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Ein buntes Blatt für Alle und Alles
No. 11 vom 4. Dezember 1905


Die Reden des Ex-Sergeanten Krause

Herausgegeben von Freiherrn von Schlicht

Krause über Nürnberg.

Indem der Mensch seine Gedanken dazu hat, daß er sich welche macht, wenn er keine besitzt, dachte ich auf dem Wege nach Nürnberg, während der Schnellzug mit mir dahinsauste, darüber nach, ob die erste Eisenbahn, die man im Jahre 1835, wenn man mich richtig orientierte, zwischen den beiden Städten Nürnberg und Fürth baute, damals wohl schon ebenso gesaust ist wie jetzt, was ich aber kaum glaube, indem bei der kurzen Entfernung der Zug doch bedeutend eher angekommen wäre, als er abfuhr. Was aber nicht gut möglich ist.

Was nun Nürnberg selbst anbelangt, so verdankt es seine ganze Entwicklung und sein ganzes Aufblühen einer genialen Erfindung, die vor vielen Jahrzehnten einmal ein gewisser Opitz gemacht hat, nämlich den Nürnberger Trichter, der in der ganzen Welt bekannt und in jedem Haushalt in Gebrauch ist und sehr viel besser sein soll, als alle anderen Trichter, was wenigstens meine Wirtin behauptet, der ich einen solchen Trichter mitbrachte und die ihn nun für die Petroleumkanne gebraucht, indem sie sagt, er sei sehr sauber gearbeitet und kleckere gar nicht, was andere Trichter immer täten.

Auch sonst ist Nürnberg eine lebhafte Industriestadt, wobei ich Sie nur an das Spielzeug erinnere, mit dem unsere Kinder spielen, wenn wir welche haben, wobei ich bemerke, daß ich als unverheirateter Mann natürlich keine habe. Wohingegen ich aber wohl ein Dutzend der berühmten Nürnberger Bleistifte besitze, die ich mir kaufte, nicht etwa, als ob ich so viel zu schreiben hätte, sondern indem es von jeher meine einzige schlechte Angewohnheit war, die Bleistifte zu kauen, indem ich sie ständig abbiß und dann in Gedanken heruterschluckte. Eine ganz besondere Freude machte es mir, in Nürnberg endlich einmal die Fabriken von Angesicht zu Angesicht zu sehen, an denen ich mir in meiner Jugend infolge meiner Unmäßigkeit so oft den Magen verdarb, was meiner Mutter stets einen Löffel Rizinusöl kostete, indem sie denselben bezahlte, wohingegen ich ihn schluckte. Ich meine, die Fabriken, in denen die schönen Lebkuchen gemacht werden, von denen mir nur die Erinnerung in Gestalt leerer Blechbüchsen übrig geblieben ist, in denen ich jetzt meinen Tabak aufbewahre, wobei derselbe einen ganz süßlichen Beigeschmack erhält, der mir äußerst aromatisch und angenehm ist.

Was ich von der eisernen Jungfrau nicht behaupten kann, wobei ich überhaupt nicht weiß, ob Ihnen überhaupt schon einmal eine Jungfrau, insonderheit eine eiserne, begegnet ist, obgleich ich Sie daran erinnere, daß die Jungfrau von Orleans gewissermaßen auch eisern war, indem sie einen Panzer trug, oder indem ich Sie daran erinnere, daß unsere modernen Jungfrauen auch eisern sind, indem sie Panzerkorsetts zu tragen pflegen, aber die Jungfrau auf der Hohenzollernburg ist äußerlich sogar ganz von Eisen, und anstatt der Eingeweide hat sie inwendig lauter spitze, eiserne Zacken, die demjenigen in den Leib gedrückt wurden, der nicht so aussah und wollte, wie er sollte, woraus Sie mit Ihrem Scharfblick schon ersehen haben werden, daß diese Jungfrau gar keine Jungfrau ist, sondern ein Folter-Instrument, wie auf der Hohenzollernburg in dieser Hinsicht überhaupt sehr viele schöne Sachen sind, die die Sehnsucht der guten alten Zeit in uns nicht wachrufen.

