Eine lustige Spitzbubengeschichte von Paul Bliß
in: „Der Deutsche Beobachter” vom 16.11.1899
Karl Weber war einer von den „Entgleisten”
Er hatte seine Eltern früh verloren, war ohne Halt und ohne Grundsätze erzogen, bei Leuten, die den Fähigkeiten des frühreifen Knaben rathlos gegenüberstanden, und so wurde aus dem begabten Jungen, weil er früh in schlechte Gesellschaft gerieth, einer von denen, die von der bürgerlichen Moral in die Rubrik der „Entgleisten” klassifizirt werden.
Er hatte nie gelernt, etwas ordentliches zu arbeiten, auf vielen Gebieten war er zu Hause, aber nichts konnte er ganz; seit einem Jahre hatte er eine neue Fähigkeit an sich entdeckt, seine enorme Fingerferigkeit und Geschicklichkeit, anderen Leuten die Taschen auszuräumen. Anfangs machte ihm dies Spaß. Er ärgerte und neckte seine Freunde damit, daß er ihnen — ohne daß sie es merkten — Messer, Schlüssel und Feuerzeug aus den Taschen holte; später aber, als er wieder einmal kein Geld und nichts zu essen hatte, trieb ihn die Noth dazu, seine Geschicklichkeit auch einmal an den Taschen fremder Leute zu versuchen. Und siehe da, seine ersten schüchternen Unternehmungen gelangen über alles Erwarten gut, so daß er Muth und Lust zu neuen Raubzügen bekam. Natürlich nahm er stets nur Geldbeutel, auch pflegte er sich die Person vorher genau anzusehen, ob der Versuch sich auch lohnen würde. So entwickelte er dies neue Talent nach und nach derart, daß er jetzt nur noch dieser Spezialität lebte, die ihn denn auch recht gut ernährte und ihm in seinen Kreisen den Ruf eines „erstklassigen Arbeiters” eintrug; selbstverständlich war die Polizei ihm oft auf den Fersen, aber stets erfolglos, weil er sich niemals ertappen ließ.
Aber wie in allen Berufen, so auch hier: die Konkurrenz war groß — die Leute gingen mit ihrem Gelde sparsam um — und so kam es denn, daß Karl Weber manchmal tagelang umsonst operiren konnte, und was er fand, war kaum des Nehmens werth.
An einem solchen Unglückstage schlich er mißgelaunt und schon halb verzagt durch die Straßen; bereits fünf Eingriffe hatte er heute gewagt, aber noch nicht einmal sein „Tagegeld” hatte er dabei profitirt. Grübelnd, mit verstörtem Gesicht, schlich er weiter von Straße zu Straße.
plötzlich stand er still. Er sah eine elegante Dame ihre Equipage verlassen und an eine Schaufenster-Auslage treten. Da an diesem Schaukasten mehrere Menschen standen, trat er schnell hinzu, drängte sich unter die Beschauer und hatte wenige Minuten später bereits der eleganten Dame das Portemonnaie eskamotirt.
Jubelnd und seines Sieges sicher ging er mit seiner Beute von dannen. Als er eine Strecke entfernt war, trat er in eine Kneipe und ließ sich ein Glas Bier geben, bei der Gelegenheit öffnete er das geraubte Geldtäschchen, um zu bezahlen, und da machte er die fatale Entdeckung, daß in dem Täschchen nur zwei Mark steckten. Er war empört darüber, daß eine so feine Dame nicht mehr Geld bei sich trug. Dann faltete er einen Zettel, der auch noch in dem Täschchen war, auseinander. Es war eine Marke aus einer Färberei. Achtlos wollte er schon das Papier fortwerfen, als ihm plötzlich eine geniale Idee durch den kopf ging.
Er sah sich den Zettel noch einmal prüfend an. Die genaue Adresse der Dame stand darauf — die Geldbörse gehörte der Baronin von Waldhofen.
