kleinigkeiten alles verwischt, alles in die Ferne rückt, alles nivelliert.
„Wie wenn ein Blatt vom Baume fällt, — — — |