Wohingegen der Durst, den ich augenblicklich verspüre, den Wunsch in mir erweckt, ich säße noch einmal im Nürnberger Bratwurst-Glöckle, was ein Restaurant ist, und zwar ein sehr gemütliches, indem man dort ein ausgezeichnetes Glas Bier trinkt und weil dort an einem Abend mehr Würste gegessen werden als in anderen Städten in einem Jahre, wobei ich mir schon den Kopf darüber zerbrochen habe, wie die Schweine bei dieser Fleischnot noch so viel Würste in sich haben können. Von weitem leuchtet das Erkennungszeichen vor dem Restaurant, eine Glocke, was der Nürnberger "Glöckle" nennt, was aber trotzdem dasselbe ist, ebenso wie das Siechenbier, das man in Nürnberg trinkt, genau dasselbe ist wie das Siechenbier in Berlin, nur mit dem Unterschied, daß das eine hell, das andere dunkel ist, was aber nicht nur an der Beleuchtung liegt, sondern in seinem inneren Wesen. Was mich aber gar nicht störte, indem ich das helle Siechenbier mit derselben Begeisterung trank, wie das dunkle, wobei mich nur betrübte, daß in hinterher soviel bezahlen mußte, indem ich nicht nur viel getrunken, sondern viel gegessen hatte.

Denn als besondere Spezialität war mir das Nürnberger Ei empfohlen worden, bis ich dann schließlich erfuhr, daß dieses Ei gar kein Ei ist, sondern daß man die ersten Taschenuhren, die in Nürnberg fabriziert wurden, ihrer eiförmigen Gestalt wegen das Nürnberger Ei nannte, welches aber nun nicht mehr existiert, indem dasselbe im Laufe der Zeit eine nicht unbedeutende atmosphärische Metamorphose durchmachte, indem es sich von einem Ei zu einer Kartoffel entwickelte.

Um mir aber selbst zu beweisen, daß ich mich auch ohne leibliche Genüsse bilden kann, suchte ich die Vogelwiese auf, die bekanntlich von Richard Wagner in der Oper "Die Meistersinger" in Musik gesetzt worden ist, wobei er einfach die Volkslieder verwendete, die die Meistersinger nach den festgesetzten Regeln der Tabulatur, woher der Ausdruck Tabularasa, was soviel wie Pleite bedeutet, herstammt, auf der Vogelwiese zum Besten gaben, indem die Meistersinger ebenso damals eine Zunft bildeten, wie die anderen Zünfte, von denen jede eine Zunft für sich bildete, die aber alle zusammen und eine jede für sich sehr angesehen waren und sehr viel auf sich hielten, sodaß sie nicht duldeten, daß jemand, der nicht ihrer Zunft angehörte, sein Gewerbe in ihrem Bezirk betrieb; sodaß die Zünfte sehr mächtig waren und dazu beitrugen, das Ansehen der Stadt zu heben, was mit der Einführung der Gewerbefreiheit anders wurde, indem jetzt z.B. jeder ein Schuster werden kann, der da will, wenn er nur einen Leisten hat, bei dem er bleiben soll, um ein Schuster zu bleiben.

Anstatt der alten Zünfte hat Nürnberg jetzt große Fabriken, aber trotz dieses Riesenaufschwungs,den die Stadt genommen hat und der mit einem Riesenschwung, in dem ich früher groß war, nicht verwechselt werden darf, ist die Stadt in einer Hinsicht dieselbe geblieben, die sie früher war: die Nürnberger hängen, auch heute, niemanden, sie hätten ihn denn zuvor. Womit ich keinen Tadel gegen die Nürnberger Obrigkeit aussprechen will, sondern im Gegenteil nur eine hohe Anerkennung, indem dieses Wort beweist, auf welcher hohen Kulturstufe man in Nürnberg steht. Wie denn überhaupt die Bildung dort sehr verbreitet ist, was man schon daraus ersehen kann, daß die Bürger sich erst neulich für schweres Geld ein sehr schönes Theater gebaut haben, das ich aber nicht besuchen konnte, weil es ausverkauft war, sodaß ich meine Schritte zu dem "Intimen Theater" lenken wollte, was mir aber als zu intim geschildert wurde, indem man dort nur Stücke gibt, die man sonst eigentlich nicht gibt, die aber trotzdem oder gerade deshalb sehr gut sein sollen. Worüber mir aber selbst die Beurteilung fehlt, und weshalb ich mich über diesen Punkt auch nicht weiter äußere, weil ich nur berichte, was ich aus eigener Anschauung und Überzeugung als wahr erkannt habe. Und was wahr ist, ist wahr, und was wahr ist, ist die Wahrheit. Das sage ich, der ehemalige Sergeant Krause. Und alles, was ich sage, ist eitel Gold.

In der nächsten Nummer von "Nimm mich mit" spricht Krause über München.



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© Karlheinz Everts