Sinnend sah der jugendliche Gauner das kleine Papier an — der Plan reifte weiter und weiter in ihm — endlich ließ er den Kellner kommen und erbat sich Tinte, Papier und Feder.
Und dann schrieb er mit gänzlich verstellter Handschrift Folgendes: „Liebe Emmy, ich erwarte Dich heute Abend 6½ Uhr bestimmt in der Linkstraße. Tausend Küsse von Deinem Bube.” Er faltete es zusammen und steckte es in die Geldtasche.
Fünfzehn Minuten später klingelte er beim Baron von Waldhofen. Als der Diener ihn nach seinem Begehr fragte, antwortete er sehr bestimmt, daß er dem Herrn Baron eine private Mittheilung von Wichtigkeit zu machen habe. Gleich darauf wurde er vorgelassen.
„Nun, was haben Sie denn?” fragte der Baron erstaunt und musterte ihn scharf.
Und ruhig und sicher entgegnete der Gauner: „Herr Baron, ich fand, als Ihre Frau Gemahlin eben ihren Wagen bestiegen hatte, diese Geldbörse, die vermuthlich Ihrer Frau Gemahlin gehört.”
Immer erstaunter sah Bron Waldhofen auf das Täschchen. „Allerdings, es gehört meiner Frau.”
Der junge Mensch nickte und sagte dann, ohne eine Miene zu verziehen: „Bitte, Herr Baron, untersuchen Sie den Inhalt.”
Der Baron that es. Als er den Zettel las, zuckte er zusammen, beherrschte sich aber sofort wieder, sah den Fremden an und fragte: „Sie kennen den Inhalt auch?”
„Ich kenne ihn, Herr Baron!”
Kleine Pause. Dann der Baron:
„Was verlangen Sie dafür, daß Sie darüber zu Jedermann schweigen?”
&bdquoi;Das zu bestimmen, überlasse ich dem Herrn Baron, da ich ja nicht weiß, wie viel diese Mittheilung dem Herrn Baron werth ist,” entgegnete der junge Gauner mit einem Anflug von Humor.
Jetzt mußte auch Waldhofen lächeln. „Na, fordern Sie nur,” sagte er heiter; „wenn mir die Summe zu hoch ist, können wir uns ja einigen.”
Karl Weber sann ein wenig nach, dann meinte er: „Nun, dreihundert Mark sind doch gewiß nicht zu viel dafür; wenn ich zum Beispiel diese Notiz irgend einem Sensationsblatt gegeben hätte, so wäre ich dort auch recht gut bezahlt worden dafür.”
Bei der Erwähnung eines Blattes bekam der Baron einen neuen Schreck. Kurz entschlossen schritt er zum Schreibtisch, entnahm der Kassette drei blaue Scheine, überreichte sie dem Fremden und sagte: „Hier ist, was Sie verlangen, aber Sie versprechen mir, zu Niemand darüber zu reden.”
„Selbstverständlich, Herr Baron!”
„Lassen Sie mir Ihre Adresse hier.”
„Gern, Nerr Baron,” und er schrieb eine schnell erfundene Adresse auf. Dann war er entlassen.
Jetzt war er wie umgewandelt. Dreihundert Mark in der Tasche, das war ein selten gut gelungener Coup! heiter und fidel ging er weiter.
Natürlich jetzt nur erst ordentlich gegessen und getrunken! — seit nahezu drei Tagen hatte er ja nur von Cacao und Eiern gelebt; — also lenkte er seine Schritte einem großen Münchener Bierhause zu.
Als er so gemüthlich beim Schoppen saß und nochmals das eben Erlebte an sich vorüberziehen ließ, trat ein Herr an seinen Tisch, grüßte höflich und sagte: „Guten Tag, Weber!”
Der Angerufene fuhr zusammen, aber der Schreck hielt nicht an, denn Karl erkannte in dem hinzugetretenen Gast einen alten Bekannten, den er seit einigen Monaten nicht gesehen hatte und dem ein eleganter Vollbart das Aussehen ganz verändert hatte.
„Ah, Riebenstahl,” begrüßte ihn Karl, „Dich hätte ich aber weiß Gott nicht wiedererkannt.”
„Ja. man muß sich halt schön machen,” entgegnete der Andere heiter.
Sie setzten sich nun zusammen, aßen, tranken und tauschten einige ihrer Erlebnisse aus.
Der Freund gehörte nämlich auch zur Zunft, er „arbeitete” hauptsächlich in Bankdiebstählen und hatte es darin zu einem gewissen Ruf gebracht.
&bdquoi;Erst jetzt,” so erzählte er ein wenig strahlend, „haben wir drüben in Potsdam eine sogenannte bessere Sache gehabt — über 80,000 Mark in Gold und Banknoten — und nur drei Mann daran beteiligt. Na, das lohnt sich doch, was?”
Karl nickte nur lächelnd.
„Du lachst? Glaubst Du es etwa nicht?” fragte der Andere leicht verletzt.
„Wenn Du es sagst, warum nicht.”
„Das kannst Du auch, denn es ist alles wahr!” Und dann erzählte er gleich noch von einem neu geplanten Einbruch bei der Kreditbank, aber dazu brauchten sie noch einen Hehler. „Ich würde Dich ja gern mit hinein nehmen, aber ich fürchte, Du bist noch nicht ganz „gewiegt” genug.”
Jetzt stieg Karl das Blut in den Kopf und mit hochrothem Gesicht begann er: „Was Du kannst, das habe ich längst gekonnt! Erst heute habe ich einen Fang gemacht, der Dir nie gelungen wäre!”
„Was wird's groß sein! ein Portemonnaie mit hundert Mark drinnen!” warf der Andere ein wenig geringschätzend ein.
„So, meinst Du! Nun, ich sage Dir, daß meine Idee direkt genial war!”
„Na also? schieß doch los! Ich bin der Erste, der Dein Talent anerkennen würde!”
Und nun erzählte Karl sein Erlebniß beim Baron Waldhofen — und er erzählte es mit solcher Erregung und Begeisterung, daß es ihm vollständig entging, wie das Gesicht des Anderen schadenfroher und verschmitzter mit jeder Minute wurde.
Als Karl geendet hatte, winkte der Andere nach draußen. Gleich darauf traten zwei Schutzleute ein und kamen direkt auf Karl zu.
„Verhaften Sie ihn,” sagte Herr Riebenstahl nur und gleich darauf bekam Karl Handschellen angelegt.
„Schft Du!” zischte er dem ehemaligen Freund und Genossen zu; dann ließ er sich abführen.
Und dieser Herr Riebenstahl, der jetzt im Spitzeldienst der Kriminalpolizei stand, folgte den Anderen in einer Droschke. Er hatte es gesehen, wie Karl der Baronin das Geldtäschchen stibitzte, er war ihm erst in die Kneipe, dann zu dem Haus des Barons gefolgt und nun hatte er dem harmlos Vertrauenden das ganze Geheimniß entlockt — er lächelte boshaft. Mitleid kannte er nicht — auch ihn hatte man einst so gefangen — er rächte sich nur an der Welt, die ihn zu dem gemacht hatte, was er nun war.
Noch in derselben Stunde wurde Baron Waldhofen von der Kriminalpolizei benachrichtigt, daß er das Opfer eines frechen Betrugs geworden war.
Der Baron lächelte und sagte sich jetzt: Zu dumm von mir, daß ich eigentlich den ganzen Schwindel nicht selbst gleich durchschaut habe!
Als er dann seine Gattin kommen sah, überreichte er ihr feierlichst die Geldbörse und erzählte lachend das kleine Abenteuer, das er eben mit dem jungen Gauner erlebt hatte.
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